Lord Byron und die Erfindung des Pop

Von Richard Schuberth

Online seit: 12. Oktober 2024

Ein Vorabdruck aus Richard Schuberths soeben im Wallstein Verlag erschienenen Essaysammlung „Lord Byron – der erste Anti-Byronist“, ein Buch, das anlässlich des 200. Todesjahres des englischen Dichters ein Panoptikum von Themen behandelt, die ihre Aktualität nicht eingebüßt haben (Orientalismus, Feminismus, Antisemitismus, Raubkunst, Sittlichkeit und Libertinage, Homosexualität, Dichtung und Witz, Narzissmus etc.) und bei denen Byron mal als Moderator, mal als Hauptfigur agiert. Hier ein Ausschnitt aus dem Langessay „Lord Byron und die Erfindung des bürgerlichen Ichs“, die sich mit dem damals jungen Phänomen Pop auseinandersetzt.


 

Selbstverlust durch Authentizität

„Die Geselligkeit des Spiels beruht nicht auf der gegenseitigen Selbst-Offenbarung. Menschen werden vielmehr dann gesellig, wenn sie voreinander Distanz wahren. Die Intimität zerstört sie dagegen.“
Richard Sennett

Byron wandelte nicht nur an der Bruchkante zweier Zeitalter. Der Riss verlief mitten durch ihn hindurch. Was die Welt an ihm interessant fand, war – niemand wusste es besser als er – Schall und Rauch, Täuschung und Projektion. Dass er diesen Riss erkannte und beredt machte, ist sein bleibendes Verdienst, sein wahrer Heroismus. Der verächtliche Individualismus des Childe Harold, mit dem der adoleszente Lord sich selbst mystifizierte, lieferte eines der reizvollsten Identifikationsmodelle für seine eigene und folgende Generationen, eine prächtig-schöne, einsame Raupe, aus deren Verpuppung indes außer ihm kein Schmetterling schlüpfen würde. Das Ich ist eine Falle. Die sogenannten sozialen Medien am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die aktuellen Friedhöfe dieses unerlösten Wiedergängers. Byron gelang es dennoch, die Verpuppung zu sprengen, nur um aus der von ihm mitgeschaffenen Romantik ins geliebte Augusteische Zeitalter zurückzufliegen, zurück in die Zeit von Alexander Pope, Jonathan Swift, Henry Fielding und Mary Montagu, von Vernunft, Witz und Spiel. Doch die Flugbahn in die Vergangenheit existierte nicht, der aparte, heimatlose Kohlweißling wurde als Schädling empfunden, und so blieb ihm nichts, als seine Zeitgenossen zu umflattern und zu necken.

Die Entwicklung des modernen, bürgerlichen Subjekts vollzog sich allmählich. Modelle der Periodisierung sind nicht mehr als Modelle. Wollte man aber einen abrupten psychohistorischen Umschlag postulieren, so könnte man den zum Beispiel auf den 2. Mai 1824 datieren. An diesem Tag sprach Johann Peter Eckermann zu Goethe: „Ich trage in die Gesellschaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und Abneigungen und ein gewisses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich ganz hingeben und mit den andern nichts zu tun haben.“ Darauf versetzt ihm der alte Goethe, der noch einer anderen Zeit angehörte, folgenden Rüffel: „Diese ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsre natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen, ich habe es nie getan. Dadurch habe ich es dahingebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis menschlicher Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen. So sollten Sie es auch machen. Das hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein. Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.“1

Goethe, der an anderer Stelle auch schrieb, wer in Gesellschaft vergesse, den Schlüssel von seinem Herzen abzuziehen, sei ein Narr, hatte gegenüber Eckermann, diesem Prachtexemplar kleinbürgerlicher Selbstfindung, freilich leichtes Spiel, sich als aristokratischer homme du monde in Kontrast zu setzen. Doch tadelte er auch den Eckermann in sich selbst, dessen Bedürfnisse ihm nicht fremd waren. […]

 

Pop! Goes the Weasle

 „Ich wachte auf und war berühmt.“
– Lord Byron

Ein legendärer Satz in der Byronmythografie, der weniger als Ausdruck von Byrons Selbstgefälligkeit denn des kopfschüttelnden Erstaunens über den Anlass seiner plötzlichen Berühmtheit zu lesen ist.

