Ich möchte lieber doch

Thomas Lang besucht das Farmhaus, in dem Herman Melvilles Moby-Dick entstand.

Online seit: 16. August 2020

Das Haus auf einem waldigen Hügel im Westen von Massachusetts unterscheidet sich kaum von anderen alten Häusern der Gegend, die bis heute oft im traditionellen Stil erbaut werden: mit hell lackierter Holzverschalung, ein oder mehreren Veranden, Gauben und grauen Bitumenschindeln auf dem Dach, den typischen Schiebefenstern. Arrowhead besitzt keine Gauben und nur eine kleine Veranda. Guide Peter Bergman, selbst Schriftsteller, ist ein guter Kenner des früheren Besitzers Herman Melville. Er bezeichnet die Farbe der Fassade treffend als „mustardy gold“ – senfgold. Es liegt ein merkwürdiger Widerspruch in dem Farbton, als sollte er Sonne und Wasser zugleich repräsentieren. Melville wählte die Farbe, nachdem er das vorher rote Haus schon einmal hatte weiß streichen lassen. Eigentlich sollte es einem moderneren und größeren Bau weichen. Auch einen Turm, von dem sich der frühere Seemann eine besonders gute Sicht in die umgebende Landschaft versprach, plante er. Doch für größere Neubauten fehlte ihm von Anfang an das Geld.

Das Haupthaus aus den 1790er-Jahren ist weitgehend noch das ursprüngliche. Weitere Gebäude wurden nach 1975, als die Farm zum Museum wurde, auf den alten Grundrissen neu errichtet. Original ist auch die Scheune, die heute als Kassenraum und Museumsshop dient. Bergman zeigt auf die dicken gesägten Balken, die einiges über Kopfhöhe quer durch den Raum laufen. Dort oben habe Melville gern gesessen und rauchend die Beine baumeln lassen. Das Haus teilte er nicht nur mit Frau und Kindern, sondern auch mit Mutter und Schwestern. Diese waren nach dem frühen Tod von Hermans Vater ohne eigene Einkünfte. Die Scheune sei ein Ort gewesen, an dem die strengen Forderungen der Mutter – im Haus nicht zu rauchen, zu trinken oder zu fluchen – außer Kraft gesetzt waren. Deshalb habe Melville sich mit seinen Freunden oft dort aufgehalten.

Waren Melville und Hawthorne doch eine Art Liebespaar, das sich zärtlich wispernd in Hermans Schreibstube einschloss, während die Frauen ihr Ohr an die Tür drückten, um herauszufinden, was da eigentlich vor sich ging?

Im Herbst 1850 zogen die Melvilles von New York City aufs Land. Da war ihr erstes Kind bereits geboren. Die Gegend kannten sie von früheren Sommeraufenthalten. Und der Anblick des Mount Greylock, der höchsten natürlichen Erhebung in Massachusetts, hatte Herman von Beginn an fasziniert. Er musste sich Geld leihen, um das Anwesen in Sichtweite des Berges zu kaufen. Fast siebzig Hektar Land gehörten dazu. Auf den Feldern fanden sich alte Pfeilspitzen. Nach diesen nannte Melville die Farm Arrowhead. Er arbeitete während der Saison am Vormittag in der Landwirtschaft, ab dem Nachmittag schrieb er. Jedenfalls war das der Plan. Die ersten Romane des weit gereisten Mannes hatten hohe Auflagen erreicht. Es waren biografisch getönte Abenteuergeschichten aus der Südsee, die meist von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelesen wurden. Doch Melville wollte weiter gehen. Er spürte, dass er mehr konnte. Im selben Jahr lernte er Nathaniel Hawthorne kennen. Hawthorne war der Autor des später ebenfalls zu Weltruhm gelangten Buches Der scharlachrote Buchstabe. Er wurde für Melville in diesem Lebensabschnitt zu einem wichtigen, aber zwiespältigen Wegbegleiter.

