Man muss auch let go!

Von Sabine Scholl. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 73

Online seit: 8. Juli 2022

Iiiich hab Hitler persönlich gesehen, die Frau im Video tippt siebzig Jahre danach mit dem Zeigefinger wiederholt auf ihre grüne Brust, streckt danach den rechten Arm: So! In der Bismarckstraße habe ich ihn gesehen, wir haben aus dem Fenster geschaut, das Auto ist eingebogen, sie bildet die Kurve mit ihrem Arm nach, von der Landstraße. Wo er dann hingefahren ist, weiß ich nicht, wirft beide Oberarme hoch. Ich hab gesehen, sie blickt nach unten, hält sich mit den Fingern am Kinn fest, schnieft, nachdenklich, die Stimme kippt fast, das war sehr nationalsozialistisch, Linz, special.

Sabine Scholl © Uta Tochtermann
Sabine Scholl.
Foto: Uta Tochtermann

Weil es keine Verbindung gegeben hatte zwischen dem Wissen um die Verfolgung von jüdischen Menschen und Orten, die mir als Kind vertraut waren, weil die Auslöschung also gelungen war, tippte ich „Jüdisches Leben Linz“ in die Suchmaschine und stieß auf Stücke der Biographie eines Mädchens samt Fotos und Videos. Ich nannte es Lotte. Mein Vater war im Jahr des „Anschlusses“ Österreichs ans Deutsche Reich zwei Jahre alt, meine Mutter ein Jahr darauf geboren. Mit der Waldheim-Affäre begannen in Wien, wo ich studierte, die Fragen. Als ein Professor wissen wollte, wie sich meine Eltern zum Nationalsozialismus verhalten hätten, begann ich zu stottern. Bislang hatte ich vermieden über meine Herkunft zu erzählen, die mir inmitten von bürgerlichen Kommilitoninnen beschämend vorkam. Ich sollte bekennen, von Landarbeitern abzustammen. Der Verweis auf meine Eltern, deren Leben mit dem Krieg gerade erst begonnen hatte, nützte mir nichts. Was war mit deinen Großeltern, lautete die nächste Frage. Ich druckste herum. Die Verbrechen hatten weit entfernt vom Dorf stattgefunden, meinte ich.

Auf dem Bildschirm bildet die Frau in Grün mit zwei aneinandergelegten Handoberflächen eine Wand, oben waren die Wohnräume, dieser Doktor, sie klopft mit dem Finger auf die Stuhllehne, der mein Kinderarzt war, immer wenn sie den Namen Hitler ausspricht, streckt sie ihren rechten Arm. Für die Szene von Lottes Vertreibung aus Linz stelle ich mir ein Kaffeehaus in der Nähe des Linzer Hauptplatzes vor, mit Eckbänken aus Plüsch, wo man geschützt sitzt und dennoch die Eingangstür im Blick hat, durch die Jugendliche hereindrangen, um jüdische Gäste zu verjagen. Ich wähle die Perspektive eines Kindes, das ich nicht kannte. Diese Szene hat die Frau, die ich am Bildschirm beobachtete, nie erzählt.
Doch sie berichtet vom Kommentar des Vaters zum Einmarsch, imitiert seine Bewegung, er kreuzt die Finger, sie führt die Hände nach unten, so hat er gemacht und gesagt, das ist unser Ende. Fast lächelt sie dabei, in Erinnerung an den Papa, den sie liebte. So, diese Bewegung, wiederholt sie, na, ich übertreib nicht. Dann gequält, der Schmerz steckt hinter ihrem Lächeln, sie verwandelt sich in das Mädchen, das sie war, streckt den Zeigefinger aus, spricht mit ungläubig kleiner Stimme, der Kinderarzt, der Arzt, dieser Arzt, der mich so oft behandelt hat, und jetzt trägt er die Armbinde, greift sich an den linken Oberarm, mit dem Hakenkreuz, hier, nie hätte ich das geglaubt, das schreckliche Staunen, ein Illegaler war er, etwas erleichterter nun der Ton, ja. Und hat die Uniform anscheinend schon zuhause gehabt, wenn er sie von heut auf morgen angezogen hat. Hält sich wieder die Hand ans Kinn, streicht mit einem Finger unter ihrer Nase auf und ab, atmet heftig aus, schaut schräg nach unten, dort ist sie die Erinnerung, schließlich meint sie, entlastend: Fescher Mann war er, wie ein Schauspieler hat er ausgeschaut.

