Textverarbeitung

Prägende Lektüren deutschsprachiger Autorinnen und Autoren

Online seit: 31. August 2023

Texte werden nicht nur, aber auch aus Texten gemacht. Was einer gelesen hat, beeinflusst, wie er schreibt, möglicherweise sogar, wie er lebt: Lesen, Schreiben, Leben sind Formen von Textverarbeitung. Beginnend mit VOLLTEXT 2/2023 befragen wir deutschsprachige Autorinnen und Autoren nach den Büchern, die ihr Leben und Schreiben geprägt haben. Fünf bis zehn Titel können genannt und in aller Kürze kommentiert oder begründet werden. Jede Liste kommt einem rasch hingeworfenen, skizzenhaften Selbstporträt als Leser beziehungsweise Leserin gleich. In der Zusammenschau, am Ende der Serie, sollen die gesammelten Leselisten das intertextuelle Hintergrundrauschen der Gegenwartsliteratur erahnbar machen.

 

Julia Schoch

Erich Kästner: Das Schwein beim Friseur
Das Buch (DDR-Trompeterbücher) war meine erste Schreiblektion: Nimm deine Leser ernst, indem du deine Figuren und ihren Schmerz / ihre Freude ernst nimmst. Klare, einfache Sprache heißt nicht banale Eindeutigkeit. Meine Frage damals: Wie macht der das?

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Darstellung und Analyse (Denken) zugleich. Erwachsenes Erzählen. Mutige Dramaturgie. Schreiben im Bewusstsein, dass das 20. Jahrhundert literarische Formen hervorgebracht hat, die realistisches Erzählen hinter sich lassen bzw. geschickt nutzen.

Jean-Philippe Toussaint: Das Badezimmer
Schreiben von der Last an der Freiheit und über die Absurdität unserer Gegenwart, ohne in Schwermut, Zynismus oder einen Anklageton zu verfallen. Liebe ohne Beziehungsprobleme. Im Geiste Becketts schreiben, nur ohne (abwesenden) Gott.

Peter Handke: Langsame Heimkehr
Mach dein Ding. Bleib in deinem Kosmos. Literarische Sprache ist etwas Heiliges. Alles, was von ihr berührt wird, verwandelt sich ebenfalls in etwas Heiliges. Erzähle der Existenz angemessen!

Lydia Davis: Almost No Memory / Break It Down
Originell in der Form. (Es muss ja nicht immer ein Roman sein.) Die tiefen existenziellen Situationen verbergen sich gleich hinter der Banalität des Alltags. Die traurige Frau (im Leben), die zugleich die lustige Frau ist (im Schreiben). Überholen ohne einzuholen.

Marguerite Duras: Liebe
Literatur muss keine Einladung zur Identifikation sein. Figuren lassen sich ohne Psychologie schildern. Wir sehen ihre Verzweiflung an ihren Handlungen, Gesten, (wenigen) Worten. Die eigene Biografie ist ein Mythos und will auch so erzählt werden.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends.
Schön kurz. Abschälen auf das Wesentliche. Historisches als ein Muster verstehen, durch das ich etwas über „den Menschen“ erfahre / begreife. Schwelge nicht im Erzählen. Machs dir nicht gemütlich im Text (nur weil du Talent hast). Bleib am Ball (an deinem).

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Felix Philipp Ingold

Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce
Zusammengekürzt auf zwei Druckseiten im gymnasialen Lesebuch – meine frühste und stärkste Prägung in Sachen Sprache und Literatur; ich war fasziniert von der Selbstverständlichkeit, mit der Hamann in diesem Traktat zwischen mehreren Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch) hin und her wechselt, beeindruckt von Leitsätzen wie, die Poesie sei die „Muttersprache“ der Menschheit, man rede, um gesehen zu werden, und man übersetze, indem man schreibe, aber auch, man könne durchaus „ein Mensch sein, ohne dass man nötig hat, ein Autor zu werden“.

