Textverarbeitung: Martin R. Dean

Prägende Lektüren deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – Teil 11

Online seit: 26. April 2024

James Baldwin: Ein Fremder im Dorf
Meine Einführung in den Kolonialismus, der natürlich auch in einem kleinen Schweizer Bergdorf seine Wirkung entfaltete. Meisterhaft beschreibt Baldwin, wie er im kleinen Schweizer Dorf Leukerbad zum Objekt der Neugier und gleichzeitig zum Fremden (othering) wird. Baldwin verknüpft in diesem schmalen Text gekonnt den amerikanischen mit dem schweizerischen Rassismus und verdeutlicht, warum die Frage der kulturellen Teilhabe bis heute aktuell ist.

Hermann Burger: Diabelli
Im Anschluss an Frischs Stiller alias Mr. White ein Gipfel der Schweizer Identitätsliteratur. Mit Furor, rasant und mit irrwitzigem Sprachcharme verjuxt Hermann Burger sein Selbst in Sätzen, die so gefährlich und brillant sind wie Gletscherschluchten. Und verzauberte mich als junger Leser. Eine Absage an jede Naturtümelei, so artifiziell und schön wie ein japanischer Garten.

Jorge Luis Borges: Erzählungen
Eine zeitlose Einführung in die Dialektik fantastischer Literatur, denn Borges zeigt, dass Fiktionen dann am besten funktio-nieren, wenn sie mit dem Gütesiegel des Realistischen versehen sind. Und dass es in der Realität nur einen kleinen Riss braucht, um ins Fantastische zu gelangen. Als Schriftsteller lebte ich lange in diesem Riss.

W. G. Sebald: Austerlitz
Ein Koloss in der Literaturlandschaft, an dem nur vorbeikommt, wer sich nicht für verlorene Landschaften, rätselhafte Fremde und architektonische Denkmäler wie Bahnhöfe interessiert. Mit fanatischem Detailrealismus verzaubert mich Sebalds Sprache, mit einem eigenwilligen Sound, mit dem er seinen Sonderling durch unsere Kultur und Geschichte auf die Reise schickt, damit er seine jüdische Kindheit, seinen Namen und seine Heimat wiederfinde. Ein Buch, das für das letzte Jahrhundert ebenso wichtig ist wie die Erfindung des Antibiotikums oder die Landung auf dem Mond.

Annie Ernaux: Die Jahre
Bei Ernaux lässt sich das Persönliche und Private nicht ohne die soziale Klammer erzählen. Hier findet der Allgemeinplatz, dass wir „alle Kinder unserer Zeit sind“, seine klügste Ausformulierung. Ernaux’ kühle Prosa betreibt die Bergung des Privaten inklusive des mitbestimmenden Lebensgefühls. Sie zeigt, wie und wodurch ein Leben geformt wird und wie es seine Gestalt kriegt.

V.S. Naipaul: Das Rätsel der Ankunft
Ein Buch, in dem sich wenig ereignet, außer die von Millionen erfahrenen, hier minutiös beschriebenen Rituale des Ankommens in einem fremden Land. Naipauls Thema ist die globale Entwurzelung, und wie man mit Spaziergängen wieder Boden unter die Füße bekommt.

John Burnside: So etwas wie Glück. Geschichten über die Liebe
Dunkle, geheimnisvolle Erzählungen mit viel existentiellem Subtext. Natürlich sind es Geschichten über die Unmöglichkeit oder Schwierigkeit der Liebe ebenso wie über Krankheit, das (Un-)Glücklichsein und das Schicksal kleiner Leute. Burnside ist ein Meister der Stimmungen und der Naturdetails.

 

Quelle: VOLLTEXT 1/2024 – 18. März 2024

Online seit: 26. April 2024