Der Poet, der aus der Kälte kam

Matthias Senkel erzählt vom digital existierenden Sozialismus. Von Thomas Lang
„Hätte der Sozialismus mit mehr Gespür für IT überlebt? Das scheint mir eine spannende Frage.“

Online seit: 23. April 2019
Matthias Senkel © Dietze
Matthias Senkel: Bei aller Schelmenhaftigkeit berührt das Romangeschehen den Kopf weit mehr als das Herz des Lesers.
Foto: Dietze

Ein Körper in fahlem Grau-Weiß, isoliert in der umgebenden Schwärze. Es handelt sich um ein Oval, oben breiter, runder, an der Basis schmaler und etwas eckiger. Von oben links fällt Licht auf das Oval, so wirkt er körperhaft. Die Form erinnert an einen menschlichen Kopf, oben die Schädelnaht, jedoch keine Haare oder Haut. Der ovale Körper weist Beulen auf, Unregelmäßigkeiten einer Mondlandschaft, zurückgenommen, wie in ein Relief gedrängt. Auf Höhe der Schläfen wirkt der Schädel leicht eingedellt. In der Mitte des Ovals kleine Wülste, die linke hängend, die rechte minimal gewölbt. Das sind die Brauen, darunter liegen Vertiefungen, die kein Auge zeigen und doch als Augen zu sehen sind. Dazwischen, eingeschlagen wie die eines Boxers, die Nase. Außen die Jochbeine, rechts aufgeworfen wie ein kleiner Gebirgszug, links eher fliehend, ein Delta mit pickelartiger Erhebung.

Ich sollte sagen: rechts fliehend, links gebirgsartig. Denn inzwischen hat sich der eiförmige Körper, mein Gegenüber, unwiderruflich zu einem Gesicht konstituiert und damit seine eigenen Seiten bekommen. Zwei hohe Bögen, wie die primitive Schemazeichnung eines fliegenden Vogels, zeichnen die Oberlippe, die Unterlippe schwimmt darunter wie ein Schiff, dessen Mast in der Mitte den Vogel berührt. Das Kinn sinkt beinah in den Halsansatz. Dort ist Schluss, mehr ist nicht von Interesse; die Ohren scheinen abgeschnitten. Diese animistische Gottheit, dieses gespenstische Wesen, zeigt uns der amerikanische Künstler Sterling Crispin. Geschaffen wurde es, wie er schreibt, durch Gesichts-Erkennungs-Technik, deren Algorithmen quasi umgekehrt wurden („reverse engineering facial recognition and detection algorithms“, nach einem Interview mit Crispin im Bomb Magazine) und so die Entwicklung der Masken ermöglichten. So sehen Maschinen uns.
Willkommen in der Gegenwart.

Maschinelle Narration

Selbstverständlich ist es ein Trick – das Sehen der Maschinen ist eine Visualisierung für uns, für das menschliche Sehen. Da haben die Masken große Strahlkraft, weil wir sie auch emotional bewerten und die Tatsache, dass die sich aus tatsächlich maschinengenerierten Daten errechnen, unsere Wahrnehmung beeinflusst. Diesem Konzept hinkt die Literatur noch hinterher. Sicher, es gibt das Programm für stochastische Texte, das Theo Lutz bereits 1959 für die Zuse Z22 schrieb und eine Reihe ähnlicher Spielereien im Netz. Echt maschinengeschriebene literarische Erzählungen bleiben vorerst Träume. Clemens Setz benutzte die Fiktion eines Bots, der aus menschlichen Notaten Antworten auf Interviewfragen generiert, im Grunde ein fleißiger Diener eines menschlichen Geistes.