Als Lord Byron im Juli 1811 nach England zurückkehrte, hatte er im Gepäck: einen Schal und Rosenöl für Lady Gordon, seine Mutter, vier Schädel aus Athen, ebenso viele Schildkröten, einige antike Marmorbüsten für seinen Freund Hobhouse, eine Phiole voll attischen Schierlingstranks für sich selbst und zwei Manuskripte für eine unbestimmte literarische Zukunft. Sein alter Mentor Robert Charles Dallas, selbst Dichter, fragte ihn, ob er denn einen Bericht über seine Reisen verfasst habe. Byron, der sich über die Mode des Reiseberichts und die Verwertung authentischer Erlebnisse erhaben fühlte, antwortete, er habe von Anfang seiner Tour an nicht vorgehabt, darüber zu schreiben. Einige Tage vor seiner Rückkehr hatte er an Dallas geschrieben: „Ich glaube nicht, irgendetwas getan zu haben, das mich von anderen Reisenden unterscheidet, ausgenommen vielleicht, dass ich die Enge zwischen Sestos und Abydos durchschwommen habe, eine sehr lehrreiche Erfahrung für einen Modernen.“

Seine Stärke sei die Satire, bedeutete er Dallas und drückte ihm eine Paraphrase auf die Dichtkunst des Horaz in die Hand, ein Stück Gedankenlyrik mit dem Titel Hints from Horace. Selbst wenn die Satire gelungen gewesen wäre, weder Sujet noch Stil entsprachen der Mode der Zeit. Verlegen hakte Dallas nach, ob er nicht auch etwas anderes habe. Etwas verdutzt wegen des verhaltenen Lobs packte Byron ein weiteres Manuskript aus, das Fragment eines längeren Gedichts, in dem er Eindrücke seiner Reise verarbeitet hatte. Es hieß Childe Harold’s Pilgrimage und war eigentlich nur für den intimen Kreis seiner Freunde aus der Studienzeit in Cambridge verfasst worden. Es verdiene nicht, sprach Byron, gelesen zu werden, aber wenn er, Dallas, es haben wolle, schenke er es ihm. Und es war genau das, wonach der berühmte Verleger John Murray gesucht hatte und wofür sich Byron in gleichem Maße schämte, wie er sich darin gefiel. Ein Schlüsselwerk der Romantik! Mag sein, dass Byrons Geringschätzigkeit Koketterie war, oder verletzte Eitelkeit, denn er hatte es zuvor einem Kollegen zu lesen gegeben, dem es missfiel. Childe Harold war der unmittelbare Ausdruck jener schwärmerischen Selbstmystifikation, die er an anderen Dichtern bereits verspottet hatte, aber den Stempel der schwärmerischen Zeit trug, gegen die er sich zeitlebens auflehnte und deren Symptom er doch war. Unverkennbar hatte er sich in der Figur des Harold gespiegelt: adoleszenter Individualismus, Selbstmitleid, Weltschmerz, Menschenhass, die Stilisierung als verfluchte, getriebene Seele, die zu früh versteinert, in exotischen Orten nach stets neuen Sensationen und Erlösung durch Liebe sucht. Es war Byron uncensored; seine spöttische Unbeeindrucktheit indes, die Attitüde, mit der er kaschieren wollte, die Gefühlslagen seiner Zeit zu teilen, ebenso Koketterie wie die Behauptung, nichts anderes als alle anderen Levantereisenden erlebt zu haben.

Dallas schrieb an Byron: „Sie haben eines der köstlichsten Gedichte geschrieben, die ich je gelesen habe […]. Ich war so bezaubert von Childe Harold, dass ich es überhaupt nicht mehr weglegen mochte.“ Dallas schickte das Manuskript an Murray, und so wurde aus einem jungen Dichter, der so gerne ein neuer Pope, ein neuer Swift, ein neuer Sheridan geworden wäre, die Ikone der europäischen Romantik.