Wirtschaftliche Missgeschicke

Bergman erläutert zunächst die verwickelte Familiengeschichte der Melvilles, in dem die damalige gegenseitige Abneigung zwischen Niederländern und Briten – bzw. den Amerikanern dieser Herkünfte – ebenso eine Rolle spielt wie das wirtschaftliche Missgeschick der verschiedenen Familienmitglieder. Melvilles Eltern hatten weit über ihre Verhältnisse gelebt und waren, als die Familie seines Vaters sie nicht länger unterstützen wollte, wirtschaftlich abgestürzt. Die Familie von Hermans Frau Elizabeth (Lizzy) Shaw war wohlsituiert. Lizzys Vater, der Richter Lemuel Shaw, sprach sich gegen die Heirat seiner Tochter mit einem Schriftsteller und ehemaligen Matrosen aus. Später wurde er zu einem der Hauptunterstützer von Herman Melville und seiner Familie.

Das alte Haupthaus ist um einen großen zentralen Kamin erbaut worden. Es hat zwei Geschosse und ein einfaches, mit Holzschindeln gedecktes Satteldach. Das Speisezimmer wird bestimmt von einem großen offenen Kamin. Die Innenwand ist mit braun gestrichenem Holz vertäfelt. Um den Kamin sind auf dieser Vertäfelung und dem Gesims Auszüge von Melvilles Erzählung I and my Chimney gemalt. Die Geschichte hat Melvilles jüngerem Bruder Allan so gut gefallen, dass er Zitate daraus auf und um eben jenen Kamin malen ließ, der gewissermaßen Protagonist dieser Geschichte war. Das Speisezimmer ist geräumig, doch es genügt großbürgerlichen Ansprüchen nicht. Auf einer Fotografie von 1870 stehen auf dem Kaminsims gekreuzte Säbel, und auf eine Halterung ist ein Modell eines Segelschiffes montiert.

Wir gehen durch einen in Pink und Grün gehaltenen Salon ins Treppenhaus. Die Treppe wurde geändert und die diesseitige Öffnung des mächtigen Kamins wurde dafür geopfert. Zu Melvilles Zeit war die Treppe steiler, die Haustür, wenn sie geöffnet war, versperrte den Zugang.

Im ersten Stock liegt nach Südosten das Schlafzimmer der Melvilles. Ein Bett aus dunklem Holz, das von Herman oder seinem Bruder stammt, beherrscht den Raum. Neben diesem großen Bett steht kleiner und sehr flach ein Kinderbett. Anstelle eines Federrahmens oder von Gurten sind in den Rahmen Seile überkreuz gespannt. Sie mussten mit einem großem Holzschlüssel regelmäßig nachgespannt werden. Von diesem Betttyp kommt die englische Wendung „sleep tight“. Links und rechts vom Kopfende des Ehebetts führen zwei Türen in weitere Zimmer oder Kammern. In einer davon schliefen die Schwestern, in der anderen Herman Melvilles Mutter Maria.

Eine dominierende Mutter

Die Beziehung Melvilles zu seiner offenbar strengen, gern dominierenden Mutter war schwierig. Bergman weist auf die prekäre Wohnsituation hin: Als die Melvilles nach Arrowhead zogen, war ihr erster Sohn Malcolm (Macky) bereits geboren. Drei weitere Kinder, Stanwix, Elizabeth und Frances (Stanny, Bessie, Fanny) wurden vermutlich in diesem Bett, dessen Kopfende vom Bett der Mutter nur durch eine dünne Wand getrennt war, gezeugt und geboren. Bis zu drei Schwestern Melvilles lebten außerdem im Haus. Abgesehen von allen Konflikten muss schon die schiere Größe des Haushaltes für permanente Unruhe gesorgt haben.

Möglicherweise waren Hawthornes Ratschläge ein entscheidender Stolperstein für Melvilles Autorenkarriere.

