Bevor der Film Joy von Sudabeh Mortezai aus dem Jahr 2018 bei Minute 01:12:53 angehalten wird und wir den Protagonistinnen in die warme Stube eines traditionellen Salzburger Gasthauses folgen, haben die beiden, gezwungen oder notgedrungen, bereits mehrere Reisen hinter sich gebracht. Um auszuwandern, haben diese nigerianischen Frauen finanzielle Schulden aufgenommen, die sie, endlich in Europa angekommen, bei einer Zuhälterin abdienen müssen: Joy hat jahrelang als Prostituierte in Wien gearbeitet, nun ist es ihre Aufgabe, die junge Precious mit dem Zug nach Lienz zu begleiten, von wo aus sie dann von einem Mann nach Italien gebracht werden soll.
Der Blick aus dem Fenster zeigt eine tiefverschneite Landschaft, kilometerweit. Bei einer Personenkontrolle der Polizei knapp entkommen, verlassen die zwei Frauen, nicht im Besitz ihrer Reisepässe, bei Bad Gastein verfrüht den Zug, um dort auf die Abholung per Auto zu warten. Es ist kalt, bald wird es dunkel, und so beschließen sie, sich in einem nahegelegenen Gasthaus aufzuwärmen.
Was dann folgt, ist zuerst im Film nicht zu sehen, sondern minutenlang zu hören: das Läuten der Kuhglocken der Salzburger Krampusse, das rhythmische Stampfen ihrer Beine, das Rasseln ihrer Ketten. Der Ton im Film ist hier überlaut, fast surreal, während die beiden Frauen nicht sprechen, sondern einander bloß stumm ansehen, abwarten, verwundert, verschreckt, unbewegt. Ihre Blicke folgen dem Geschehen, das sich jetzt auch uns offenbart.
Auch die Perchtenfiguren sind Boten eines Aberglaubens, der gesellschaftliche Hierarchien abbildet.
Ein „Heiliger Nikolaus“ betritt den Raum, mit ihm eine Gruppe von verkleideten Männern, eine „Pass“ – Krampusse, die ihre vorweihnachtlich-heidnischen Rituale in der Gaststube vollziehen. Im zotteligen Fellkostüm, mit geschnitzter teuflischer Holzmaske und Hörnern daran, drohen sie den Gästen mit Schlägen ihrer aus Zweigen gebundenen Ruten. Es ist ein schaurig-schönes Spiel, das die, die es seit Kindertagen kennen, mehr amüsiert als erschüttert – das aber diejenigen, die es das erste Mal erleben, wie in dieser Szene im Film Joy und Precious, massiv verstören muss. Mit ihren Augen nun sehen wir diesen Brauch als das, was er ist: vormodern, anachronistisch, gewalttätig.
Am Anfang des Films, in Nigeria, hatte Joy bei einem „Juju“-Ritual noch geschworen, ihre Landsleute, die sie in die Prostitution trieben, niemals zu verraten – eine Art von Parallelsetzung dieser Szenen findet hier nun statt: Auch die österreichischen Perchtenfiguren sind Boten eines Aberglaubens, der gesellschaftliche Hierarchien abbildet und mitunter stärkt. Ein Ausbrechen aus denselben wird durch Einschüchterung womöglich unterbunden. Ein wenig ist man an dieser Stelle vielleicht an die Mockumentary Das Fest des Huhnes von Walter Wippersberg aus dem Jahr 1992 erinnert, auch wenn die Krampusse bei Sudabeh Mortezai weniger komisch sind als vielmehr bedrohlich.
In den Salzburger Bergen aufgewachsen, habe ich persönlich die Krampusse bei ihrem Umzug im Dezember immer als aufregend und unterhaltsam empfunden. Erst beim Studium in Berlin habe ich als junge Frau festgestellt, dass es sich bei diesem Brauch – auch wenn sich die „Wilden Männer“ des Karnevals und der Fasnacht in unterschiedlichen Ausprägungen in vielen Kulturen finden – um ein ziemlich regionales Phänomen handelt. Nur durch die Lektüre von Michail Bachtins kulturtheoretischen Schriften über „Literatur und Karneval“ war ihnen dann beizukommen und ihr teuflischer Zauber für immer gebannt.
© Spector Books, Leipzig 2022
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