Bei Matthias Senkels Dunklen Zahlen geht die Fiktion etwas weiter. Hier ist es der fiktive Rechner GLM 3, eine Golemartige Literaturmaschine, die, mit Lochkarten gefüttert, den Erzählzeitraum zwischen 1821 und 2043 be- oder besser gesagt verarbeitet. Entwickelt hat den Typ 3 der Ingenieur Foma Wadimowitsch Tkatschow in den 1960er-Jahren. Die GLM ist die bald „wie eine Spieluhr“ surrende, bald „wie ein Brummkreisel“ heulende Erzählerin dieses Romans. Und wie alle Freaks und Verstoßenen vergewissert sie sich ihrer eigenen Geschichte – der Geschichte der sowjetischen Informationstechnologie.

Ihren Ursprung hat sie bereits im neunzehnten Jahrhundert. 1821 treffen die russischen Dichter Puschkin und Sorokin aufeinander. Eigentlich wollen sie sich duellieren, doch ihre Begegnung endet in einem gemeinsamen Mahl. Zusammen schreiben sie ein Gedicht und publizieren es unter dem Pseudonym Teterewkin. Dieser, erfahren wir an anderer Stelle, will ein Gedicht schreiben, das die ganze Welt inventarisiert. Er erkennt bald, dass sein Ansinnen menschliche Kapazitäten übersteigt. Glücklicherweise stößt er auf die Analytical Engine des englischen Erfinders Charles Babbage, die gemeinhin als eine der Vorläuferinnen des Computers gilt. Teterewkin entwickelt auf dieser Basis eine erste GLM, stirbt jedoch allzu bald. Auf diese Weise kreuzen sich in Dunkle Zahlen Fiktion und Historie. Teterewkin ist eine erfundene Figur, Babbage hat auf unserer Welt sehr materielle Spuren hinterlassen.

Digitaler Sozialismus

Senkel flicht von hier ausgehend mehrere Erzählstränge ineinander. Im Wesentlichen spielt die Romanhandlung in den 1950er- bis 1980er-Jahren. Sie erzählt aus dem Leben der Figuren, die mit der GLM auf die ein oder andere Art zusammenhängen. Im Zentrum steht eine Spartakiade, ein Wettbewerb unter sozialistischen Bruderländern, um das beste Computerprogramm. Die jugendlichen Teilnehmer ahnen nicht, dass sie letztendlich Teile einer Software programmieren, die dem sowjetischen Geheimdienst zur Identifizierung der Urheber systemkritischer Witze dienen soll – möglicherweise eine Anspielung auf Solschenizyns Ersten Kreis der Hölle. Das kubanische Team wird unter mysteriösen Umständen an der Teilnahme gehindert und die Übersetzerin Mireya macht sich auf die Suche nach ihm. Sie ist die einzige Figur in dem Romanwerk, die etwas Wärme ausstrahlt. Mireya bricht aus dem im Wesentlichen realistischen Erzählstrang aus, verwandelt sich in eine Möwe und noch in anderes. Hier winkt im Hintergrund Bulgakow.

Bei aller barocken Schelmenhaftigkeit berührt das Romangeschehen den Kopf weit mehr als das Herz des Lesers. Die einzelnen Episoden wirken exakt abgezirkelt und perfekt ins Räderwerk dieser Geschichte eingepasst, gleichzeitig aber willkürlich konstruiert, als fehlte unter der äußeren die innere Notwendigkeit für das Romangeschehen. Bürgerliche Literatur ist das nicht, sozialistischer Realismus ebenso wenig. Dazu ist das Ganze viel zu spöttisch. Ein Hauch von Pynchon schwebt über den Seiten, ohne dass dessen großer Atem (bereits) spürbar wäre.