Nach Norden hin liegt Melvilles Studierzimmer. Ein großer, einfacher Tisch in der Art, wie Melville ihn besaß, beherrscht den Raum. Zur Illustration steht darauf ein Tintenfass mit zwei Schreibfedern. Melvilles Handschrift war schlecht lesbar, seine Schwester Augusta schrieb viele seiner Dichtungen ab. Dabei musste sie auf Interpunktion verzichten. Punkte und Kommas setzte Melville selbst und fand auf diese Weise wieder in den Rhythmus seiner Sätze, bevor er weiterschrieb. An einem zweiten, kleineren Tisch aß und trank Melville – niemals an seinem Schreibtisch. Speisen und Getränke ließ er vor der Zimmertür abstellen und holte sie sich, wenn er seine Arbeit unterbrechen konnte. Ein, zwei Bücherschränke gibt es, Walharpunen lehnen an der Wand. Sie wurden dem Museum gespendet und stehen nun eben da. Harpunier war Melville sehr wahrscheinlich nie. Linkerhand gibt es eine Tür, die wiederum in einen dahinter liegenden Raum führt. Diesen Raum hätte die Mutter gern für sich gehabt. Melville aber hatte ihn reserviert. Bergman öffnet die Tür. Sie führt in eine kleine Kammer. Außer einem Bett passt nicht viel hinein. Dieser Raum, der nur über Melvilles Arbeitszimmer zu erreichen ist, war für Nathaniel Hawthorne bestimmt.

Der Beginn der anfangs wunderbaren Autorenfreundschaft klingt romantisch. Bei einem Sommerausflug in die Berkshires kam ein Gewitter auf. Die beiden Männer suchten Schutz in einer engen Felsnische oder Höhle. Dort harrten sie stundenlang aus und redeten. Hawthorne, der fünfzehn Jahre älter war, las bald den ersten Entwurf von The Whale, der noch in New York entstanden war. Er riet Melville nach der Lektüre, seinen Stil zu verbessern und mehr für Erwachsene zu schreiben. So wurde er zum wichtigsten Mentor seines jungen Kollegen – mit möglicherweise fatalen Folgen. Hawthorne empfahl Melville, sich am Stil von Cervantes’ Don Quijote zu orientieren. Das könnte einer der Gründe sein, warum in Moby-Dick jene ausgedehnten Exkurse stehen, die manchem die Lektüre des Buches so schwer machen. Außerdem riet er dem Jüngeren, in Geist und Seele seiner Figuren einzudringen und ihnen ihrem Wesen entsprechende Namen zu geben. Der düstere Kapitän Ahab ist Bergman zufolge erst infolge dieses Mentorings in den Roman gekommen.

Hawthornes Comeback

Hawthorne selbst hatte gerade seinen Roman Der scharlachrote Buchstabe veröffentlicht und einen Skandal verursacht. Kirche und Regierung waren empört über das vermeintlich blasphemische Buch. Hawthorne war von Boston in die Berkshires geflohen, um sich vor den Behörden zu verstecken. So lernten sich die beiden kennen. Melville verehrte und liebte den Älteren in dieser Zeit. Er selbst hatte nur acht Jahre zur Schule gehen können. Hawthorne dagegen war auf eine Privatschule gegangen und hatte anschließend studiert. Möglicherweise waren seine Ratschläge ein entscheidender Stolperstein für Melvilles Autorenkarriere. Bergman glaubt, dass Hawthorne The Whale (aka Moby-Dick) absichtlich übermentoriert habe. Nach den Schwierigkeiten mit dem Scharlachroten Buchstaben habe Hawthorne ein Comeback gebraucht. Er schrieb gerade Das Haus mit den sieben Giebeln, das im gleichen Jahr erscheinen würde wie The Whale. Deshalb habe er insgeheim dafür gesorgt, dass Melvilles Buch seines nicht überflügeln könne.

Ich stelle mir Hawthorne vor, wie er nach Arrowhead geritten kommt und mit Melville den Nachmittag verquatscht. Es wird dunkel, Nathaniel traut sich im Unterschied zu Herman nicht nachts heimzureiten. Er wird in der Kammer übernachten. Er geht die Treppe hinauf. Vielleicht begleitet Herman ihn mit einer Kerze. Da liegt er wach in dem kalten Zimmer und zerbricht sich den Kopf darüber, was er dem jüngeren Kollegen am nächsten Tag eintrichtern soll. Sein Buch soll sperrig werden, schlecht zu lesen. – Ich weiß nicht, ob der Neid ihn so gepackt haben könnte. Ich bezweifle, dass Melville, der so oft Unbelehrbare, sich so viel hätte sagen lassen und sich so wenig auf seinen literarischen Instinkt verlassen hätte.

