Flaubert ist der Chef

Lektürenotizen von Stefan Kutzenberger

Online seit: 19. August 2023

Verena Rossbacher:
Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
Seitdem ich Schriftsteller spiele, darf ich immer wieder echte Schriftstellerinnen und Schriftsteller kennenlernen. Das ist der Vorteil. Der Nachteil ist, dass ich von diesen nie etwas gelesen habe, weil ich dem durch nichts begründeten Vorurteil nachhänge, dass die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eher mühsam ist. Jetzt habe ich Verena Rossbacher auf einer Lesung kennengelernt und wir haben vereinbart, uns gegenseitig zu lesen. Also las ich ihren mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichneten Roman, fuhr dafür gleich auf Kur, um dann dort, umgeben von im Februarwind rauschenden Fichten, dieses großartige und fünfhundert Seiten starke Buch in nur drei Tagen zu verschlingen. Vorurteile sind dann eben doch verfrühte Urteile, denn wenn die deutschsprachige Literatur so klingt, dann klingt sie absolut überzeugend: Frech, rotzig und sehr clever. Und lustig und ausgelassen und traurig und melancholisch. Mit einem Leberwickel in meinem Kurheimbett liegend, berührte mich das Buch so sehr, dass ich fast durchwegs gegen die Tränen der Rührung ankämpfte. Ob das aber reicht, um mein Vorurteil nachhaltig zu verschieben, wird die weitere Lektüreliste des Frühjahrs weisen.

Daniela Dröscher:
Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft
Siehe da, auch das nächste Buch ist deutschsprachig. Ein deutsches deutschsprachiges Buch, empfohlen von einer Kollegin nach einer Lesung in München. Dass die österreichische Literatur gut ist, ist eh klar (siehe die Literaturgeschichte und oben). Bei Daniela Dröscher klingt es schon eher wie befürchtet, dann aber doch nicht. Hinter der autofiktionalen sozialen Studie der Herkunft der Schriftstellerin summt deutlich eine Grundironie durch, die sich auch formal durch ein fröhliches Schriftbild ausdrückt, in dem in verschiedenen Typographien Kalendersprüche der Autorin mit klugen Sätzen französischer Poststrukturalisten und Poststrukturalistinnen abwechseln. Ich habe viel über das Aufwachsen in der deutschen Provinz gelernt, und es ist immer schön, über den Weg in die Literatur und das Werden einer Schriftstellerin zu lesen.

Mercè Rodoreda:
Auf der Plaça del Diamant
Die Frühjahrslesetour beginnt. Sie wird mich von Barcelona über Kopenhagen und Istanbul bis nach Tunis führen. Eigentlich unglaublich. Dankbar, demütig und unbescheiden zugleich nehme ich es an. Auf der Plaça del Diamant gilt als einer der wichtigsten katalanischen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts und spielt im Stadtviertel Grácia, wo auch mein Zimmer ist. Auf dem namensgebenden Platz steht eine Statue von Colmena, der Protagonistin des Romans. Es ist immer schön, wenn die Literatur der Wirklichkeit ihre Spuren aufdrängt. Colmena verliert im Spanischen Bürgerkrieg ihren Mann und muss nun irgendwie die kleinen Kinder über die Runden bringen. Ein kriegsversehrter Kaufmann bietet ihr Arbeit und schließlich die Ehe an. Er ist ein großzügiger Partner und auch Stiefvater, doch Colmena bleibt distanziert. Am Schluss des Romans liegt sie aber neben ihm und denkt: „Ich möchte nicht, dass er mir stirbt.“ Es ist dies eine der berührendsten Liebesbekundungen der Weltliteratur.

Ulrich Becher:
Das Profil
Dieses Buch habe ich nach einer Lesung in Wien vom Veranstalter mit einer dringenden Lektüreempfehlung geschenkt bekommen und im März in Kopenhagen gelesen. (Lektürenotizen ergeben nur in Kombination mit Ort und Zeit einen Sinn. Wir wissen, dass die Rezeption an einem anderen Ort, in einer anderen Situation, völlig unterschiedlich verlaufen wäre). Ulrich Becher war mir bisher unbekannt, aber ich gelobe Besserung, nicht nur die deutschsprachige Literatur betreffend, sondern überhaupt. Becher ist als supranationaler deutsch-österreichisch-schweizerischer Schriftsteller besonders geeignet, Vorurteile abzubauen. Und Das Profil ist so wild und gefährlich, wie es Romane sein sollten und wie sie es in den Anfängen der Gattung auch waren, mit anarchischen Werken wie Gargantua und Pantagruel oder auch dem Quijote, nur um dann vom Bürgertum domestiziert worden zu sein. Umso wichtiger, wenn da einer wie Becher kommt und berichtet, wie der amerikanische Journalist Dennis P. Howndren den deutschen Exilmaler Altdorfer in dessen Haus auf Long Island interviewt, was schließlich nackt, besoffen und ungehemmt in einem entfesselten Hurrikan endet.

