Porträt eines namenlosen Teufels?

Nein! Gottes? Nein. Eines modernen Demiurgen, der die Bewohner einer kleinen Stadt auf die Probe stellt? 
Ja, womöglich. – Sibylle Lewitscharoff über Alexander Moritz Freys Solneman der Unsichtbare

Online seit: 23. Mai 2021
Alexander Moritz Frey
Alexander Moritz Frey

Vor vielen Jahrzehnten ist mir der sichtbar unsichtbare Solneman in die Hände geraten, und ich konnte die Fingerchen vom Buch nicht lassen, musste es in der Nacht auf einen Happs verputzen. Rein gar nichts wusste ich über Alexander Moritz Frey, ordnete seinen Roman auch zeitlich ganz falsch ein. Ich war nämlich felsen­fest davon überzeugt, er sei in den wilden Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben worden, womöglich schon der Fahne des französischen Surrealismus ein wenig vorauseilend. Das Buch kam mir so modern, keck, probierlustig, hintersinnig und verwegen vor (was es auch tatsächlich ist), dass es mir ganz und gar die Welt der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg zu repräsentieren schien. Und im Grunde dachte ich auch, der Autor müsse heimlicherweise irgendwie Franzose sein, gesegnet mit der Probierlust eines quecksilbrigen Surrealisten knapp vor der eigentlichen Wunderblüte dieser machtvollen Strömung, die den literarischen Betrieb binnen weniger Jahre auf den Kopf stellen sollte.

Wie gesagt: Alles falsch. Was ich allerdings erst Jahrzehnte später erfuhr. Im August 1914 erschien bereits ein Teilabdruck des Solneman in der Neuen Zürcher Zeitung, knapp nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Im Roman droht so manches geheimnisvolle Unheil, aber der Text ist noch in der Frische einer Friedenszeit entstanden, in der sich allerdings das Menetekel einer nahenden Bedrohung bereits abzeichnete. Das zerstörerische Gefahrenpotential der aufgeputschten nationalen Erregungen war eigentlich schon gut erkennbar. Allerdings waren dazu nur auffangsame Gemüter imstande, die vor den emporgereckten Drohfingern zurückschreckten, begleitet vom Gekreisch einer erregten Schlachtrhetorik. Alexander Moritz Frey darf man sich getrost als einen klugen Mann vorstellen, der die bedenklichen Zeichen der erregten Militarisierung erkannte und vor ihnen erschrak. Und so ganz, ganz jung war er zu Beginn des Krieges auch nicht mehr. Er war damals dreiunddreißig Jahre alt.

Als Sanitäter im Ersten Weltkrieg an der Front unterwegs, lernte Frey Adolf Hitler persönlich kennen. Er verachtete ihn und erkannte zugleich seine Gefährlichkeit. 

Doch mit seinem äußerst rätselhaften Solneman und dessen märchenhafter Entourage befinden wir uns noch knapp vor dem Krieg. Da gewittert nichts, da gibt es noch kein Steckenbleiben im Schlamm der ausgehobenen Gräben, und es ist noch kein Kanonendonner zu hören. Gewalt ist allerdings bereits im Spiel, und zwar in rhetorisch aufgetummelter und angestachelter Form.

Hciebel Solneman heißt der Hauptakteur des Romans. Der namenlos Lebende ist ein geheimnisvoller Fremder, der eines Tages in einer deutschen Kleinstadt aufkreuzt und mit seinem märchenhaften Reichtum die Stadtoberen kirre macht, so dass sie ihm den allseits geliebten Stadtpark verkaufen. Die Summe, die der Mann dafür berappt, ist enorm, wie überhaupt alles, was den Fremdling umgibt, irgendwie enorm ist. Zu spät dämmert den Stadtbewohnern, dass sie das Herzstück ihres friedlichen Zusammenlebens, eben jenen schönen Park hergegeben haben, der Erholungszwecken und spielerischem Zeitvertreib gedient hatte.

Sie mopsen sich, werden alsbald fuchtig angesichts des Unheils, das sie sich selbst eingebrockt haben, schieben es jedoch auf den teuflischen Fremden, der mit viel Geld gewedelt und sie damit verlockt hat, das Herzstück der kleinen Stadt zu verkaufen, ohne sich darum zu scheren, ob den Bewohnern noch Zutritt gewährt werden kann. Das geht natürlich nicht. Der gesamte Park ist nunmehr Privateigentum und wird alsbald von einer hohen Mauer umschlossen, die der neue Eigentümer in Windeseile errichten läßt.