Sicher ist, dass Melvilles überschäumendem Schreibtemperament das Aufnehmen und Wiedergeben von Wissen aller Art entgegenkam. Das Feld, in das Hawthorne seine (zweifelhaften) Ratschläge säte, war bestens vorbereitet. Wahrscheinlich ist auch, dass Hawthorne sich vor dem Talent Melvilles ein wenig fürchtete, wie Melvilles Biograf Andrew Delbanco behauptet. Mag sein, dass ihm die ebenfalls überschäumende Freundesliebe des jungen Mannes zu viel war, dass Melville in dem selbst vaterlos Aufgewachsenen einen Vaterersatz sah, den Hawthorne nicht verkörpern wollte. Oder waren sie doch eine Art Liebespaar, wie manche vermuten, das sich zärtlich wispernd in Hermans Schreibstube einschloss, während die Frauen auf Arrowhead ihr Ohr an die Tür drückten, um herauszufinden, was da eigentlich vor sich ging? „Es gibt keinen Mann, in dem sich Witz und Liebe wie Berggipfel zu solch atemberaubender Höhe aufschwingen“, hatte Melville 1850 in seiner Besprechung von Hawthornes Mosses from an Old Manse geschrieben und ihm damit, wie Jay Parini sich ausdrückt, einen „dicken feuchten Kuss“ gegeben. Sicher ist: Hawthornes Stern stieg, der von Melville sank – zunächst – in tiefe Dunkelheit.

Ein gigantischer Flop

Mount Greylock ragt in Norden von Arrowhead auf, immerhin gut 1000 Meter hoch. Er hat zwei Gipfel, die durch einen Kamm verbunden sind. Von seinem Schreibzimmer aus hatte Melville freie Sicht auf den Berg. Damals blickte der Autor hinter dem von ihm bestellten Land nicht wie heute auf Wald. Vielmehr zog sich das freie Feld bis zum Fuße des Greylock. Im Winter war der Berg von Schnee bedeckt, das abschüssige Land zwischen Haus und Berg im Nebel verschwunden. Am späten Vormittag zerriss die Sonne allmählich den Nebel, er wallte über den Boden wie die Gischt des Meeres. Und hinten erhob sich riesenhaft die Gestalt des weißen Wals, der durch die Wellen pflügt. So beschreibt es Bergman und so kann ich es plötzlich vor mir sehen. Das ist großartig. Zweihundert Kilometer von der Küste entfernt, schaue ich auf den Ozean, auf das gewaltige Tier darin, Moby Dick. So hatte Melville es vor Augen in diesem ersten Winter auf Arrowhead, als er an seinem ungetümen Text arbeitete.

Moby Dick zog nicht nur Ahab, sondern auch Melville in den Abgrund. Der Roman wurde ein gigantischer Flop. In England erschien (unter dem alten Titel The Whale) eine verstümmelte, bereinigte und um ihr Ende gebrachte Fassung, die von den Kritikern verständnislos aufgenommen wurde. Als in Amerika kurz darauf Moby-Dick publiziert wurde, war die Tendenz für die Aufnahme des Buches schon vorgegeben. Was siebzig Jahre später als einer der wichtigsten Romane der Weltliteratur galt, war bei Erscheinen fast ein Gegenstand des Spotts. Das Buch verkaufte sich schlecht. Melville sollte dieses Stigma nie mehr loswerden. Er war nun selber der Gejagte, der sich nach einigen kampfreichen Jahren ergab und auf den Meeresboden sank. Der Ort seiner Inspiration, der ihm das Glück so nah zu legen schien, wurde zum Ort der schmerzlichsten Niederlagen.

Nach der Arbeit schrieb Melville an einem Epos, das im Lauf der Jahre auf 18.000 Verse anwuchs. Ein Verwandter zahlte den Druck von 350 Exemplaren, die meisten wurden später eingestampft.

Begonnen hatte er sein Landleben in absoluter Hochstimmung. „Können Sie mir nicht etwa fünfzig schnellschreibende Jünglinge schicken, die über einen flotten Stil verfügen & nichts dagegen haben, ihr Handwerk zu vervollkommnen? Wenn Sie das können, so tun Sie es bitte, denn seit ich hier bin, habe ich etwa diese Anzahl künftiger Werke entworfen & finde einfach nicht die Zeit, über jedes einzelne gesondert nachzudenken“, schrieb er an den Publizisten Duyckinck im Dezember 1850. Doch schon im ersten Rausch kamen ihm Bedenken: „Aber ich weiß nicht, ob ein Buch nicht besser im Hirn eines Mannes aufgehoben ist, als in Kalbsleder gebunden – auf alle Fälle ist es dort besser vor Kritik geschützt.“

Der ideale Schreibzustand, den Melville sich erträumte, stellte sich trotz Hyperinspiration nicht ein.