Die Frau in Grün erinnert sich mit ihrem Körper. Führt eine Hand an ihren Hinterkopf, als sie vom schwarzen Haar des Dienstmädchens spricht, das diese aufgesteckt trug, dreht ihre Hand, als sie erzählt, dass das Mädchen später heimlich durch den Hintereingang schlich, um Essen zu bringen: Wir waren gut zu ihr, sie hat ihr eigenes Zimmer gehabt. Sie streift dabei den Ring vom Finger und steckt ihn wieder auf. Interessierte aus Linz hatten die aus ihrer Stadt Verjagte in Jerusalem besucht, Gespräche mit ihr geführt, sie gefilmt, die Filme ins Netz gestellt. Die Gefilmte richtet ihren Blick nach oben. Ich war die einzige, einzige Jüdin in der Klasse. Und ich hab schlecht gelernt. Sie hält ihre Hände nebeneinander vor ihren Körper, in Brusthöhe wie ein Kind, wenn es vorm Lehrer steht, Handflächen nach unten. Als sie schlecht gelernt ausspricht, klatscht sie sich mit der einen Hand auf die andere, wie der Lehrer es tat, um sie dafür zu bestrafen. Er hat mir mit dem Rohrstock hier gegeben. Und schlägt sich neuerlich auf die Finger. Der Rabbiner, der nach England geflüchtet ist, war streng. Die Frau in Grün spricht vom Anschlag auf die Synagoge. Die Szene von dem Hebräisch imitierenden Marodeur, die ich im Roman beschreibe, stammt nicht von ihr, sondern aus den Erinnerungen eines jüdischen Linzers an die Nacht des Pogroms, die er in den 1970er-Jahren aufgeschrieben und veröffentlicht hat. Bis dahin hatte es in Selbsterzählungen Oberösterreichs meist geheißen, dass Jüdinnen und Juden nur in Wien malträtiert wurden. Die grüngekleidete Frau belehrt mich eines Besseren. Das war furchtbar, das ist ein Trauma, das ist für immer, hält sich das Kinn, als sie vom Feuer spricht. Diese Flammen, wie die herübergezüngelt sind, wellenartige Bewegungen mit den Händen in Richtung ihres Gesichts, um Gotteswillen, wir verbrennen, ihre Stimme hebt sich. Wieder die Hand als Wand, um eine geringe Entfernung anzuzeigen, die die Wohnung des Rabbiners von der Synagoge trennte. Die Bücher alle am Boden, eine leichte Bewegung, die ein Werfen andeutet, das hab ich alles gesehen. Das ist mir noch so lebhaft vor Augen. Sie nickt heftig.
Die Mama musste zur Toilette und im Stiegenhaus ein SS-Mann, setzte ihr den Revolver an, der Zeigefinger der Erzählenden geht zur Stelle am Hals, schräg hinter dem linken Ohr. Wir sind zurück in den Salon, die Durchsuchung, da hat man sitzen müssen, die Betten, eine Drehbewegung der Hand, man ahnt Matratzen, die umgedreht werden, um nach Wertsachen zu suchen. Schließlich greifen die Finger ihrer beiden Hände ineinander, halten sich fest, und dann der SS-Mann, ein ehemaliger Kunde, weist seinen Kollegen zurecht: „Geh, lass die Sara in Rua“, sie streckt den Arm von sich, abweisende Bewegung mit der flachen Hand. Ihr Mann sitzt eh schon im Lager. Unvergesslich, schüttelt den Kopf. Meine Mutti, ja, war die Sara. Julia hat sie geheißen.

