Die Endlichkeit des Textes

Von Thomas Hettche

Online seit: 29. August 2020

Fast schon können wir es uns nicht mehr vorstellen, was es die allermeiste Zeit, seit es Bücher gibt, hieß, eines aufzuschlagen. Wir sind dabei, zu vergessen, dass die Welt einmal Natur war, und Natur ist sprachlos. Heute, da wir uns – immer umgeben von Wörtern, Bildern, Musik – anschicken, ganz und gar selbst Teil der digitalen Welt zu werden, wie wir bisher nur Teil der Natur waren, ist höchst fraglich, was mit der Literatur geschehen wird. Denn deren Magie bestand seit Jahrtausenden darin, Sprache in der Stille zu sein.

Eine Antwort auf diese Frage geben ihrem Selbstverständnis nach all die zukunftsgläubigen und technikaffinen literarischen Blogs, Mitschreibprojekte und Selbstpublishing-Plattformen im Internet, die bei allen Unterschieden eines auszeichnet: Ihre Utopie von Literatur ist immer die eines unendlichen Textes. Unendlich viele Geschichten sollen ineinandergreifen, Schreiben und Überschreiben, Text und Kommentar, Autor und Leser sollen durch die Möglichkeiten der Technik eins werden.

All die Jahrhunderte, die es diesen Traum von der Enzyklopädie schon gibt, gibt es auch ihren Gegenentwurf: das heilige Buch.

Wir befinden uns in einer medialen Transformation unserer Lebenswelt, die diese Vorstellung von Literatur vehement ins Recht zu setzen, ja sie zur einzig adäquaten zu machen scheint, weshalb zumeist übersehen wird, dass das, was sich hinter dieser Ästhetik verbirgt, viel älter ist als die medialen Umbrüche, in denen wir stehen. Ihr Anspruch ist, kurz gesagt, ein enzyklopädischer. Seite für Seite ins Unendliche wachsend, sehnt die Enzyklopädie sich seit je danach, die ganze Welt abzubilden. Das Problem aber dieser Sehnsucht ist ebenso alt wie das Lexikon selbst: Wäre es so unendlich wie die Welt, wäre es nicht mehr benutzbar. Borges hat diese Aporie immer wieder klaustrophobisch ausgemalt. Die Karte, die so groß ist wie das Land, legt sich wie ein Leichentuch über die Schöpfung und erstickt all das Leben, das sie doch abbilden will.

All die Jahrhunderte, die es diesen Traum von der Enzyklopädie schon gibt, gab es auch ihren Gegenentwurf, der zudem älter ist: das heilige Buch. Es zeichnet alle heiligen Texte aller Kulturen aus, die Unendlichkeit der Schöpfung eben nicht in einem unendlichen, sondern in einem strikt begrenzten Korpus von Sätzen abbilden zu wollen. Ihr Zauber liegt gerade nicht in der Addition. Statt Rechnerleistung, Cloud-Vernetzung, einer riesigen Zahl von Beiträgern bestimmt sie der Glaube, dass in einem einzigen Satz