Es gab Ablenkungen. Das Haus musste renoviert werden, zum Teil legte Melville selbst Hand an. Er ließ eine Veranda anbauen, zum Spott der Nachbarn an der Nordseite. Wieder war es Mount Greylock, der ihn zu der ungewöhnlichen Entscheidung brachte. Ein kleines Küchenhaus wurde errichtet, ein Brunnenhäuschen, später ein Holzschuppen. Die Landwirtschaft ließ sich im ersten Winter noch gemütlich an. Er fütterte morgens Pferd und Kuh mit Heu, schnitt ihnen Kürbisse vor, molk, sah der Kuh beim Fressen zu.

Im Frühjahr aber musste er die Felder bestellen, Pflug und Egge handhaben, Mais sähen und Kartoffeln setzen. Das Schreiben war ihm wichtiger. Manchmal ließ er alles stehen und liegen und eilte nach dem 250 Kilometer entfernten New York. So wollte er zum Beispiel im Frühsommer 1851 die Arbeit an Moby-Dick beenden. Ich „werde mich dort in einem Zimmer im dritten Stock vergraben und wie ein Sklave an meinem ‚Wal‘ weiterschuften, während er schon durch die Druckerpresse läuft“ schrieb er an Hawthorne. „Die Ruhe, die kühle Gelassenheit, die stille, graswachsende Stimmung, die man eigentlich zum Schreiben braucht, – die, fürchte ich, ist mir nur selten vergönnt. Ich stehe unter dem Bannfluch des Dollars und der Laufbursche des Teufels steht, arglistig grinsend, auf ewig in meiner Tür und hält sie halboffen.“

Als Melvilles ungeheures Romanwerk 1922 wieder aufgelegt wurde, war D. H. Lawrence einer seiner Leser. In den Studies in Classic American Literature setzte er sich in der ihm eigenen Weise mit Melville auseinander. „Er richtete sein Heim mit Enttäuschungen ein“, schreibt Lawrence. „Keine Paradiese mehr (…) Die Mutter: ein Drachen. Das Haus: eine Folterkammer. Die Gattin: eine Figur auf tönernen Füßen. Das Leben: eine Art Schande.“ Die Diagnose: Idealismus. Melville konnte nur enttäuscht werden, weil er immerzu Perfektion anstrebte. Ob seine Liebe zu Lizzy wirklich unglücklich war, ist kaum zu beurteilen. Der einzige erhaltene Brief Melvilles an Lizzy (von 1861) klingt zärtlich: „Küsse an die Kinder. Hoffe heute auf einen Brief von Dir, meine liebste Lizzy. Dein Herman.“

Da neigte sich die bittere Zeit auf Arrowhead bereits dem Ende zu.

Ein geschlagener Mann

Sein minutiöser Biograf Hershel Parker schreibt schon für das Jahr 1853: „Melville war derart geschlagen wie ein Mann es nur sein kann.“ Nach dem Desaster mit Moby-Dick hatte Melville Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten geschrieben, ein mit Inzest-Fantasien spielendes Buch, in das er auch noch eine gute Portion seiner Wut über das Schicksal seines großen Wal-Romans packte. Pierre wurde mit noch spitzeren Fingern angefasst und es verkaufte sich unterirdisch schlecht. Von gut zweitausenddreihundert gedruckten Exemplaren verkaufte der Verlag Harper’s bis zum März 1853 gerade mal zweihundertdreiundachtzig Stück. Hundertfünfzig Rezensions-Exemplare waren verschickt. Melville, so rechnete Harper’s ihm vor, schuldete dem Verlag rund dreihundert Dollar. Kurz nach Pierre schrieb Melville The Isle of the Cross. Der Roman wurde vom Verlag zurückgewiesen, Melville sprach später davon, er sei davor „bewahrt worden“, es zu veröffentlichen. Das Manuskript ist verschollen. Seine Prosa-Projekte wurden kleiner, künstlerisch blieben sie anspruchsvoll.

