Das Schauspiel der Geschichte

Thomas Lang über Éric Vuillards Roman Die Tagesordnung.
„In einem bestürzenden Fluch haben sich die Filme von damals in unsere Erinnerungen verwandelt.“

Online seit: 8. Mai 2019
Eric Vuillard © Melania Avanzato
Éric Vuillard: „Nichts ist unschuldig an der Kunst des Erzählens.“
Foto: Melania Avanzato

Am Vormittag des 12. März erwarten die Österreicher fieberhaft und mit unanständigem Frohlocken das Eintreffen der Nazis.“
Gemeint ist, man müsste es schwerlich ergänzen, der März 1938. Das Thema von Éric Vuillards jüngstem Buch oder zumindest der Kristallisationspunkt seiner Erzählung Die Tagesordnung ist damit gesetzt – er schreibt über die damals „Anschluss“ genannte Okkupation Österreichs durch das deutsche Reich, wählt also wie schon häufiger die europäische Geschichte zum Thema.

Seine Erzählweise ist schlank, anders als Knausgård oder Carrère benötigt er gerade mal 120 Seiten, um sich einem der zentralen Ereignisse zu widmen, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen. Vuillard eröffnet mit einem Treffen im Februar 1933. Die NSDAP brauchte dringend Geld und lud die führenden Industriellen des deutschen Reichs nach Berlin ein. Drei Millionen Mark sollten die Bosse aufbringen, um den Nazis zum Wahlsieg zu verhelfen. Dafür versprach Hitler ihnen die Wahrung des Privateigentums und Schutz vor dem Kommunismus. Die anwesenden Herren spendeten. Es waren die Leiter bzw. Besitzer von Firmen wie „BASF, Bayer, Agfa, Opel, I.G. Farben, Siemens, Allianz, Telefunken … Sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Radiowecker, unsere Hausversicherung und die Batterie in unserer Uhr.“ – Es geht mithin nicht um Vergangenes.

In den folgenden Kapiteln befasst Vuillard sich mit den Ereignissen vor und um den 12. März 1938. Er zeichnet das geheime Treffen von Schuschnigg und Hitler auf dem Obersalzberg nach, schildert die Bemühungen, den Einmarsch als von der österreichischen Regierung gewünscht zu camouflieren und die gleichzeitige völlige Rücksichtslosigkeit gegenüber Verfassung und Gesetzen des Landes.

Ausführlich widmet er sich einem Besuch des deutschen Außenministers Ribbentrop bei Chamberlain in London und deutet dabei die Verflechtungen an, die nicht nur politisch bestehen – denn Chamberlain war in früheren Jahren offenbar der Vermieter von Ribbentrops Londoner Wohnung. Wiederholt attackiert Vuillard den Begriff des Appeasement für die englische Politik dieser Jahre. Für ihn sind die Verwicklungen vieler englischer Politiker in nazistische und antisemitische Netzwerke, etwa die Nordic League, allzu offensichtlich. Nachdem Ribbentrop die Engländer möglichst lang bei diesem Dinner festhielt, um sie an einer Reaktion auf den Einmarsch zu hindern, kehrt Vuillard zurück zum Geschehen in Österreich.

Die Reichswehr kommt mit Lastwagen und schwerem Gerät aus Bayern über die Grenze. Bereits in Linz bleibt sie stecken. Die Panzer, nicht lange darauf die gefürchtete Waffe der deutschen Armee, fahren nicht mehr. Die Machtdemonstration, die wohl auch ein Signal an den Rest Europas geben sollte, gerät um ein Haar zur Blamage. In Wien wüten derweil schon die österreichischen Nazis, verhaften und verprügeln mögliche Gegner, schikanieren die jüdische Bevölkerung. Göring und Ribbentrop führen ein Telefonat, in dem erneut behauptet wird, Österreich hätte um den Einmarsch gebeten. Dieses Telefonat war für die ausländischen Geheimdienste gefälscht, der Tenor der eigentlichen Gespräche allerdings wurde in Protokollen aufbewahrt, die Hermann Göring führen ließ.

