Texte werden nicht nur, aber auch aus Texten gemacht. Was einer gelesen hat, beeinflusst, wie er schreibt, möglicherweise sogar, wie er lebt: Lesen, Schreiben, Leben sind Formen von Textverarbeitung. VOLLTEXT hat deutschsprachige Autorinnen und Autoren um Listen jener Bücher gebeten, die ihr Leben und Schreiben geprägt haben. Jede Liste kommt einem rasch hingeworfenen, skizzenhaften Selbstporträt als Leser beziehungsweise Leserin gleich. In der Zusammenschau machen die gesammelten Leselisten das intertextuelle Hintergrundrauschen der Gegenwartsliteratur erahnbar.
Hans Henny Jahnn: Fluss ohne Ufer
Ein Holzschiff mit geheimnisvoller Ladung sticht in See. So fängt es an und was folgt, ist wahrlich ein Fluss ohne Ufer: Verbrechen und Strafe, Liebe und Lust, Sexualität, Begierde und Gewalt, das Menschsein in wuchtiger, fremdartiger Sprache und ohne Moral.
William Faulkner: Schall und Wahn
Niedergang und Zerfall der Familie Compson (und mit ihr der südstaatlichen Traditionen), in drei inneren Monologen tobt fragmentarisch-wild die Moderne, die eingeschränkte Weltsicht des geistig behinderten Benjamin dabei virtuoses Symptom.
Dennis Cooper: George-Miles-Zyklus
George, die Lebensliebe, im Zentrum der fünf Romane, alle um ihn herum geschrieben, George in glasklarer Sprache aufgeteilt, mutiert, variiert, in wechselnde Identitäten gesteckt und wieder zu sich zurückgeführt, rastlos mäandernd in liebevoller Verzweiflung.
António Lobo Antunes:Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht
Der innere Monolog einer jungen Frau am Krankenbett ihres Vaters. Vielstimmig verwoben und assoziativ verschlungen erfindet sie seine und die Geschichte der Familie (und das Trauma Portugals) neu.
Josef Winkler: Das wilde Kärnten
Sprache ist auch Macht, wütend schreibt der Außenseiter gegen Unterdrückungsrituale an, der Kalbsstrick des Erhängten baumelt im katholischen Weltbild.
Jean Genet: Notre-Dame-des-Fleurs
1942 schickt Genet aus dem Gefängnis heraus seine barock obszönen und schrillen Figuren in eine Welt aus Tunten, Luden und Mördern, hinter mystischer Überhöhung dröhnen Verzweiflung und Einsamkeit.
Hervé Guibert: Blinde
Josette und Roberto leben in einer Blindenanstalt und ertasten sich Körper und Welt mit ihren Fingern immer aufs Neue, Farben sind Töne und Töne Gegenstände, eine eigene Welt in der Welt.
Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit
Eingebrannt für wohl ewig: Es kommen härtere Tage (und die Lupinen brennen immer noch).
Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke
Ein wüstes Konvolut aus Notizen, Beobachtungen, Textschnipseln, alles ist Körper, alles stirbt wollüstig dahin, alles vergeht, man kann den (eigenen) Blick nicht abwenden.
Abilio Estévez: Dein ist das Reich
Eine Gruppe von Menschen, allen voran die wahnsichtige „Barfüßige Gräfin“, lebt auf der „Insel“, ein paar verfallende Häuser nahe Havanna, dahinter das „Jenseits“, der Wald, wie dieser wuchern die magischen Träume und Geschichten.