Stefano Riccis wunderbare Geschichte des Bären siedelt im Liminalen, in den Zonen des Übergangs zwischen Autofiktion und Geschichtserfahrung, zwischen medialem Ereignis und literarischer Umschrift: 2006 war die Jagd auf den aus einem Nationalpark ausgebrochenen Braunbären Bruno, der aus dem Trentino bis zu seiner Erlegung in Bayern nordwärts wanderte, Teil einer spannungsgeladenen Berichterstattung. Wurde Bruno, der zum „Problembären“ stilisierte tierische Migrant, am Ende zu einem präparierten Museumsstück, so wird das titelspendende, angeschossene Tier bei Ricci gerettet – und findet in der Hansestadt Hamburg eine neue Heimat. Die Wirkmacht der Fiktion macht aus dem wilden Einwanderer eine fassbare, erinnerbare Figur, sie wird Teil von Riccis Comic, der in seiner formalen Gestaltung und inhaltlichen Ausrichtung gleichfalls dem Prinzip der Grenzüberschreitung verpflichtet ist: So entfaltet sich Die Geschichte des Bären über opulente Doppelseiten, die auf den ersten Blick mehr der Malerei denn der neunten Kunst verpflichtet scheinen.
Das Verheimlichte und das Vergessene
Technisch perfekt kommen Kreide, Acryl, Tusche und eine Vielfalt weiterer Materialien seitenfüllend zum Einsatz. Die Textdarstellungen fallen im Verhältnis zu den Bildern klein aus, sie sind Formen der Verdichtung – die, je düsterer sie geraten, auch schon schwarz sein können. Das Verheimlichte und das Vergessene sind Schlüsselbegriffe dieses dunklen, doch bezaubernden Buches, das rasche Wechsel zwischen Orten und Zeiten vornimmt, fremde, doch träumerisch vertraut scheinende Räume ausgestaltet und gar nicht anstrebt, alles zu Ende erklären zu wollen. Die materialbetonte Montagearbeit des Buchs hat in der Mischung aus autobiografischen Elementen, erzählerischer Geschichtsstiftung und der individuellen Verhandlung historischer Episoden ein klares inhaltsspezifisches Gegengewicht.
Zwischen Benjamin und Pinocchio
Die persönlichen Erfahrungen Riccis, der mit der Arbeit an dem Buch begann, als er von Italien nach Deutschland übersiedelte, sind hier ebenso einzurechnen wie die vielen eingeflochtenen geschichtlichen Nullstunden und Neuanfänge. Der Kunstgriff, Tiere als anthropomorphe Akteure agieren zu lassen, ermöglicht dem Künstler nicht nur auf ein Reservoir fabelhaften Vorwissens zurückzugreifen, sondern auch die Integration seiner mannigfaltigen Bezüge zum Themenkreis der Kindheit. Hier stechen zwei Werke hervor, die – wenig zufällig, möchte man meinen – ebenfalls auf die Länder Italien und Deutschland verweisen: Einerseits finden sich klare Bezüge zu Carlo Collodis Le avventure di Pinocchio, andererseits auf Walter Benjamins posthum veröffentlichte Berliner Kindheit um neunzehnhundert.
Riccis Verbindung zum genannten Kinderbuchklassiker um den hölzernen Jungen ist dabei nicht nur in der Entwicklungsgeschichte des Protagonisten, sondern etwa auch in den in der Bucherstausgabe enthaltenen, durchaus monsterreichen Illustrationen Enrico Mazzantis zu finden. Riccis Bilder fallen freilich wenig hell aus, doch sein tierisches alter ego, ein als Sanitäter wirkender Hase, der auch auf dem Cover des Buchs prangt, ist wie Pinocchio eine Figur des Dazwischen, der Verwandlung und der Veränderung. Benjamins Büchlein, das in kurzen, poetischen Episoden das Staunen über die Welt und die Erinnerbarkeit des Erlebten greifbar macht und nicht zuletzt deshalb immer wieder zu erneuter Lektüre verführt, ist ebenfalls in mehrfacher Hinsicht mit Riccis Buch verflochten: Neben der deutlich ausgestellten, reflexiven Haltung des Schreibenden und der Verweigerung einer klassisch anmutenden, retrospektiv glättenden Autobiografie stehen vor allem die Poetik der Montage und die Präformierung geschichtlicher Erfahrungen durch Bilder im Vordergrund.
Entstellte Welt der Kindheit
Der sich selbst „dem Geschlecht der Schwellenkundigen“ zurechnende Benjamin will die Verwischungen gar nicht ausblenden, vielmehr zielt er ganz darauf ab, „der Bilder habhaft zu werden“. Dieses Ansinnen, „die ganze entstellte Welt der Kindheit“ einzufangen, übersetzt sich bei Ricci in eine offengelegte, auf Überlagerungen ausgerichtete Montagearbeit. An die Stelle einer autoritativen Chronologie rückt eine vielschichtige Kartografie. Die vom Bären beschrittenen Grenzregionen und die verschollenen Länder der Kindheit verschmelzen zu einem Buch, das nicht zuletzt auch die Frage aufwirft, was wir uns von einem Comic erwarten dürfen.