Wie schon eingangs zitiert, beschreibt Vuillard die Ambivalenz des sogenannten „Anschlusses“ – einerseits ein Gewaltstreich gegen den Willen der (wie auch immer gearteten) österreichischen Regierung, andererseits ein per Akklamation und nachgeschobener Volksbefragung doch bereitwillig hingenommener, ja, sogar gefeierter Akt. Vuillard schildert, wie der Widerstand der österreichischen Presse sich beinah auf die Meldung von vier Selbstmorden beschränkt, deren Zusammenhang mit dem politischen Ereignis des 12. März wenigstens suggeriert worden sei.

Am Ende schlägt er den Bogen zurück zu den Industriellen und schildert eine Szene aus dem Jahr 1944. Die Krupps sitzen beim Abendessen, als der schon senile, eigentlich verstummte Gustav Krupp sich erhebt und sagt: „Wer sind eigentlich all diese Leute?“ Die gespenstische Szene deutet der Autor als Erscheinen der vielen Zwangsarbeiter, an denen der Konzern sich während des Krieges bereicherte. Mit der Beschreibung des Zwangsarbeiter-Elends und der widerwilligen Zahlung kleiner Entschädigungen durch Krupp an überlebende Juden in den 1950er-Jahren endet das Buch. Für die Unterstützer der Nazi-Diktatur, die sich 1933 in Berlin versammelten, hat sich durch den Krieg praktisch nichts geändert, so Vuillard. „In absehbarer Zeit werden alle statt des Goldenen Parteiabzeichens stolz das Bundesverdienstkreuz tragen.“

Ein eigenes Genre

Der (deutsche) Verlag gibt in einer editorischen Notiz folgenden Hinweis: „Der Wortlaut der Zitate stützt sich mit leichten Abwandlungen vor allem auf die Gesprächsprotokolle der Nürnberger Prozesse sowie auf Kurt Schuschniggs Memoiren …“ Im Übrigen, so der Autor selbst, erlaube die Literatur alles, auch das freie Nacherzählen von Geschichte. Aus diesem Grund und weil mein Wissen über Österreich 1938 sich im Wesentlichen auf Ernst Jandls Gedicht „wien: heldenplatz“ beschränkt, soll die historische Wahrheit von Vuillards Erzählung hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Sie bietet eine glaubhafte, nach Überprüfung einzelner Punkte stichhaltige Version der Ereignisse. Schließlich handelt es sich nicht um den Sachtext eines Historikers.

Worum handelt es sich denn? Dem Verlag zufolge hat Vuillard ein neues, eigenes Literatur-Genre geschaffen. Im Grunde ist es ein Essay, der sich der Mittel erzählender Literatur bedient, ohne eine suggestive, durchgestaltete Fiktion bieten zu wollen. Die Tagesordnung, im Original L’ordre du Jour – was sich auch mit Der Tagesbefehl übersetzen ließe – ist eine zeitgeschichtliche Betrachtung, eine Rekapitulation von Ereignissen, die Europa geprägt haben, oder des seismischen Zitterns vor diesen großen Ereignissen. Das ist faszinierend gemacht, im Grunde auch ein wenig problematisch, weil Vuillard bei aller Rationalität die Ebene des rationalen Diskurses häufig zugunsten suggestiver Bilder verlässt. Ein Text wie dieser funktioniert vielleicht nur in einer freien Gesellschaft und im Vertrauen auf das kritische Potenzial der Leser.

Éric Vuillard ist 50 Jahre alt. Er hat in Frankreich seit 1999 neun Bücher publiziert, von denen die frühesten bislang nicht ins Deutsche übersetzt sind. Der französische Kritiker Jean Ristat nennt ihn in seinem Buch Qui sont les contemporains? (Gallimard, 2017) einen Nachfahren Lautréamonts (was aus den jüngeren Titeln nicht unmittelbar ersichtlich wird). Schon seine früheren Bücher, insbesondere Tohu, scheinen sich traditionellen Genres zu entziehen. Ristat schreibt, Vuillards Bücher seien „des objets non identifiables qui … brillent pour notre seule délectation“ – nicht identifizierbare Objekte, die zu unserem reinen Vergnügen glänzen. Éric Vuillard wurde unter anderem 2012 mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. Für Die Tagesordnung erhielt er 2017 den Prix Goncourt.

