Thesenartiges zur Agenda 2020

Von Thomas Melle

Online seit: 29. August 2020

Die Literatur der Zukunft wird wohl genau wie zuvor versuchen, der jeweiligen Gegenwart einen Kunstentwurf entgegenzustellen, der diese Gegenwart in sich aufhebt, nämlich auf irgendeine Weise darstellt, ob nun episch, exzessiv oder in nuce, und etwas Charakteristisches dieser Gegenwart aufscheinen lässt, um gleichzeitig, im idealistischen Fall, einen Gegenentwurf zu dieser Gegenwart mitzuformulieren, der vielleicht nur ex negativo ablesbar ist. Wem das zu gegenwartsbezogen ist, kann statt Gegenwart gerne den „Menschen“ einsetzen, damit wären auch historisch interessierte oder SciFi-Texte miteinbezogen.

Die Inhalte in zehn oder hundert Jahren werden sich also im Wesentlichen nicht von den heutigen unterscheiden, nur insofern natürlich, wie sich die Welt und der Mensch im Laufe der Zeit verändern und auflösen werden. Im „Auflösen“ steckt endlich eine Art These. Die Leute haben heutzutage immer unterschiedlichere Informationen und Erfahrungen; das Wissen wird disparater, die Identitäten auch. Solche Entwicklungen sind nicht neu und hören sich sehr nach zwanzigstem Jahrhundert an, jedoch findet derzeit ein besonderer, kategorialer Schub in diese Richtung statt und wird sich weiter verstärken. Zudem wird die Arbeit im herkömmlichen Sinne mehr und mehr wegfallen. Was kommt danach? Und was ist eigentlich mit dem langsam wieder zum Alltag gewordenen Krieg da draußen? Die Literatur muss derartige Umbrüche, so langsam sie auch vonstatten gehen, vorwegnehmen und nachzeichnen.

Die Inhalte in zehn oder hundert Jahren werden sich also im Wesentlichen nicht von den heutigen unterscheiden, nur insofern natürlich, wie sich die Welt und der Mensch im Laufe der Zeit verändern und auflösen werden.

Keine bahnbrechende Erkenntnis ist auch, dass die Technik insofern in die Literatur einwandern muss, wie sie das Leben neu (ver)formt. Wer sich davon abwendet, ist Eskapist, Esoteriker (von daher auch die Absage an die Konzentration auf „jene Bereiche, die in anderen Orten der Öffentlichkeit nicht mehr oder zu wenig vorkommen“ – was für Bereiche wären das eigentlich?) oder Reaktionär. Ich verstehe Leute nicht, die ständig auf Facebook posten, aber ihre Texte pikiert von solchen Neuerungen freihalten wollen.

Literatur wird immer mehr zur Vorlage für andere Medien wie Filme oder Games werden. Dennoch wird ihre Stärke, die langsame, nicht zeitbasierte Erkundung von Individualität, ihre Existenz in jeglicher Zukunft, so geht die Hoffnung, sichern. Und letztendlich ist jede erzählte Geschichte Literatur, egal, in welchem Medium.

Zu sagen, es gibt keine Hierarchie der Wirklichkeiten, kommt unserer aktuellen Wirklichkeit näher als die Annahme einer außermedialen Wahrheit.

Nachlass 1: Wer an seinen Nachlass denkt und dabei keine Panik