Texte werden nicht nur, aber auch aus Texten gemacht. Was einer gelesen hat, beeinflusst, wie er schreibt, möglicherweise sogar, wie er lebt: Lesen, Schreiben, Leben sind Formen von Textverarbeitung. VOLLTEXT hat deutschsprachige Autorinnen und Autoren um Listen jener Bücher gebeten, die ihr Leben und Schreiben geprägt haben. Jede Liste kommt einem rasch hingeworfenen, skizzenhaften Selbstporträt als Leser beziehungsweise Leserin gleich. In der Zusammenschau machen die gesammelten Leselisten das intertextuelle Hintergrundrauschen der Gegenwartsliteratur erahnbar.
Hartmann von Aue: Iwein
Nie zu spät für die Entdeckung des Mittelalters, das uns mit jeder Menge heller Geschichten beschenkt, in denen die Geschlechter durch Herzenstausch überraschend neue Schnittmengen bilden; und uns, jenseits von Drama, Liebe und Wahnsinn, durch die Freude am Argument bestechen. Gleich zu Beginn ein Ungeheuer, das dem eitlen Ritter die alles entscheidende Frage stellt: Abenteuer – was ist das?
Ruth Schirmer-Imhoff (Hg.): Der Prozess Jeanne d’Arc: Akten und Protokolle 1431–1456
Mündlichkeit gegen Schriftlichkeit. Wer auch immer diese Johanna war: Ihre analphabetischen Protokolle sind nicht nur ein rhetorisches Feuerwerk, sondern, von wem auch immer notiert, ein nachhaltiges Zeugnis menschlicher Selbstbehauptung.
Carlo Collodi: Pinocchio
In meiner Kindheit: Das hölzerne Bengele. Heute, mit etwas Zeitverschiebung, mein Lieblingsbuch; weil Pinocchio, genau wie ich, niemals ein eigenes Zimmer hatte. Hier spielt alles im Freien und führt den Beweis, dass Frischluft und Mangel den Meister machen. Ein Reiseführer in das Land Dummenfang unserer Gegenwart zwischen Erfindung und Fake. Fantastisch realistisch. Und sehr moralisch.
Selma Lagerlöf: Gösta Berling
Qual der Wahl zwischen zwei Nobelpreisträgern: Eigentlich hatte ich Knut Hamsuns Hunger in petto, gebe aber, nach wiederholtem Lesen, Selma Lagerlöf entschieden den Vortritt. Wer hätte jemals mit mehr Empathie den verzweifeltsten Pfarrer der Weltliteratur erst auf die Kanzel und danach ins Fegefeuer des ewigen Eises geschickt? Eine Großmeisterin des Porträts, die durch die Liebe zu ihren höchst gefährdeten Figuren besticht und ohne Not auf den großen Roman-bogen pfeift.
Virginia Woolf
Nicht nur Ein eigenes Zimmer oder Orlando, sondern am besten alles.
Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung
Kein Kommentar, nur ein Zitat: „Wer ist fremder, ihr oder ich? Der haßt, ist fremder als der gehaßt wird, und die Fremdesten sind die, die sich am meisten zuhause fühlen.“
J. D. Salinger: Franny und Zooey
Auf welcher Seite auch immer man Salinger aufschlägt – wir sind nicht nur beim Lesen, sondern mitten im Schreiben. Die größte Leistung des Autors: dass er gegen den Plot Partei ergreift und sich Platz nimmt für das, was uns wirklich beschäftigt. Wie bringe ich mich selbst zu Papier? Salingerprosa ist Gedankenprosa, Argument und Debatte, also Unterhaltung im Wortsinn. Geschwistergeschichte und Campusroman zwischen Hochbegabung, Varieté und Verzweiflung: das Drama des klugen amerikanischen Kindes. Schreibschüler der Welt, lest Salinger!
Sascha Sokolow: Die Schule der Dummen
Jedes gelungene Buch entzieht sich seiner Zusammenfassung. Soviel sei trotzdem verraten: Hier spricht zu uns ein doppeltes Ich, im Gespräch mit sich selbst, also im Gespräch mit uns allen, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Erzähler ist der lernschwache Schüler Soundso: „Liebe Mama, ich weiß nicht, ob man Ingenieur und Schüler zusammen sein kann, mancher darf das vielleicht und mancher kann es nicht, manchem ist das nicht gegeben, aber ich habe die Freiheit gewählt, eine ihrer Formen, ich bin frei zu machen, was ich will, und zu sein, was ich mag.“
Günter de Bruyn: Zwischenbilanz
Sobald von Autofiktion die Rede ist, kehre ich zu Günter de Bruyn zurück, der im Bewusstsein, dass nichts verfügbar ist, versucht zu beschreiben, was wirklich (tatsächlich) war: Wider-stand durch Genauigkeit; Erkenntnis durch Selbstironie; Bewusstsein durch Sprache. Versuch einer parteilosen Betrachtung der Welt.
Michel Sierre: Das Verbindende
Das letzte Buch eines großen Meisters, der allen Widrigkeiten des Zeitgeists zum Trotz bis zum Schluss von der Erlösung vom Bösen träumt; und einmal mehr Abschied vom Sündenbock nimmt, um „unsere Erbsünde in schöpferisches Handeln zu verwandeln.“ Jedes Kapitel ein Beweis dafür, dass uns das Alter womöglich doch klüger macht.