Die alte Frau entsinnt sich ihrer Rolle am Landestheater, wo sie als Mädchen getanzt hatte und singt: Heinerle Heinerle i hob ka Göd. Muata i möchte jetzt zum Kasperl laufen. Jahrzehnte später kann sie den Text noch auswendig. Immer wieder bringt sie eine Zeile aus ihrem Gedächtnis hervor. Wenn sie vom Bettvorleger spricht, zeichnet sie diesen mit Gesten in die Luft. Ich habe viele Freundinnen gehabt, sagt sie, und greift nach dem grünen Stein an ihrer Kette. Die Jade, eine Erinnerung an Shanghai? Sie ballt die Fäuste, bringt sie nahe vors Kinn und schüttelt sie leicht: Da haben wir Zuflucht gefunden, bei dieser Tante. Und die konnte nicht lockerlassen von ihrer eleganten Wohnung. Sie zieht die Schultern hoch, den Kopf ein, Schutzgebärde, das Bedürfnis der Tante nach Stagnation, die Fäuste verwandeln sich in zwei flache Hände, parallel gehalten, ein Weg tut sich auf, ein Tunnel, also ist sie in den Ofen marschiert, beim Wort Ofen geht die Stimme sehr hoch. Wir haben alles stehen lassen, haben wir uns gerettet. Ja? Man muss auch let go. Ihre Fäuste schließen und öffnen sich schnell.

Vielleicht für die Ausreise nach Shanghai aufgenommen, fand ich auf der Webseite ein Passfoto von Lottes Vater. Ohne Zuversicht ist in seinen Augen alles enthalten, was er an Demütigungen im Lager ertragen haben musste. Für das Foto versucht er, die Lippen an den Winkeln hochzuziehen, ein Lächeln zu imitieren, das dadurch nur vergeblicher wird. Die Aufnahme ist verblichen, bräunlich, fleckig, auf die Fläche seines weißen Oberhemdes ist in Großbuchstaben mit roter Tinte geschrieben: DIED 1-9-42.

In der Ausstellung über jüdisches Exil in Shanghai fotografiere ich das Zweite Klasse Ticket für eine Überfahrt auf einem Schiff des Lloyd Triestino. Es kostete für zwei Erwachsene und zwei Kinder über 10 Jahre insgesamt 250,- Pfund. 10 Prozent Familienrabatt. Dazu wurden rund 3000,- Reichsmark zu einem Kurs von 12,- umgerechnet. Am 28. März 1939 wurde das Ticket ausgestellt. Das Schiff verließ den Hafen am 12. April 1939 um 1 Uhr nachmittags. Ein paar Monate darauf wurde meine Mutter geboren.

Lotte kann sich auch als alte Frau an viele Einzelheiten erinnern: In Shanghai war die japanische Besatzung, sie haben ohne Visum, die Handflächen dem Körper zugewandt, die Finger machen einladende Bewegungen, die Leute einreisen lassen. Vier Wochen auf dem Meer, sogar die Stationen des Schiffes kennt sie noch, zählt sie auf. Und es war schon kein Platz mehr und da hat sie sich niedergekniet die Mutti, der Zeigefinger richtet sich auf einen imaginären knienden Körper, etwa zwei Meter von dem Kind, das Lotte damals war, entfernt. Und hat seine Knie umfasst, sie macht einen sehr großen Bogen mit beiden Armen. Wir haben bekommen die letzten zwei Sitze in der ökonomischen Klasse. Außerhalb des Bildausschnittes des Videos ist ein nie endendes, zustimmendes hm hm hm der Interviewerin zu hören, das den Fluss des Erzählens mit in Gang hält.

Ich füge Rudolf in die Erzählung, einen jugendlichen Freund Lottes. Von ihm hatte ich das erste Mal über jüdisches Exil in Shanghai erfahren. Meine Beschreibungen des halbwüchsigen begabten Sportlers, der mit seiner Mutter nach Shanghai geflüchtet war, bringen einen unechten Rudolf hervor, weil ich den wirklichen nur als alten Menschen kannte. Den gütigen, lustigen, coolen, amerikanischen Rudolf in kurzärmeligen, karierten Hemden mit Hosenträgern, unseren Dozenten an der Universität. Wir haben ihn bewundert. Wegen seiner Boxkünste war er aus Shanghai nach Kriegsende auf ein gutes College in die USA gelangt, studierte Philosophie, erlangte eine Professur und kehrte irgendwann nach Wien zurück. Ich legte eines meiner Rigorosen bei ihm ab.