Im Wesentlichen scheint Senkels Interesse indes auch weniger auf die Fabel als auf die sozialistische Technikgeschichte gerichtet zu sein. Für den heutigen Leser ist diese erstaunlich, denn die sowjetischen Computer (darunter ein Ternärrechner, der mit einer dreiwertigen Logik arbeitet, also neben der Eins und der Null auch noch den Wert Minus-Eins kennt) sind kaum Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden. Die Vernetzung der Rechner durch ein Kommunikationsnetz, im Roman nur angedeutet, wurde im sozialistischen Riesenstaat zwar gedacht, aber nicht vollzogen. Auch die Hardware-Entwicklung betrachtet Senkel nicht ohne ironische Seitenhiebe auf die sozialistische Planwirtschaft. Die DDR kriegt ihr Fett weg als der Staat, der mit dem „Bau des größten Microchips der Welt einen Etappensieg“ in der Mikrotechnologie errungen habe. Der Sozialismus war auch einer der Informationstechnologie und wenigstens im Mythos von Tetris, einem Computerspiel der 1980er, hat er überlebt. Dieses war ursprünglich eine russische Entwicklung.

Hätte der Sozialismus mit mehr Gespür für IT überlebt? Das scheint mir eine spannende Frage. Die politische und gesellschaftliche Ordnung hat in Senkels Darstellung immer etwas Undurchsichtiges – frei nach dem Motto: willst du die Führung zum Lachen bringen, nenn ihr deine Pläne. Immer wieder werden Figuren aus ihren Zusammenhängen gerissen, für sie selbst überraschend von Ort zu Ort verfrachtet. Es verschwinden Koffer und ganze Mannschaften, ohne dass je herauszufinden wäre, warum und durch wen veranlasst. Abgesehen von einem westlichen Agenten wird dabei niemandem wehgetan.

Niemand, die Verantwortlichen eingeschlossen, scheint zu wissen, wozu das alles letztlich gut ist. Dabei weiß der Geheimdienst relativ genau über die Leute Bescheid, kann aber nicht unbedingt sinnvolle Schlüsse aus seinem Wissen ziehen. Dem entsprechend möchte ich mir ein sozialistisches Internet eher als ein gigantisches Netz der Desinformation vorstellen, in dem Inhalte nicht von Rechner zu Rechner kopiert, sondern manipuliert werden, jeweils getrieben von unterschiedlichen Interessen und heimlichen Absichten. – Wie wir wissen, kam es nicht so weit.

Erfassung der Welt

Das World Wide Web kam stattdessen mit dem Versprechen über uns, nutzergetrieben und unbeherrschbar die individuelle wie die kollektive Freiheit zu bringen. In den 1980ern wurde die Interaktivität (in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland via BTX) als Errungenschaft gefeiert. Die hin und her fließenden Daten bedeuteten einen kommunikativen sowie einen Autonomie-Gewinn, das WWW „demokratisierte“ den Informationsfluss. Nicht nur im Sowjet-Sozialismus scheint die Interaktivität systembedingt keine Rolle gespielt zu haben, auch in der Gegenwart verkommt diese Dimension des Netzes zur Bedeutungslosigkeit – für die Mehrzahl der Privatanwender ist das Netz wenig mehr als eine konsumistische Spielerei, und die Re-Hierarchisierung der Datenflüsse (Bevorzugung von Daten großer Unternehmen bei der Vermittlung) steht vor der Tür.

Für die Dienste-Anbieter ist das Netz dagegen zu einer gigantischen, hoch einträglichen Datenmelkmaschine geworden. Unsere Daten sollen längst nicht mehr nur von Algorithmen zu geeigneten Kauf-, Freundschafts- oder Liebschaftsempfehlungen verarbeitet werden. Vielmehr denkt Google (in einem geleakten internen Video zu sehen) bereits darüber nach, ein Art gigantischer Informations-DNA zu schaffen. Diese könnte anhand über Generationen gesammelter und verwerteter Daten uns Usern Empfehlungen für eine bessere, gesündere, geschontere Welt geben, uns damit viele (oder alle?) Entscheidungen abnehmen – das bedeutete das Ende der menschlichen Urteilskraft. Und war das nicht auch Teil der kommunistischen Ideologie – die Welt in einem paradiesischen Endzustand, die Aufhebung aller Widersprüche?