Hermann Broch: Der Tod des Vergil
Gelesen mit 17, hingerissen vom rhythmisierten Sprachstrom, begeistert von der pathetischen Metaphorik und den zahllosen Neologismen, beiläufig belehrt vom kenntnisreichen Autor; greife ich heute auf das Buch zurück, bin ich irritiert von dem großspurigen, graphomanisch zelebrierten Kitsch.

William Shakespeare: The Sonnets
Seit Langem mein Allbuch; ich lese (und übersetze) die Sonette als Shakespeares kleine Dramen; in formaler Hinsicht wie inhaltlich eine einzigartige Akkumulation von Können, Wissen, Erfahrung, Intuition; die produktivste Vorschule allen dichterischen Wollens und Tuns.

Stéphane Mallarmé: Divagations
Deutsch vielleicht wiederzugeben mit „Irrungen“, „Wirrungen“; ein Buch von der Art („uneins und bar jeder Architektur“), die der Autor selbst nicht mochte; eine Sammlung heterogener Texte (Prosagedichte, Autorenportraits, Mikroessays, Anekdoten, Träumereien, Traktate, Lese-, Theater- und Modenotizen), ein Werk aus lauter Versatzstücken, als „Buch“ zusammengehalten auf stets gleichbleibender (höchster) Stilebene; Verständlichkeit verweigernd und gleichzeitig das Verstehen provozierend; ein Buch, das immer nur für morgen geschrieben sein wird.

Vladimir Nabokov: Pale Fire
Ein vorgegebenes Langgedicht, verfasst in 999 Versen von einem fiktiven Autor (der zugleich der reale Autor ist, also Nabokov) und weitläufig kommentiert (in Form eines Romans!) von einem ebenfalls fiktiven Interpreten; ein Buch von elitärem literarischem Anspruch, dennoch ein ungetrübtes Lesevergnügen dank Nabokovs erzählerischer Lockerheit, seinem Sprachwitz, seiner Selbstironie.

Ludwig Hohls Notizen,
deren Erstausgabe ich auf meiner Abiturreise in der Wühlkiste eines Wiener Antiquariats entdeckt habe – starke, ungehobelte Prosa; mal gelassenes Nachdenken, mal polemisches Verdikt über Gott und die Welt; Schreiben gleichermaßen als Geistesübung und Körpereinsatz; dazu die bleibende Warnung: „Das wirklich Gedichtete ist eben das Gegenteil vom Erdichteten.“

Ein Buch, das ich nicht gelesen und auch nicht geschrieben habe,
das ich aber hätte schreiben wollen – bei Paul Valéry (Faust III) fand ich schon früh das Projekt dazu: „Das Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst …“

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Christoph W. Bauer

Die Bibel
Als Kind bekam ich eine illustrierte Bibel für Kinder geschenkt, später kaufte ich mir selbst eine Bibel – wie es anders sagen? Diese Geschichten sind einfach zu gut, um wahr zu sein.

Homer: Die Odyssee
Was für die Bibel gilt, gilt auch für die Odyssee, ich tauche ein in Geschichten, und wenn man mich danach fragt, wer bist du, sage ich stets – Niemand.

Gaius Valerius Catullus: Carmina
In der Schulzeit machte ich einen großen Bogen um die Römer, Jahre später entdeckte ich Catull, der mir bewies, diese frühen Umwege hätte man mir ersparen können.

Hans Magnus Enzensberger: Das Museum der modernen Poesie
Wenn es Bücher gibt, die ein Leben verändern können, dann gehören für mich die von Enzensberger herausgegebenen Bände definitiv dazu – die zwei Bände öffneten mir mit Gedichten den Blick und schickten mich auf eine Entdeckungsreise, von der ich bis heute nicht zurückgekehrt bin.

Inger Christensen: Alphabet
„die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es“ – wenn ich zugetextet von lärmigen Zeiten mir diesen ersten Vers aus dem Gedichtband Alphabet ins Bewusstsein rufe, wird für Momente alles ein bisschen einfacher – und klarer.

Paul Nizon: Hund. Beichte am Mittag
Kein Buch habe ich im vergangenen Jahrzehnt öfter gelesen als dieses, und bei jeder Lektüre verfestigte sich in mir die Gewissheit, hat man sich des Tands erst entledigt, dem man Wichtigkeit beimaß, dann geht es im Leben immer um alles.