In der Ausstellung fotografiere ich ein A4-Blatt, maschinenbeschrieben. Auswandernde mussten an die Devisenstelle im ersten Bezirk in Wien eine Aufstellung der Dinge schicken, die sich in ihren Koffern befanden. Es ging um die „Ausfuhr von Gegenständen“ kann ich dem Stempel entnehmen, der rechts unten prangt. Mit Unterschrift. Es musste gemeldet werden, wenn man statt eines Pelzes lieber drei neue Hemden mitnehmen wollte. Es musste angegeben werden, wie alt das Kleidungsstück aus dem Besitz des Auswandernden zum Zeitpunkt der Ausreise war, als wären das Werte, die dem Deutschen Reich verlorengingen, Werte, die gestohlen wurden, obwohl doch rechtmäßig erworben. Der Kauf eines Hemdes wurde für die Ausgesonderten mit einem Mal zur staatsfeindlichen Handlung. Die Liste der für das Reisegepäck zugestandenen Dinge eines männlichen Auswanderers enthielt Folgendes: 1 Aktentasche, 2 Koffer, 1 Pappendeckel Hutschachtel, 5 Anzüge alt, 2 Überröcke alt, der Pelz wurde gestrichen, 10 Hemden alt, plus 3 neue. 8 Unterhosen alt, 12 Paar Strümpfe alt, dazu 6 Paar neue, 15 Taschentücher alt, 1 Morgenrock alt, 3 Pyjamas alt, 10 Krawatten alt, 2 Hosen alt, 1 Sommerhose und eine Lederhose alt, 1 Rasierzeug alt, 3 Handtücher alt, 1 Pullover alt, 5 Paar Schuhe alt, 1 paar Hausschuhe alt, 2 Hüte alt.

Mit meiner Tochter durchsuche ich die Räume des Wiener Jüdischen Museums, wir tragen Masken über Nase und Mund. Eigentlich sollten wir uns jetzt in Shanghai befinden. Aber das Virus machte einen Aufenthalt unmöglich. Wir können nicht reisen. Meine Tochter hätte dort studiert, ich hätte sie besucht. Obwohl ich weiß, dass es kaum mehr Spuren des jüdischen Exils gibt. Trotzdem hätte ich nachgeforscht, wäre mit meiner Tochter durch die Märkte gestreift. Wegen des Virus befinden wir uns weiterhin in Wien. Betrachten Lebensreste von jüdischen Menschen, die in Wien nicht bleiben durften. Sie mussten nach Shanghai. Wie immer sprechen mich vor allem die originalen Dokumente an, weniger die Kopien. Kopien sind bloße Information. Echte Schriftstücke haben Flecken und unregelmäßige Schriftzeichen, sie machen den Zeitraum deutlich, der zwischen damals und heute liegt. Auf die Überseekiste ist die ehemalige Wiener Adresse der geflüchteten Familie in weißen Buchstaben gemalt. Ich betrachte das blaue Jäckchen eines geflüchteten jüdischen Kindes. Dieses Stück Baumwollstoff in der Farbe des Himmels hat Jahrzehnte überdauert; wahrscheinlich sogar den Körper des Menschen, der es trug. Ich fotografiere die Stickerei auf einem Tischtuch. Ein sehr dünner, fast durchsichtiger naturfarbener Baumwollstoff. Mit Kreuzstich wurde eine Tempelanlage mit Pagoden, Wasserwegen, Bäumen und Wolken gestickt, über allem drei chinesische Schriftzeichen. Wie sehr ich es auch gehasst habe, in Handarbeiten unterrichtet zu werden, so habe ich doch gelernt, wieviel Anstrengung und Schweiß diese Tätigkeit bedeutet, und dass es beim Gelingen darauf ankommt, all die Mühen ungesehen zu machen. Fast wie beim Schreiben. Es müssen alle Fäden in gleichem Maß festgezurrt werden, damit der Stoff sich nicht wellt oder spannt, alle Stränge sorgfältig vernäht. Nichts darf abstehen. In der Aufregung im Museum stelle ich mich ungeschickt an, so dass die Schatten meiner Finger, die das Handy halten, auf den Stoff fallen. Eine Annäherung?