Auf Deutsch liegen seine Bücher vor, die nach Art des hier besprochenen historische Ereignisse oder Figuren zu ihrem Gegenstand machen. Die Ballade vom Abendland (im Französischen etwas kantiger La Bataille d’Occident, also die Schlacht des Abendlandes) handelt vom Ersten Weltkrieg, Kongo von der Kolonialisierung ebenjenes afrikanischen Landes im 19. Jahrhundert, Die Traurigkeit der Erde von den letzten Indianerkriegen und dem Spektakel, das Buffalo Bill in seiner interkontinental tourenden Show daraus machte. Dieses letzte stellt vielleicht den gelungensten Versuch des Autors dar, sich seinen historischen Stoffen zu nähern, und es ist für sein ästhetisches Verfahren recht aufschlussreich.

Vuillard ist kein Detail-Schilderer, er liebt das Skizzenhafte, Panoramatische. Häufig stellt er Behauptungen einfach in den Raum – „die große redliche Lüge der Arbeit“ oder „das Abenteuer unseres Daseins“ sind Beispiele für sein Appellieren an eine Art Common Sense. Jedenfalls hält er sich bei Statements dieser Art nicht weiter auf. Die Arbeit der Imagination macht der Autor immer wieder sichtbar. Gleich im ersten Kapitel der Tagesordnung, wenn er uns zu dem illustren Treffen der Industriebosse lädt, schreibt er etwa, „man könnte meinen, dem etwas steifen Vorgeplänkel einer Gartenparty beizuwohnen.“ An einer anderen Stelle bringt er sich selbst ins Spiel: „Ich weiß nicht, wer [als Erster die Stufen hinaufstieg] … und im Grunde tut das wenig zur Sache.“ So lässt er uns immer wieder am Akt der Imagination teilnehmen, nimmt das Illusorische zurück oder zeigt es eben offen als illusorisch.

An anderen Stellen schildert er sehr wohl Details, etwa wenn er den künftigen Reichswirtschaftsminister beschreibt: „[Hjalmar] Schacht schiebt gelegentlich seine schmale Brille hoch und reibt sich die Nase, die Zunge leicht zwischen die Lippen geschoben.“ Solche Einzelheiten wirken bei Vuillard manchmal manieriert, bloß dem Zweck dienend, eine Szene lebendiger zu machen. Das ist schade, weil die Glaubwürdigkeit der Erzählung an solchen Stellen leidet. Der sonst so summarische und mit schlanken Strichen zeichnende Autor wirkt bei der Detaillierung ein wenig lieblos.

Wenn die Glaubhaftigkeit des Erzählten an Stellen wie dieser leidet, offenbart das ein Problem des gegenwärtigen Erzählens. Es wirkt wie infiziert von der allgemeinen Aufmerksamkeitsökonomie, die uns nicht erlaubt, uns mit Nebensächlichkeiten länger aufzuhalten – schließlich gibt es so viel Wesentliches, das wir auf keinen Fall verpassen wollen. Ein bisschen schlampig sind außerdem alle, nicht wahr? …

Leider wirkt die Lässigkeit negativ auf das Erzählte zurück, wo sie zur Nachlässigkeit wird. Wenn das Detail willkürlich und fremdkörperhaft bleibt, wie ein aufgeklebter Bart an einer Pappfigur, warum sollte das Große und Ganze dann glaubwürdig sein?