Melvilles guter Name

Die finanzielle Malaise war nur eine Seite der Medaille. Herman Melville begann, für neu entstehende Magazine, vor allem Putnam’s Monthly, Erzählungen zu schreiben. Die brachten ihm wenigstens ein festes Seitenhonorar, jedoch bei Weitem nicht genug, um seine Schulden abzutragen. Es entstanden dabei heute weltberühmte Werke wie Bartleby der Schreiber oder Benito Cereno. Als der Putnam’s-Verleger Dix 1856 überlegte, Melvilles Geschichten in einem Buch zu sammeln, schrieb ihm sein Berater Curtis unverblümt: „Ich glaube nicht, dass sich Melvilles Buch besonders gut verkaufen wird, aber er ist ein guter Name auf ihrer Liste. Er hat sein Prestige verloren – & ich glaube nicht, dass die Putnam-Stories es wieder aufpolieren können. (…) Ich denke, Sie können dabei nichts verlieren.“

So kam die Familie zurück nach New York. Melville atmete noch.

1856 musste der Dichter die Hälfte seines Landes verkaufen. Doch die Raten, die er dafür bekam, flossen in die Tilgung seiner tausende Dollars Schulden. Erst 1859 blieb aus dem Verkauf etwas Bargeld für seine Lebenshaltung übrig. Der Schwiegervater half den Melvilles nun mit Cash. Noch einmal später wird die Farm seiner Frau überschrieben. Melville ist nur noch „Pensionist“ im Haus.

Versuche, sich und die Familie auf andere Weise zu ernähren, scheitern. Trotz viel Protektion und Antichambrieren beim Präsidenten der Vereinigten Staaten bekommt er – im Unterschied zu Hawthorne – keinen Posten als Honorarkonsul. Als Vortragsreisender vermag er nicht, sein Publikum zu fesseln. Seine Gesundheit litt. Er bekam Rheuma und Ischias-Beschwerden. Zeitweise war er unfähig zu arbeiten. Bei einer Reise, die er auf dem Schiff seines Bruders Thomas unternahm und die ihn um Kap Hoorn bis nach San Francisco führte, litt der frühere Weltumsegler häufig unter Seekrankheit. Nachdem 1863 klar war, dass die Melvilles Arrowhead verlassen mussten, verunglückte er mit seinem Wagen und brach sich das Schulterblatt. Lange wagte er nicht mehr, sich in eine Kutsche zu setzen. Bis dahin hatte Melville als ein kühner, aber sicherer Wagenlenker gegolten.

Zoll-Inspektor

Sein letzter Eintrag in das letzte einer Reisetagebücher (vom Oktober 1860) hält den Tod eines Matrosen fest. Dieser „stürzte (…) von der Großmastrah aufs Deck & war, da er mit dem Kopf zuerst auf eine der Spieren prallte, sofort tot … Es war vergeblich, ihm den Kopf zu waschen – der Leib hörte nicht auf zu bluten, bis wir ihn bestatteten.“ Melville dachte darüber nach, dass er tue, als wäre nichts passiert, „als wüßte ich nicht, daß der Tod wirklich der König der Schrecken ist … nicht für die Sterbenden oder die Toten, sondern die Trauernden – die Mutter. – Sein Schicksal läßt sich nicht so leicht aus ihrem Herzen waschen, wie hier sein Blut vom Deck gewaschen wird.“

1863 hatte es Melville genauso auf die Planken gehauen. Er annoncierte die Farm zum Verkauf. Als sich kein Interessent fand, übernahm Hermans Bruder Allan sie und bot ihm im Tausch eines seiner Stadthäuser an. Die Hypothek, die noch auf diesem Stadthaus lag, musste wiederum Herman übernehmen. So kam die Familie zurück nach New York. Melville atmete noch. Er nahm eine feste Stelle an. Fast zwanzig Jahre lang arbeitete er als Zoll-Inspektor achtundvierzig Stunden in der Woche bei zwei Wochen Urlaub im Jahr. Er verdiente vier Dollar am Tag. Er wandte sich der Lyrik zu. Nach der Arbeit schrieb er an einem Epos, das im Lauf der Jahre auf achtzehntausend Verse anwuchs. Ein Verwandter zahlte den Druck von 350 Exemplaren, die meisten wurden später eingestampft. Ab und zu ließ er auch einen kleinen Band Gedichte privat drucken.

