Ein Säulenheiliger der Unsicheren

Warum Cervantes’ Don Quijote gerade heute ein weiser Ratgeber ist. Von Stefan Kutzenberger

Online seit: 12. September 2023
Gustave Doré – Miguel de Cervantes: Don Quixote
Bedrängt von erlesenen Figuren: Don Quijote. Illustration von Gustave Doré.

In einer Zeit, in der in Europa Krieg herrscht und man nicht entscheiden kann, ob Waffenlieferungen gut oder böse sind, in einer Zeit, in der eine Pandemie wütet und man darüber streitet, ob Impfungen wirksam oder gefährlich sind, in einer Zeit, in der man nicht mehr erkennt, ob ein Text von einem Menschen oder von einer Maschine geschrieben wurde, in einer solchen Zeit entsteht eine Stimmung, in der es immer schwieriger wird, sich selbst als real zu empfinden. Der einzige Schutzheilige, an den man sich dann wenden kann, ist Don Quijote. Verlässlich wird er uns mit weisem Rat und starkem Arm bedingungslos zur Seite stehen.

Nach der Bibel ist Don Quijote tatsächlich das verbreitetste und meistübersetzte Buch der Welt.

Der Ritter von der traurigen Gestalt ist weltbekannt, doch ist es meist nur sein Bild, das uns geläufig ist, wie zum Beispiel auf dem Heidelberger Maskenumzug, in dem zwei Männer als Don Quijote und Sancho Panza gegangen sind. Es gibt nicht viele literarische Figuren, die man als Faschingsverkleidung wählen könnte: Sherlock Holmes mit Tabakspfeife, Deerstalker-Mütze und Havelock-Mantel, Harry Potter mit runder Brille und blitzförmiger Narbe auf der Stirn kommen in den Sinn, Hamlet wahrscheinlich, wenn man sich schwarz kleidet und einen Totenkopf in die Hand nimmt. Don Quijote erkennt man aber auf jeden Fall. Erstaunlich ist allerdings, dass man schon beim besagten Heidelberger Maskenzug wusste, wen die beiden Verkleideten darstellen wollten. Denn dieser fand 1613 statt, noch zu Lebzeiten von Cervantes, lange vor der ersten deutschen Übersetzung und zwei Jahre vor Erscheinen des zweiten Teils. Und doch waren Don Quijote und Sancho schon damals Figuren, die, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion nach Belieben überschritten. Es war, als hätten sich die beiden Spanier verselbstständigt, als wären sie dem Buch entflohen, kaum dass es mit großem Erfolg erschienen war. Und wenn man es genau nimmt, ist dies ja in der Tat die natürlichste Sache der Welt.

Keinen anderen Helden der Weltliteratur hat man so klar vor Augen wie den hageren Don Quijote, der mit einer Lanze in der Hand auf einem klapprigen Ross begleitet von seinem treuen Knappen Sancho die Weiten des spanischen Hochlands durchzieht. Meist ist es natürlich nicht der tausendseitige Roman, der uns dieses Bild vor Augen führt, sondern eine seiner zahllosen Illustrationen oder Bearbeitungen, sei dies als Kinderbuch, Musical, Graphic Novel oder Zeichentrickserie. Doch das ist schade, denn Don Quijote ist viel mehr als das ewig wiederholte Bild des gegen Windmühlen anreitenden Spaniers, das im Buch in zwei Seiten abgehandelt wird und eine der langweiligsten Episoden ist. Der 1605 von Miguel de Cervantes veröffentlichte Roman (und seine Fortsetzung von 1615) ist ein Meilenstein der Weltliteratur, der in seiner Radikalität und Modernität bis heute seinesgleichen sucht. Im Spanischen Bürgerkrieg erhoben die Republikaner das Buch zur weltlichen Bibel, und nach der Bibel ist Don Quijote tatsächlich das verbreitetste und meistübersetzte Buch der Welt. 2002 wählten es hundert Autoren und Autorinnen in einer Umfrage des Nobelpreisinstituts zum besten Roman aller Zeiten, und der amerikanische Literaturkritiker Lionel Trilling behauptete 1950, dass jede Fiktion nur eine Variation des Themas des Don Quijote sei.

Dieses Thema ist