Der große Diktator

Interessant ist es in diesem Zusammenhang, sich die Beschreibungen Adolf Hitlers anzusehen, der in dem kurzen Text immerhin 37-mal namentlich erwähnt und doch nicht zu einer (die Erzählung) dominierenden Figur wird. Sein erster Auftritt – 1933 vor den Industriemagnaten – zeigt ihn lächelnd und entspannt, „leutselig … sehr viel liebenswürdiger als gedacht“. Diese Darstellung erinnert an Redeausschnitte und Auftritte von ihm, die inzwischen zahlreich auf YouTube zu finden sind und die das Bild des ewig schreienden und geifernden Irren, als den wir Hitler über Schule und Fernsehen kennen lernten, variieren. Das scheint mir insofern erwähnenswert, als dieser „andere“, in seiner Jovialität an heutige Politiker erinnernde Mann den Erfolg, den er nicht nur bei Massenauftritten hatte, viel besser verständlich macht. Anders gesagt: Mangelnde Bereitschaft zum Schreien und Wüten ist noch kein ausreichendes Kriterium für einen hinnehmbaren Politiker. Zusammen mit Knausgårds menschlicher Schilderung des jungen Mannes Hitler als (verhinderter) Künstler steht Vuillards Charakterisierung darüber hinaus für die sinkende Strahlkraft des dämonischen Obernazis.

Ein freundlicher Mann begegnet uns also zunächst, an einer anderen Stelle verwandelt er sich in ein widersprüchliches Wesen und letztlich in ein unerbittliches Arschloch, das mit großen Schritten über die Welt hinwegstiefelt, „äußerst erregt“, „außer sich“, brüllend und tobend – vor allem aber konsequent unfähig und unwillig, irgendetwas zu verhandeln. Vuillards Hitler muss seinen Willen haben.

Des Diktators Art, die Massen zu grüßen, beschäftigt Vuillard, die Geste ist uns von Filmausschnitten vertraut. Statt des sogenannten „deutschen Grußes“ winkelte er „mit einer nachlässigen, weiblich anmutenden Bewegung“ oft nur den Arm an. Hier verweist Vuillard auf Chaplins Parodie des Diktators und deutet damit an, wie sich für uns die Bilder überlagern. An einer zweiten Stelle geht er noch weiter. Hitlers Rede auf dem Heldenplatz charakterisiert der Text wie folgt: „Er krakeelt ein Deutsch, das der später von Chaplin erfundenen Sprache sehr ähnlich ist, voller Verwünschungen, aus denen sich nur einzelne Wörter abheben.“ Trotz des Hinweises auf das „später“ zeigt sich hier deutlich die Umkehrung in der Wahrnehmung: Heute muss Hitlers Auftreten sich an Chaplins Parodie messen und nicht umgekehrt. Ein kleiner Sieg der Kunst über die Propaganda und eine der schönsten Stellen in Vuillards Buch.

Im falschen Film

Fotografien gehören allgemein zu den wichtigen Inspirationsquellen des französischen Autors. In seinem Buch über Buffalo Bill befasst er sich explizit mit dieser Art von Material. Er beschreibt die Fotografie einer Indianerin, die, von Weißen erzogen, sich in ihrer letzten Lebensphase den Lebensunterhalt wiederum damit verdiente, als Indianerin zu posieren. Auf dieser Fotografie, findet Vuillard, sehe die Frau „verkleidet“ aus, und daraus leitet er ab, dass sie „keine Indianerin mehr“ gewesen sei.

Kurt Schuschnigg
Kurt Schuschnigg, 1934: Man musste nur ein paar Millimeter abschneiden, um den österreichischen Bundeskanzler seriöser und nicht so verdattert dreinschauen zu lassen.

Auch in der Tagesordnung gibt es eine ähnliche Passage. Da schildert Vuillard eine Fotografie von Kurt Schuschnigg, aufgenommen 1934 in seiner Genfer Wohnung. Darauf sehe der österreichische Kanzler besorgt, schlaff und unentschlossen aus. Vuillard beschreibt Details wie ein zerknautschtes Revers und ein Blatt Papier, die auf der bekannten Fassung des Fotos weggeschnitten seien. Auch wenn es nicht stimmt, dass das von Vuillard beschriebene Bild so nur in der französischen Nationalbibliothek zu finden sei (es lässt sich leicht im Internet recherchieren), ist die daran anknüpfende Überlegung doch spannend.

