„Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich meine Kindheit überlebt habe“

Swetlana Alexijewitsch über ihre frühen Jahre in der Ukraine, den Krieg und die Mentalität in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Ein Gespräch am Rande der Literaturtage Lana. Von Cornelius Hell

Online seit: 30. Mai 2024
Swetlana Alexijewitsch © Alexander Wienerberger
Charkiw, 1933: Ukrainische Bauern verhungern während des Holodomor auf den Straßen. Foto: Alexander Wienerberger

CORNELIUS HELL Sie sind in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine geboren – wie hat diese Welt ausgesehen, was sind Ihre ersten Erinnerungen?

SWETLANA ALEXIJEWITSCH Ja, ich bin in Iwano-Frankiwsk zur Welt gekommen, denn mein Vater war Techniker auf einer Militär-Basis. Meine Mutter war Ukrainerin, aber aus einer anderen Gegend. Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich meine Kindheit überlebt habe. Ich war sehr schwach, hatte Rachitis und war dem Tod nahe. Die einheimische Bevölkerung stand uns abweisend gegenüber, sie hassten alles, was mit der Sowjetunion zusammenhing. Man konnte keine Nahrungsmittel bekommen, weil die Menschen sie einem sowjetischen Offizier nicht verkaufen wollten. Als mein Vater nicht wusste, wie er mich retten sollte, ging er zu einem Frauenkloster in der Nähe und sagte zur Äbtissin: „Sie sind ein gläubiger Mensch, mein Kind wird sterben, bitte helfen Sie uns!“ Die Äbtissin dachte lange nach und sagte: „Sie kommen besser nicht mehr hierher, aber richten Sie Ihrer Frau aus, dass sie jeden Tag zu einer bestimmten Zeit an das Tor kommen kann, dann bekommt sie einen halben Liter Ziegenmilch.“ So wurde ich gerettet. Als ich drei Jahre alt war,