Emily Dickinson: Gedichte
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler. Auch wenn es abgedroschen klingt, viele Verse der Emily Dickinson sind mir Begleiter durch die Tage.

Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane
Ein Buch, das mir – Pathos hin, Pathos her – einen verkorksten Tag retten kann.

Norbert Gstrein: Einer
Vor vielen Jahren gelesen und immer noch ein Buch, das ich nenne, wenn man mich fragt, was soll man gelesen haben?

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Verena Dürr

John Christopher: Die Wächter
Eine dystopische Zwei-Klassen-Gesellschaft mit Hoffnung auf Revolution.

Michel Houellebecq: Elementarteilchen
Misanthropische Gesellschaftsanalyse, am Ende sollen alle Menschen Klone werden.

Juli Zeh: Spieltrieb
Jugendliche manipulieren einander nach den Prinzipien der Spieltheorie. Ada, meine erste Anti-Heldin!

Gertrude Stein: Ida
Repetitiv, rhythmische Sprache, super für musikalische Vertonungen.

Marguerite Duras: Der Schmerz
Dass der Krieg nicht mit dem Ende des Krieges aufhört.

Ágota Kristóf: Das große Heft
Zwei Kinder handeln ohne Emotion, nach eigenen strengen Gerechtigkeitsvorstellungen, und das funktioniert!

John Cage: Silence
Alle Kunst ist Komposition. Tacet.

Eva Geber: Der Typus der kämpfenden Frau
Es waren und sind immer mehr Frauen an politischen Kämpfen beteiligt, als du denkst.

Ursula K. Le Guin: Freie Geister
Eine anarchistische Welt ist vorstellbar und aufschreibbar!

Etel Adnan: Sturm ohne Wind
(Gedicht- und Essaysammlung). Über das Gefühl, vom Krieg betroffen zu sein, ohne direkt davon betroffen zu sein.

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Martin Prinz

Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied
Mit Handke bog das Lesen in das Schreiben ab. Bis heute lassen sich Zeit und Ort der Nacht zurückverfolgen. Die Straße dieses Romananfangs führte weder in Handkes Roman noch in meine Wirklichkeit hinein, sondern in eine eigene Gegend.

Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
Die Täuschung eines blinden Erzählers als Frage, die jede Identitätsfestlegung sprengt. Indem das Eigene ohne das Fremde nicht Grund, nicht Form, weder Wort noch Bild hätte. Ganz zu schweigen von Sehnsucht.

Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte
Ungefragt in der eigenen Existenz, in der einzig Ende, Abschied und Verschwinden gesichert bleiben. Vor der Zumutung des Lebens bleibt unter Aichingers Blick kein Versteck.

Ingeborg Bachmann: Unter Mördern und Irren
Wer ermordet wen, wer erzählt wen, wer greift ins Leere? Bachmann schildert einen Krieg nach dem Krieg, sie erzählt von Männern und Frauen, von Mördern, von Irren, und führt in Weltspalten, die immer erst im Eigenen abgrundtief werden.

Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet
Am eigenen Verschwinden schreiben, ums eigene Verschwinden oder im eigenen Verschwinden? „Bei die Japana / trogns papierene Stiefel / des hast dann Gedicht“, gab H. C. Artmann Antwort auf alle drei Fragen. In einer Schuhwerbung, wo sonst?

Brigitte Schwaiger: Wie kommt das Salz ins Meer
Wie kommt Wirklichkeit in Literatur? Indem die Sätze verschwinden, federleicht wie der Tod, und vom Ersticken erzählen: „Gutbürgerlich“, das erste Wort des Romans. Damit ist jeder Platz für Fallhöhe weg, da es ein Verhältnis ist.

Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer
Der Fisch, das Meer, der Mann. Und am Ende ist das Nichts alles. Ob der größte Fang oder der tiefste Verlust, es geht weiter. Und die Welt … im Anfang war das Wort. Und wir … singer of songs.

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