Die gängige Version des Fotos nämlich habe eine ganz andere Wirkung: „Man musste nur ein paar belanglose Millimeter, ein kleines Stückchen Wahrheit, abschneiden, um den österreichischen Bundeskanzler seriöser und nicht so verdattert wie auf der ursprünglichen Aufnahme dreinschauen zu lassen.“ Vuillard folgert: „Nichts ist unschuldig an der Kunst des Erzählens.“ Auch wenn die Bildaussage manipulierbar und die Fotografie als solche selbstverständlich fälschbar erscheint, bleibt sie für den Autor doch wichtig. „Die Wahrheit ist in ihr eingezeichnet“, heißt es im Buffalo-Bill-Buch. Die Zeit dagegen wird von ihr ausgeschaltet, wir können uns in einer Fotografie wie auch in einem (in diesem) Text bewegen, als gäbe es das Fortschreiten der Zeit nicht. Darin liegt der Wert der Künstlichkeit, während es in der natürlichen Welt und der Geschichte kein Halten gibt.

Für die Ereignisse vom März 1938 ist vor allem der Film eine wichtige Quelle. Die in den offiziellen deutschen Wochenschauen gezeigten und vom Fernsehen bis heute oft wiederholten Aufnahmen dürften das Bildrepertoire, das den meisten von uns zu Nazi-Deutschland und Zweitem Weltkrieg zur Verfügung steht, entscheidend geprägt haben – ergänzt durch die schockierenden Bilder, die bei der Befreiung der Konzentrationslager entstanden. Auch mit dem filmischen Material geht Vuillard keineswegs naiv um. Einerseits benutzt er es spürbar für sein Schreiben. Andererseits warnt er uns und sich selbst: Alles, was wir dächten, entspränge diesem „homogenen Folienhintergrund“ der Propagandafilme. „In einem bestürzenden Fluch haben sich die Filme von damals in unsere Erinnerungen verwandelt.“

Vuillard problematisiert auch den überlieferten Ton. Die Filmaufnahmen wurden damals „natürlich erst nachträglich mit dem Jubel unterlegt“ – „mithilfe der sogenannten Overdub-Technik. Womöglich war der Jubel gar nicht echt.“

Nutzen der Historie

Andererseits will er dem Material auch nicht jeden Wahrheitsgehalt absprechen. Über die Aufnahmen vom Wiener Heldenplatz schreibt Vuillard in diesem Zusammenhang, man könne sich „keine Illusionen machen, es wurden aus ganz Österreich Nazi-Militanten herbeigekarrt, Gegner und Juden inhaftiert: eine ausgewählte, bereinigte Menge; doch es sind echte Österreicher aus Fleisch und Blut, keine bloße Kinomenge.“ In diesem Abwägen, in der Nachvollziehbarkeit des gedanklichen Prozesses, der ein bald historisches Ereignis reflektiert und bewertet, liegt die große Stärke von Vuillards Schreibweise. Letztlich geht es darum, den Anspruch auf Wahrheit nicht vollends an die Wissenschaft abzutreten, sondern als kritisches Individuum anhand des verfügbaren Materials und mithilfe der (eigenen) Imagination zu verwirklichen, sich andererseits aber nicht einer platten Nachinszenierung, einer bloß atmosphärischen Bebilderung und unmittelbare Zeugenschaft heischenden Präsentation irgendwelcher Dokumente anheimzugeben, wie es beim Histotainment praktiziert wird. Die Suggestion als solche bleibt wiederum Thema.

Werfen wir noch einen Blick auf das, was hier als Geschichte verhandelt wird. Einerseits operiert Vuillard recht alltagssprachlich mit dem Begriff (jedenfalls erscheint es in der deutschen Übersetzung so), wenn er von den „Untiefen der Geschichte“ schreibt oder der „Versenkung der Geschichte“. Andererseits problematisiert er unser Bild von der Vergangenheit, weil wir nur inszenieren können, was geschehen ist. Er schildert nach den Tagebüchern von Günther Anders einen riesigen Kostümfundus in Hollywood, der die Kleider für jede mögliche Geschichte, auch die Nazi-Zeit, liefert, aber für „die wirkliche Tragödie“ keinen Platz hat. „Die Geschichte ist ein Spektakel“ heißt es im Hinblick auf den Custom Palace. Diesen Satz dürfen wir ruhig als allgemeine Betrachtung lesen.