Orhan Pamuk:
Istanbul
Vor über einem Jahrzehnt war ich in Delhi und habe dort in einer Buchhandlung Pamuks Museum of Innocence gefunden. Diese große, unvollendete Liebesgeschichte hat mich an die eigene unerfüllt gebliebene Liebe der Adoleszenz erinnert und deshalb auch begeistert. Orhan Pamuk beginnt seinen Roman Museum der Unschuld mit dem schönen, jedoch unsinnigen Satz: „Es war der glücklichste Augenblick meines Lebens, und ich wusste es nicht einmal.“ Denn wie sollte man es auch wissen? Solange das Leben auch nur einen Atemzug länger dauert, könnte der glücklichste Augenblick noch in der Zukunft liegen. Ich hoffte zumindest sehr, dass ich meinen noch nicht erlebt hatte. Im Roman ist Kemal unglücklich in Füsun verliebt, und immer, wenn er sie besucht, lässt er kleine, wertlose Gegenstände mitgehen, sodass er nach und nach in einem ihr gewidmeten Museum lebt, im Museum der Unschuld. Mit dem Nobelpreisgeld hat Pamuk dieses Museum Realität werden lassen, und als ich nun in Istanbul war, habe ich es besucht. Alle im Roman beschriebenen Gegenstände sind dort sorgfältig präsentiert, inklusive der 4.231 Zigarettenstummel mit Lippenstiftspuren, jeder einzelne beschriftet, wann und wo er von Füsun geraucht worden war (mit Zigaretten ist es anscheinend ähnlich wie mit Büchern, das Wo und Wann entscheidet darüber, wie gut sie sind). Pamuks Museum der Unschuld (das Haus) ist eines der liebevollsten und schönsten Museen überhaupt und eines der beeindruckendsten Beispiele, wie Literatur den Sprung in die reale Welt schaffen kann. Im Shop kaufte ich Pamuks autofiktionale Geschichte seiner Stadt Istanbul, das ähnlich melancholisch auf eine untergegangene Epoche blickt wie Stefan Zweigs Welt von Gestern.

Glauco Cambon: Salammbo
Bunt, opulent und übertrieben: Gustave Flauberts Salambo – hier imaginiert von Glauco Cambon 1906.