Als Melville 1891 starb, brachte die New York Times eine winzige Meldung. Sie schrieb nicht seinen Vornamen falsch, wie oft zu lesen ist, aber den Titel seines vielleicht bedeutendsten Werkes: „Mobile Dick“.

Nachlass in der Blechdose

Als Rentner kehrte er noch einmal zur Prosa zurück. Es entstand die Erzählung Billy Budd. Eine finale Fassung konnte er nicht mehr herstellen. Lizzy versuchte nach seinem Tod vergeblich, das Manuskript zu ordnen. Irgendwann steckte sie es mit anderen Papieren aus seinem literarischen Nachlass in eine Blechdose, dort wurde es dreißig Jahre nach seinem Tod wiederentdeckt. Als Melville 1891 starb, brachte die New York Times eine winzige Meldung. Sie schrieb nicht seinen Vornamen falsch, wie oft zu lesen ist, aber den Titel seines vielleicht bedeutendsten Werkes: „Mobile Dick“. Dieses Buch, mit dem er alles und mehr gegeben zu haben glaubte, hatte sich zu seinen Lebzeiten kaum eintausendfünfhundertmal verkauft. Erst als der Sturm der Avantgarde über die Literatur hinweggegangen war und der Erste Weltkrieg den Zusammenbruch auch eines jahrhundertealten kulturellen Zusammenhangs gebracht hatte, wurde der Roman vom weißen Wal so richtig entdeckt.

So lässt sich die Geschichte von Herman Melville erzählen. Und wie immer bei solchen Geschichten gibt sich der Ort des Grauens als trügerische Idylle. Der Himmel strahlt, die Sonne wärmt an diesem Tag meines Besuchs auf Arrowhead. Im Hof hebe ich heimlich ein paar Äpfel auf, angeblich von zwei Bäumen, die bereits in Melvilles Obsthof standen. Die roten Früchte bedecken die Erde fast lückenlos. Das ist eine zweite Lesart von Melvilles Geschichte. Sie handelt von der Naturgewalt, dem Überfluss, der Verschwendung seiner Prosa. Ist es nicht immer so, dass die Frucht verfaulen muss, damit der Same aufgehen kann?

Es gibt noch eine dritte Lesart von diesem Lebenslauf. Diese zeigt einen Helden. Er kämpft einen schier aussichtslosen Kampf um seine Vision von der Literatur. Er hat ein Fass voll Ideen, witzige kleine und aberwitzige große. Er jagt nach dem besten ihm möglichen Text – besessen wie Kapitän Ahab. Eine Weile lang glaubt er, dass er seinen Kampf gewinnen wird. Aber das kann er nicht. Als ihm das klar wird, gibt er keinesfalls auf. Er stürzt sich nicht wie der von Rachelust getriebene Kapitän in den sicheren Tod. Er kämpft seinen Möglichkeiten gemäß weiter. Er weicht immer gerade so viel zurück, wie er muss. Keinen Zentimeter mehr. Er ist listig. Indem er die Bürde der Lohnarbeit auf sich nimmt, gewinnt er die Freiheit vom literarischen Markt. Auf einer Fotografie vom alten Melville scheint er mit einem Auge schon bis in die Zeit zu sehen, in der die Welt ihm zu Füßen liegen wird.

Wäre es anders, gäbe es keinen Grund nach Arrowhead zu fahren, diese alten Möbel und Wände anzuschauen, diese Geschichten anzuhören und sich nachher ein T-Shirt zu kaufen, auf dem steht: I would prefer not to – Ich möchte lieber nicht. Im Unterschied zu seiner Figur Bartleby hat Herman Melville gehandelt.

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Thomas Lang, Jahrgang 1967, lebt als Schriftsteller in München. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Bodenlos oder Ein gelbes Mädchen läuft rückwärts (2010) und die Erzählung Jim (2012) bei C.H. Beck.

Quelle: VOLLTEXT 4/2015

Online seit: 16. August 2020