Schreiben Sie auch ein Corona-Tagebuch?

„Das Problem mit Corona-Tagebüchern und Zoom-Konferenzen ist nicht, dass es sie gibt, das Problem ist, dass einzig und allein, weil es sie gibt, auch Leute Corona-Tagebücher schreiben, die keine Corona-Tagebücher schreiben sollten.“
Von Norbert Gstrein.

Online seit: 2. Juli 2020

I

Vor einem Jahr hätte man darin mit einiger Mühe vielleicht noch ein allzu pessimistisches Sinnbild unserer Gesellschaft sehen können, aber jetzt war es bestenfalls eine missverständliche Anekdote, die nicht mehr recht in die Zeit passte. Ich war im Gebirg’ unterwegs gewesen und, weil ich es nicht anders verstand, so lange gegangen, bis meine Knie versagten, und ich nicht mehr weiterkam, schon über alle Joche hinaus und jenseits der Grenze, als ich diesen merkwürdigen Tausendfüßler entdeckte, eine Karawane von zehn, nein, zwölf Wanderern, die den Weg herunterkam, den ich gerade selbst gegangen war. Sie gingen auffallend, ja, fast quälend langsam, einer mit seiner Nase mehr oder weniger direkt am hoch aufgetürmten Rucksack seines Vordermannes oder seiner Vorderfrau, wie ängstlich zusammengedrängt. Zuerst dachte ich, sie wären am Seil, obwohl es an  der Stelle keinen Grund dafür gab, aber bei ihrem Näherkommen erkannte ich, dass die Frau, die vorausging, stark hinkte.

Die einzige Erklärung, die ich schließlich für das Verhalten der Gruppe fand, war, dass alle sich gegenseitig durch ihre Vorbildlichkeit in Schach hielten.

Ich sah ihnen eine ganze Stunde lang zu, wie sie sich in diesem Schneckentempo zunächst auf mich zubewegten und dann Richtung Tal von mir entfernten, und je länger ich sie beobachtete, umso weniger verstand ich zuerst und umso mehr verstand ich dann, was genau sie da taten. Es hätten ja zehn von ihnen vorausgehen und einer oder eine bei der Hinkenden zurückbleiben oder zur Sicherheit zwei mit ihr zurückbleiben und die anderen vorausgehen können. Die Zeiten, in denen man sie allein oder, noch schlimmer, allein mit einer Pistole zurückgelassen hätte, waren zum Glück vorbei, aber das bedeutete doch nicht … Die einzige Erklärung, die ich schließlich für das Verhalten der Gruppe fand, war, dass alle sich gegenseitig durch ihre Vorbildlichkeit in Schach hielten. Sie hatten die Maxime, niemanden zurückzulassen, so sehr verinnerlicht, dass sie lieber alle zurückblieben und damit natürlich streng genommen gegen die Maxime verstießen, weil sie sich alle zu Zurückgelassenen machten. Keiner wollte derjenige sein, der nicht zurückblieb, keiner derjenige, der vorausging, aber es reichte noch weiter: Sie hoben nicht einmal ihre Köpfe, als würden sie damit schon einen falschen Verdacht