Hitler hatte todsicher nicht vergessen, wie genau ihn dieser ehemalige Kamerad als feigen Heulwicht kennengelernt hatte.

Das Ganze ist abgründig und komisch zugleich. Zutiefst komisch ist natürlich, wofür das eingenommene Geld sogleich verwendet wird. Für eine Kaiserbüste etwa. (Bei dem Wort Kaiserbüste hätte mir damals schon dämmern können, dass der Roman vermutlich zu Kaiser-Wilhelms-Zeiten geschrieben worden ist, denn nach Ende des verlorenen Weltkrieges wurden diese Büsten landauf, landab abmontiert und ganz sicher keine neuen aufgestellt. Aber so schlau war ich nun eben nicht.)

Die Stadtbewohner platzen schier vor Neugier. Sie wollen unbedingt in Erfahrung bringen, was in dem Park los ist, denn da werden jede Menge Dinge und offenbar auch Lebendfrachten angeliefert, hinter denen sich die Tore des Parks umgehend schließen. Jede noch so unwahrscheinliche Schwindelblüte besetzt von nun an in immer neuen verrückten Volten die Hirne der Ausgeschlossenen, in denen bald kein Platz mehr für ein abwägend vernünftiges Denken ist. Frey hätte eine lange Liste anlegen können von all den Phantastereien, die da urplötzlich im bisher so ruhigen Städtchen herumzischen. Wo märchenhafter Reichtum im Spiel ist und eine strikte Verborgenheit die Leute daran hindert, diesen in Augenschein zu nehmen und zu bewerten, schießen die Verschwörungstheorien wie blindlings verfeuerte Kugeln durch die Gegend. Und der Hass wächst wie ein böser Bruder an der Seite seiner Zwillingsschwestern Neugier und Habgier. Etliche Versuche werden unternommen, um in das geheimnisvolle Innere des Parks zu gelangen, inbegriffen ein Flugabenteuer, das gehörig schief geht. Anders als es der Leser zunächst erwartet, verhält sich Parkbesitzer Solneman ausgesucht höflich und geleitet die Eindringlinge wieder hinaus, ohne ihnen Schaden zuzufügen. Ein waschechter Teufel kann der sagenhaft reiche Nabob eigentlich nicht sein, er wirkt eher wie ein Kerl ohne soliden Namen, der von hoher, gottgleicher Warte ausgeschickt wurde, die Bewohner einer gleichfalls im Ungefähr der Namenlosigkeit herumtrudelnden Stadt zu prüfen.

Geheimnisse, die der Leser nicht ergründen kann, befördern das Faszinosum des schmucken Romans. Man glaubt zu wissen, wohin die Reise geht, und weiß es wiederum nicht. Das ist auf­regend, hält die Spannung, vermeidet jedoch Exaltationen, die allzu beschwingt auf einem Märchenteppich herumfliegen, über dem sich die Erfindeleien bauschen. Dazu passt, dass die Sprache Freys nüchtern bleibt, aber niemals fad oder gar abgestanden wirkt. Ich hatte nun bereits zum zweiten Mal das Vergnügen, dem verehrten Herrn Frey zu glauben, was er traumtröpfchenweis, aber durchaus faktengefüttert, in mein Hirn hineinerzählt. Da wird ein Potpourri aus Neid, Habsucht, Neugier gepaart mit der Bosheit angerührt, wobei das eigentliche Geheimnis des sonderbaren Parks niemals zur Gänze gelüftet wird. Dazu passt, dass sich der Leser kein wirkliches Bild machen kann, wie der geheimnisvolle Solneman eigentlich aussieht. Wofern er sich in die Stadt begibt, rückt er in Verkleidungen aus, zumeist kunst­bebartet, damit ihn niemand wirklich erkennt und immer wieder ein falscher Mann für Solneman gehalten wird. Das ist spannend, das hat Pfeffer und ist äußerst kunstvoll in Szene gesetzt.

Alexander Moritz Frey war eben auch ein Kind seiner Zeit, nicht frei von düsteren rassistischen Phantasmen, die damals gegen die schwarzen Afrikaner zuhauf im Umlauf waren.

Über einen Aspekt dürfen wir jedoch nicht in nobler Verschwiegenheit hinweggleiten. Durch den Roman geistert als Begleiterin Solnemans eine bärenstarke, dicke, hünenhafte Schwarze, in die Frey so ziemlich alles hineingelegt hat, was der Angst, der Faszination und der Abscheu des weißen Mannes vor der angeblich so überaus triebhaften schwarzen Frau damals entsprach. Vergessen wir nicht: Das war nicht