Es ist nicht mehr zu ermitteln, ob Byron den Satz „Ich wachte auf und war berühmt“ wirklich gesagt hat. Nichtsdestoweniger demonstriert er schön die Initiation einer angemaßten Individualität in ein System, das weit mächtiger war als er. In der guten alten Zeit des Feudalismus war der Künstler vom Adel abhängig gewesen, von dem er sich befreite, indem er den Schutz des Marktes suchte. Byron aber war adeliger Künstler und verstand sich auch als solcher. In England hatte sich seine Klasse längst mit dem Markt arrangiert. Byron konnte es sich zunächst per Stand leisten, nicht allein Künstler zu sein, das heißt abhängig von Buchverkäufen, dem Wohlwollen der Rezensenten und dem Geschmack des Publikums. Das von ihm mitunter gehasste Standesprivileg sicherte seine Autonomie und den Habitus, seine literarische Tätigkeit nur als „Kritzeln“ (scribbling) zu betrachten, als zweckfreien Zeitvertreib und kreative Fleißaufgabe. Die fragile Identität des Autors war jederzeit geschützt durch Ausweichen in die Identität des Reiters, Causeurs, Abenteurers, Schlossbesitzers, Globetrotters und Bonvivants. Konsequenterweise lehnte er zu Beginn seiner Karriere jegliches Autorenhonorar ab, übertrug das Copyright von Childe Harold und The Corsair auf Dallas. Mit karitativem Großmut bestand Byron auf die Überweisung der Verkaufshonorare an bedürftigere Kollegen wie Samuel Rodgers, Samuel Taylor Coleridge und einmal sogar an den radikalen Dichter und Philosophen William Godwin (womit er zweifelsohne seinen konservativen Verleger ärgern wollte) und gefiel sich darin, von Murray befleht zu werden, das Geld doch anzunehmen. Seine zwei Anwesen Newstead und Rochdale waren mit Hypotheken belastet, er selbst war hoch verschuldet. Zwischen Murray und ihm herrschte alsbald das unausgesprochene Einverständnis, dass Byron in Briefen und Äußerungen weiter Mammon als Dichterlohn von sich wies und dieser dennoch diskret auf seinem Konto landete. Byron, der Kulturmarkt und die Öffentlichkeit, die zwischen beiden vermittelte, waren in ihrem Verhältnis zueinander allesamt noch recht unerfahren. If a star was born, it was a virgin birth.

Die paar Male, als ich in früheren Publikationen über Byron schrieb, titulierte ich ihn stets als ersten Popstar. Pflichtbeflissen zogen Lektorinnen dabei die Augenbrauen hoch, vielleicht auch, weil sie endlich einen, der sich Stil- und Phrasenkritik anmaßt, eines knalligen Anglizismus überführen konnten. Doch meinte ich das wortwörtlich. Lord Byron ist der erste Star des Pop und auch sein erster gefallener Engel.

Die Byromania, die unmittelbar nach der Veröffentlichung des Childe Harold einsetzte, zunächst nur in den Soireen der Society, sich aber sukzessive auf das gesamte Lesepublikum ausbreitete, war ein völlig neues Phänomen, dem kein vergleichbarer Fall vorausging. Als Byron erwachte, um sich als Berühmtheit wiederzufinden, war mit ihm eine neue Gesellschaft erwacht. Natürlich hatte Byron als Popphänomen seine Vorgänger. Die Geburt des politischen Populismus als Personenkult setzt Richard Sennett mit dem Whig-Politiker John Wilkes an. Auch mit Goethes Werther und dessen Auswirkungen auf die europäische Jugend des späten 18. Jahrhunderts ließe sich die Byronthese relativieren. Doch niemand schickte Goethe seine Schamhaare im Billett, und es wollten zwar viele wie Werther, aber noch niemand wie Goethe sein, der zunächst nur als Name über einem berühmten Buchtitel prangte.

Das Spezifikum der Marke Byron, bleiben wir beim Pop, erklärt sich aus der historischen Konfluenz von bürgerlicher Gesellschaft, Säkularisierung bei konstanten religiösen Bedürfnissen, sentimentalem Ich, Genie- und Persönlichkeitskult, dem Siegeszug von Buch- und Medienmarkt – und vor allem der rapiden Zunahme des weiblichen Lesepublikums. Wie diese Bereiche kausal aufeinander bezogen sind, wird immer ein Feld der Spekulationen bleiben, und auch die Geschichte der Ideologiekritik hat ihre Mythologeme: zum Beispiel das von der Erhöhung des solitären Ichs, weil die gesamtgesellschaftliche Freiheit unverwirklicht blieb.