Deutlicher beschäftigt Vuillard sich in der Traurigkeit der Erde mit dem Thema. Buffalo Bill schuf für die Moderne gewissermaßen den Prototyp dieser Art von „historischer“ Inszenierung, und er ging dabei so nah ran wie nur möglich. Er engagierte den Sioux-Führer Sitting Bull selbst für seine Show und kaufte nach dessen Tod Hütte und Pferd des Häuptlings, um das Geschehen in seiner Show möglichst authentisch wirken zu lassen.

Andererseits änderte er bedenkenlos die wahren Begebenheiten, wenn es ihm dramaturgisch wirksamer erschien. General Custer wurde im Krieg gegen die Sioux 1876 getötet, in der Buffalo-Bill-Show dagegen vor dem Tod gerettet. Vuillard schreibt: „Nachdem er [Buffalo Bill] es jahrelang in der Show so aufgeführt hatte, sei er schließlich der Überzeugung gewesen, General Custer tatsächlich gerettet zu haben.“ Die Fiktion überformt die Historie.

„Die reality show“, heißt es ferner, „ist also nicht … der extreme, grausame und besitzergreifende Doppelgänger der Massenunterhaltung. Sie ist deren Ursprung: sie katapultiert jeden Darsteller der Tragödie in eine unwiderrufliche Amnesie.“ Die Buffalo-Bill-Show nennt Vuillard auch das „erste beleuchtete Spektakel der Weltgeschichte“. Schließlich geht „die Geschichte … vor dem Spektakel in die Knie.“

Um dieses Problem kreisen in gewisser Hinsicht Vuillards Bücher. Mehr als ein Wortspektakel vermag auch er nicht aus dem überlieferten Material zu machen. So gesehen ist er selbst ein Buffalo Bill der Literatur – ein Nachinszenierer, Beleuchter, Bebilderer. Allerdings bietet er uns an, mit ihm über sein Material nachzudenken, und die Aussicht besteht, dass er sich nicht wie der alte Amerikaner in seine eigene Version der Geschichte verirrt.

Die Nacherzählung des „Anschlusses“ Österreichs an das Nazireich weist für mich außerdem über das Spektakelhafte hinaus. Die Lähmung Europas, insbesondere Frankreichs und Englands, im Angesicht der nazistischen Unverfrorenheit kann einen schaudern machen. Deutschland annektiert Österreich? Wird schon passen. Deutschland will einen Teil der Tschechoslowakei? Soll es ihn haben. Womit war man stattdessen beschäftigt? In Frankreich etwa mit dem Schutz der heimischen Lebensmittel, schreibt Vuillard polemisch. Insofern stellt Die Tagesordnung eine kräftige Watsche für unsere Gegenwart dar. Das Buch zeichnet nach, wie unglücklich politische Lähmung auf der einen und ein rücksichtsloser Wille auf der anderen Seite zu der immensen Katastrophe führten, die Europa im vergangenen Jahrhundert erlebt hat. Angesichts der gegenwärtigen Kriege in Osteuropa und dem Nahen Osten und dem Umgang des „Westens“ damit lässt diese Schilderung uns schaudern. Die nächste Tragödie steht vielleicht schon vor der Tür. Sie wäre präsent, nicht historisch und keinesfalls bloß ein Spektakel.

Thomas Lang, Jahrgang 1967, lebt als Schriftsteller in München. Zuletzt erschienen die Erzählung Jim (C.H. Beck, 2012) und der Roman Immer nach Hause (Berlin Verlag, 2016).

Quelle: VOLLTEXT 1/2018 – 26. März 2019

Online seit: 8. Mai 2019

Éric Vuillard: Die Tagesordnung
Aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis
Matthes & Seitz, Berlin, 2018
128 Seiten, € 18 (D)/€ 18,50 (A)