Die Idee einer entschlüsselten Welt zieht sich durch Dunkle Zahlen. Teterewkin scheitert am Weltgedicht, später will sein Großneffe es zu Ende schreiben lassen. Lenin glaubt, es könne erst nach der Revolution geschrieben werden: „Die Wirklichkeit bietet keinen Abschluss. Noch nicht.“ Wozu das Universalpoem dienen könnte (außer als Größenfantasie), wird erst klar, wenn man eine weitere Spur in Senkels Roman verfolgt. Einer der Trainer für die Spartakiade erwähnt den Mathematiker Laplace. Dieser hatte 1814 spekuliert, „dass eine Intelligenz, die es schaffe, restlos alle im Kosmos wirkenden Kräfte zu analysieren, dessen früheren und künftigen Zustand berechnen könne“ (so in Senkels Worten – die Spekulation ist als Laplacescher Dämon bekannt). Die Total-Erfassung der Welt gelingt in Dunkle Zahlen nicht. Aber wie wir bei Google und Co. sehen können, ist die Idee einer von vermeintlich friedlich blinkenden Serverfarmen getriebenen (und beherrschten) informationell weitgehend erfassten Welt immer noch und vielleicht immer mehr ein Thema.
Willkommen in der Zukunft.

Übrigens spricht eine Figur des Romans Lenin gegenüber davon, dass ihm für die „Erfassung der Welt … eine sozialistisch geprägte Enzyklopädie“ vorschwebe. Der allwissende Erzähler habe ausgedient, denn er finde „im Alleinherrscher seine Entsprechung.“ (In meinen Augen wäre das ein Herrscher, der nicht mal die Macht hätte, jemanden am Zuschlagen seines Buches zu hindern.) Im Hinblick auf das Diffuse der Datensammelei im Netz, das schwer zu Bestimmende und damit im Zweifelsfall schwer zu bekämpfende Andere gibt diese Bemerkung einen Hinweis, dass das Ende der Geschichte sich unter ganz anderen Parametern erfüllen könnte, als wir bis dahin ahnten. Die Enden von kommunistischer und digitaler Welt scheinen sich zu berühren. Von Senkel dürfen wir uns wünschen, forthin ein bisschen weniger allein über seinen Erzählkosmos zu herrschen, uns nicht so alt und unmündig aussehen zu lassen, wie es dem unbedarften Leser mit diesem anspielungsreichen, thematisch esoterischen (Sowjetunion!, Informationstechnologie!, Russisch!) Roman leicht geschieht.

Sterling Crispin, der Mann, der uns sehen lässt, wie wir gesehen werden, neigt übrigens nicht zur Dystopie. Das sagte er im Interview dem Bomb Magazine. Aus seiner Sicht bilden die neuen Technologien ein „Technical Other“, ein technisches Anderes oder Gegenüber also, dem er die Qualitäten eines lebendigen Superorganismus zuschreibt sowie – für uns vielleicht gar nicht erkennbar – ein Selbstbewusstsein. Big Data ist für ihn moralisch neutral. Wenn wir es richtig nutzten, wenn wir datenmündig würden und die gesammelten Informationen prohuman einsetzten, könnte es auf den Einzelnen „extrem stärkend“ wirken.

Bei Senkel landen die sowjetischen Computer schließlich in einem Museum. Es lohnt die Fantasie, dass es uns genauso gehen könnte: Das Museum ist eine Datenbank, in der maschinelle Intelligenzen etwas über das Prinzip homo sapiens lernen. Welche Schlüsse sie ziehen, können wir nur erfahren, wenn wir sie zum Sprechen bringen. Im Museum konserviert, bleibt dieses Wissen für uns aber nutzlos.
Willkommen in der Ewigkeit.

 

Thomas Lang, Jahrgang 1967, lebt als Schriftsteller in München. Zuletzt erschienen die Erzählung Jim (C.H. Beck, 2012) und der Roman Immer nach Hause (Berlin Verlag, 2016).

Quelle: VOLLTEXT 2/2018 – 29. Juni 2018

Online seit: 23. April 2019

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 488 Seiten,
€ 24 (D) / € 24,70 (A).