Eine bezeichnende Pointe liegt darin, dass romantische Dichtung, die zu einem Gutteil doch die Flucht aus der Sphäre des Kommerzes, kalter Vernunft und ökonomischer Objektivität verkörperte, ihre Massenwirksamkeit dem Wachstum der Bewusstseinsindustrie verdankte. Der romantische Subjektivismus war einer der erfolgreichsten Verkaufsschlager prosaischer Warenökonomie. Dem wertkonservativen Verleger John Murray, dessen ideologische Toleranz keine Profitgrenzen kannte, bedeutete der Bestseller des liberalen Rebellen Byron die unerwartete Goldquelle, die ihm ermöglichte, noch im selben Jahr sein Büro von der etwas schmuddeligen Fleet Street in die Abermarle Street im noblen West End zu übersiedeln.

Byrons Freund, der irische Dichter Thomas Moore, hatte die Rationalisierung des Literaturbetriebes und den Warencharakter ätherischer Dichtung mit einem hellsichtigen Gedicht persifliert. Darin schlug er, um der stets wachsenden Nachfrage nach romantischer Dichtung beizukommen, ein Unternehmen zur Beschleunigung des literarischen Produktionsprozesses vor, in welchem bezahlte Ghostwriter am laufenden Band die neuesten Scotts, Wordsworths, Nortons, Southeys und Byrons produzierten. (Kaum eine Generation später sollte Moores Vision Realität werden. Während Balzac, hinter der Tapetentür vor den Gläubigern versteckt, in Büßerkutte und bei Hektolitern schwarzen Kaffees sich die Comédie humaine aus den Fingern sog, stand hinter der Marke Alexandre Dumas père bereits eine lukrative Manufaktur aus bezahlten Schreiberlingen.) Ein mulmiges Gefühl könnte Lesern und Leserinnen beschleichen, wenn sie folgende Verse aus Thomas Moores Announcement Of A New Grand Acceleration Company For The Promotion Of The Speed Of Literature in Hinblick auf KI lesen:

Loud complaints being made in these quick-reading times,
Of too slack a supply both of prose works and rhymes,
A new Company, formed on the keep-moving plan,
First proposed by the great firm of Catch-‘em-who-can,
Beg to say they’ve now ready, in full wind and speed,
Some fast-going authors, of quite a new breed –

Such as not he who runs but who gallops may read –

[…]

There being on the establishment six Walter Scotts,
One capital Wordsworth and Southeys in lots; –
Three choice Mrs. Nortons, all singing like syrens,
While most of our pallid young clerks are Lord Byrons.
Then we’ve ***s and ***s (for whom there’s small call),
And ***s and ***s (for whom no call at all).
In short, who soe’er the last “Lion” may be …
We’ve a Bottom who’ll copy his roar to a T,
And so well, that not one of the buyers who’ve got ‘em
Can tell which is lion, and which only Bottom.2

Was aber rechtfertigt für Byron und seine Ära die poppige Vokabel Pop, die man doch spätestens für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anzusetzen gewohnt ist? Denn wenn Pop so allgemein gefasst wird, dann ließe er sich doch ahistorisch auf die beruhigende Banalität beschränken, dass außergewöhnliche Menschen beziehungsweise Halbgöttinnen und Gottessöhne doch zu allen Zeiten umschwärmt und somit potenzielle Schamhaaradressaten waren.

Die Plausibilität von Byron als erstem Popstar erhöht sich, wenn man vom gängigen Gemeinplatz ein Stückchen abweicht, dass Pop seine Popularität durch Eingängigkeit und Simplizität erhalte, als Antipode zur exklusiven Hochkultur. Dem widerspricht, dass ab Mitte der 1960er-Jahre Maler und Anstreicher bei der Arbeit nachweislich Bob Dylans surrealistische Texte gesungen haben, in denen zum Beispiel „silberne Saxophone“ den Auftrag erteilen, die besungene Frau abzuweisen (I Want You). Doch weder die singenden Anstreicher noch die Jury des schwedischen Nobelpreiskomitees hatten ernsthaft Dylans Poesie studiert, wobei wir bei einem der zentralen Kennzeichen des Pop wären: dem Primat des Künstlers, seiner Persönlichkeit, seiner Biografie über sein Werk. Weitere wären die Erhöhung zum Identifikationsobjekt, eine bis zur Selbstaufgabe emotionalisierte Fangemeinde, imaginäre Authentizität, die Verschmelzung von Künstlerperson und seiner Kunst zu einem auratischen Gesamtpaket, das der Markt in eine Ware transformiert, dessen Fetisch seine Bewunderer in Konsumenten und auf vertrackte Weise selbst in Waren verwandelt.