Den reich bestickten japanischen Wandbehang im Museum will ich nicht sehen, obwohl ich, als ich in Japan lebte, nicht genug bekommen konnte von Textilien. Über die Brutalität der Japaner muss mir keiner was erzählen. Ich habe viel darüber gelesen, aus Erinnerungen von Menschen aus Ländern erfahren, die kolonisiert wurden, von sinnlosen Bauprojekten, die nur dazu dienten, Menschen zu vernichten. Selten habe ich von Japanern selbst darüber gehört. Sie befinden sich immer noch im Zustand, in dem sich Deutsche und Österreicher in den 1950er Jahren befanden. Keiner weiß was vom Krieg, außer dass es Helden gab, und die erbarmungswürdigsten Opfer waren allemal die aufgrund von amerikanischen Atombomben Umgekommenen. Mir wird heiß unter der Maske, mit der ich mich und andere Anwesende schützen sollte. Vor Ansteckung.

Noch während ich in den USA lebte, hörte ich während eines Besuchs in Wien ein Gespräch zwischen Amerikanern beim Heurigen. Ich wollte meinen Sohn, damals ein Baby, in einem leeren Nebenraum in den Schlaf wiegen. Später bemerkte ich, dass einer aus der Gruppe Rudolf war, der hier gar nicht mehr souverän wirkte. Er beklagte sich, dass Wien voller Nazis wäre, dass sich nichts geändert hätte. Es klang verbittert. Als Professor war er immer offen gewesen, gut gelaunt, der tolle Typ, mit allen Wassern gewaschen. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Kränkung, damals geächtet und vertrieben worden zu sein, für immer andauert.

Am Bildschirm beobachte ich die Frau in Grün, hinter ihr Zimmerpflanzen. Sie lächelt. 2007 lautet das Insert. Ich sammle Stücke ihrer Biographie und fülle die Lücken mit weiteren Recherchen auf, obwohl ich nicht dabei war, als sie aus ihrem Gedächtnis Reste hervorholte, kleine Blitze, Gefühle, die sich zu Bildern formen. Sie wurde weit entfernt von Linz alt. Auf der Webseite ist das Foto der beiden vor der Grabstelle stehenden Frauen zu sehen: Wie klein die Fläche in der Fremde ist, die ihrem geliebten Toten zugedacht wird. Die Aufnahme wurde aus einem Album mit schwarzen Kartonseiten herausgerissen, Klebeflächen sind an der Rückseite weiter sichtbar. Ein paar Zeilen darauf gekritzelt: Was sagt ihr meine Teuren, wie schlecht wir beide da aussehen. Welche Kränkung, dass wir unseren guten Papi verloren haben. Dann ein langer schwarzer Strich, eine Abgrenzung. Darunter: Es war im Album schon. Grabstätte meines Edi’s 1942. Shanghai. Und in der linken unteren Ecke: Aufgeschrieben März 1943. Das Durcheinander an Inschriften zeigt die Verstörung der Frauen.

Viele Jahre nach der Waldheim-Affäre traf ich in Chicago einen als Jugendlichen von Nazis Vertriebenen, nun in den USA lebenden Autor. Ich stellte mich vor, erzählte, dass ich nicht immer in Metropolen gelebt hatte, sondern auf dem Land aufgewachsen war, unter Bauern in Österreich. Smalltalk. Wütend entgegnete er, dass es mir nichts nützen würde, mich als harmloses Zopfmädchen im Dirndlkleid vorzustellen. Er hätte diese Unschuldsmasche so satt. Dem wütenden Überlebenden in Chicago konnte ich damals nichts erwidern. Ich tue es nun. Auch wenn ich Luft für ihn bin. Oder noch schlimmer. Die jüdische Linzerin lebt nicht mehr. Aber ihr Zeugnis ist erhalten.

Aus unveröffentlichten Fußnoten zum Roman „Die im Schatten, die im Licht“, weissbooks Berlin 2022

* * *

Sabine Scholl studierte Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften, lebte und lehrte in Portugal, den USA, Japan, Wien und Berlin. Ihre Essays erscheinen auf ZeitOnline und im Standard. Sie ist Mitglied in Jurys, schreibt Rezensionen, lehrt Literarisches Schreiben. Zuletzt publizierte sie den Essayband Lebendiges Erinnern – Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird 2021 im Sonderzahl-Verlag, Wien, sowie den Roman Die im Schatten, die im Licht (2022, weissbooks-Verlag, Berlin).

* * *

„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.