Gustave Flaubert:
Salambo
Karthago, die Phönizier, die Punischen Kriege, das alles habe ich in der Schule gelernt, viel mehr als diese exotisch klingenden Namen war allerdings nicht mehr übrig. Geschichte schafft es leider nie, in meinem Gedächtnis zu bleiben. Da hielt die S-Bahn, die von Tunis ans Meer ging, in der Station Salambo. Das war etwas anderes, das war nicht Geschichte, das war Literatur! Salambo, der zweite Roman von Gustave Flaubert, benannt nach der fiktiven Tochter von Hamilkar Barkas, einem karthagischen Staatsmann und Feldherren. Dieser Stadtteil hier war also nach einer Romanfigur benannt! Wie immer erfasste mich ein Schauer, wenn Fiktion den Sprung in die Realität schafft. Der englische Romantiker Samuel Taylor Coleridge drückt das in einem Gedankenexperiment aus: „Was, wenn du im Traum zum Himmel stiegest und dort eine seltsame und wunderschöne Blume pflücktest? Und was, wenn du erwachtest und die Blume in deiner Hand hieltest? Was dann?“ Ja, was dann? Und was, wenn du eine Romanfigur Salambo nennst und dann mit dem Zug fährst und dieser hält in einer Station, die nach ebendieser benannt wurde? Was dann? Ist dann die Literatur stärker als die sogenannte Realität? Ich glaube schon, ich glaube, dass dem so ist, dass unsere Realität nur eine oberflächliche Version der Möglichkeiten der Literatur ist. Auch wenn ich in der Literaturgeschichte auch nicht viel bewanderter bin als in der Weltgeschichte. Von Flaubert habe ich im richtigen Moment drei Romane gelesen: Bouvard und Pécuchet in einer Zeit, als ich mit meinem Schulfreund Wolfi zusammenlebte, wir einen Kulturverein zur Überwindung der Postmoderne gegründet hatten (und gewannen, denn wo ist die Postmoderne jetzt?) und wie die beiden Helden in Flauberts letztem Werk die Welt erklären wollten. Ein wilder und gefährlicher Roman, einer der größten wahrscheinlich. Und dann Madame Bovary, als Geschenk von meiner Freundin, die kurz davor meine Exfreundin geworden war. Was wollte sie mir damit sagen? Wahrscheinlich nur, dass es peinlich war, dass ich solche Monumente der Weltliteratur noch nicht gelesen hatte, sodass ich gleich darauf die Lehrjahre des Gefühls nachlegte, wie das Museum der Unschuld ein Buch der hoffnungslosen Liebe und damit der Roman meiner Jugend. Und jetzt empfahl mir eine S-Bahn-Station den sofortigen Kauf von Salambo. Die nächsten Tage las ich es wie hypnotisiert und es zeigte sich wieder: Flaubert ist der Chef. Ganz anders als seine anderen Romane, aber wieder auf gewisse Art perfekt (was ein Roman eigentlich nie sein kann, gerade ein guter nicht. In der Literatur geht es um das Hinabspähen in den Abgrund, um das Herantasten an das Unsagbare, um das Überschreiten von Grenzen. Dabei muss man unweigerlich straucheln. Perfektion strauchelt nicht, denn sie ist das Gegenteil von Überschreitung, sie ist Vollendung und damit gesetzte Langeweile). Wie Flaubert hier allerdings Geschichte, Kriege, Religion, Leidenschaft, Verblendung, Lust und Laster zusammenführt ist schlicht makellos, und gleichzeitig bunt, opulent und übertrieben wie ein Abenteuer von Asterix und Obelix – und genauso wild und gefährlich.

Leïla Slimani
Der Duft der Blumen der Nacht
Dieser schmale Band wurde mir innerhalb einer Woche zwei Mal ans Herz gelegt, sodass ich ihn gekauft habe. Die Autorin berichtet von einer Nacht, die sie als literarisches Projekt allein im Museum Punta della Dogana in Venedig verbringt. Dabei assoziiert sie vor sich hin, über ihr Leben, ihre Herkunft, ihre Bücher, ihre Beziehung zur Kunst. Man erfährt über ihr Aufwachsen in Marokko, über ihren Neubeginn als Schriftstellerin in Paris, über ihr Schreiben am neuen Roman in der kleinen Wohnung, die sie sich als Büro angemietet hat. All das ist aber weder wild noch gefährlich, sondern eher brav und pflichtbewusst aneinandergereiht. Und sie gesteht ja selbst, dass sie eigentlich keine Zeit für dieses Zwischenbuch hat, dass sie in Ruhe an ihrem Roman schreiben möchte, von der Lektorin aber dazu gedrängt worden ist. Zu Recht, aus Verlagsperspektive betrachtet, denn der Figaro befand: „Genial und berührend. Ein Meisterwerk“. Genial ist auch ein Rennpferd, monierte Musil im Mann ohne Eigenschaften. Ich habe Der Duft der Blumen der Nacht gern und schnell gelesen, aber da war mehr drin. Und gar so gänzlich ohne Witz und Ironie, wie es Leïla Slimani in diesem Büchlein tut, sollte man doch nicht auf sein Leben blicken, wo bleibt denn da die Sprungkraft, für die wir schließlich die Literatur haben? Nur durch die Verschiebung des Blickwinkels, garniert mit dem Wissen, dass alles auch anders sein könnte, haben wir dank der Literatur die Fähigkeit, unserem Dasein die schmerzhafteste Spitze zu nehmen. Vielleicht bin ich aber auch nur eifersüchtig, dass sie das Buch geschrieben hat, das ich mir, in meiner Zeit als Halbtagsbibliothekar im Leopold Museum, vorgenommen hatte zu schreiben.

 

Stefan Kutzenberger, geboren 1971 in Linz, lebt als Schriftsteller, Literaturwissen­schaftler und Kurator in Wien. Zuletzt er­schien von ihm der Roman Kilometer Null (Berlin Verlag, 2022).