Die erste Welle der Byromania zeichnete sich noch durch die Rezeption der Lyrik selbst aus, der Identifikation mit ihrer Hauptfigur und den Topoi des Gedichts. Byrons Gedichte waren getrieben von einer nie zuvor gekannten Intensität. In der Tat wäre die Analogie zum Rock ’n‘ Roll nicht abwegig. Sobald Byron selbst das Objekt der narzisstischen Begierde wurde, geriet seine Kunst zur Devotionalie, seine Porträts zu tausendfach geküssten Votivbildern, seine Bücher zu bloß hastig angelesenen Talismanen, deren Berührung allein reichte, das eigene ereignislose Leben in einen erotischen Hexensabbat oder eine Enterfahrt in die Levante zu verwandeln. Childe Harold erfüllte ein romantisches Bedürfnis, das forthin auch dessen Schöpfer zu befriedigen hatte, und wäre er nicht in Ungnade gefallen, so wäre auch sein höchst unromantischer Don Juan mit der romantischen Brille gelesen worden, und die Moralisten hätten gegen die konforme Masse enthusiasmierter Byronisten einen schwereren Stand gehabt. Mit der Abkehr von ihrem dämonischen Verführer, nach diesem ersten noch unverstandenen Rausch eines Popexzesses, wurden sie per kollektiver Buße auf den Pfad von Maß und Tugend zurückgeführt. Byron war nicht nur erster Popstar wider Willen, Ahnvater aller Bohemiens mit ironischem Standortvorteil gegenüber naiven Romantikern, sondern auch ein dialektischer Geburtshelfer der Viktorianischen Ära. Deren Muttergeneration, jenes letzte Aufbäumen des derb-fröhlichen 18. Jahrhunderts (einer Regency genannten Epoche), war eine liederliche Bonvivante gewesen, ehe sie Buße tat und mit Triebverzicht, Leistung, Fortschrittsoptimismus und der für Renegaten so charakteristischen moralischen Bestrafungskompetenz die Weltherrschaft des Empires aufbaute.

Das dunkle Geheimnis des Starkults liegt in der narzisstischen Beschaffenheit der bürgerlichen Subjekte, die sich der bewunderten Allmacht der menschlichen Projektionszielscheibe unterordnen, sich bescheiden und lernbereit geben. Es wirkt so, als machten sie ihr Objekt größer, als es ist, und sich kleiner, als sie sind. Doch so wie der Masochist einen größeren Lustgewinn erfährt als der Sadist, ist diese Liaison mit dem Superstar ein raffinierter Trick des verkapselten Selbst. Im Star hat der zur Objektliebe immer unfähigere Mensch ein Scheinobjekt zur Verfügung, in welchem es sich selbst lieben kann. Der Fan will nicht bloß die Aufmerksamkeit, die Gratifikation durch den Star, er will in einer imaginären Hochzeit mit ihm verschmelzen, sich ihn einverleiben, seine schamanische Macht übernehmen. Das ist die Tautologie des Persönlichkeitssubstituts, die von nichts ferner sein kann als idealer Individualität.

„Je weiter der vom Humanismus verklärte abstrakte Begriff des Menschen von ihrer wirklichen Lage entfernt war“, schrieb Max Horkheimer in seinem Essay Individualismus und Freiheitskampf, „desto erbärmlicher mussten die Individuen der Masse sich selbst erscheinen, desto mehr bedingte die idealistische Vergottung des Menschen, die in den Begriffen der Größe, des Genies, der begnadeten Persönlichkeit, des Führers und so weiter sich bekundet, die Selbsterniedrigung, Selbstverachtung des konkreten Einzelnen.“

Die Vergottung des Popindividuums verlangt die Negierung seiner störenden, widerborstigen Eigenheit. Deshalb schnüffelt der Fan so gierig in dessen Privatleben, um jede Abweichung projektiv in das ideale Spiegelbild der eigenen Allmachtswünsche zurückzuscheuchen. Für die nie befriedigte Illusion, eine authentische Persönlichkeit zu verehren, muss diese sowohl ihre Authentizität als auch ihre Persönlichkeit eingebüßt haben, um auch der Entpersönlichung des Fans einen individualistischen Anstrich zu geben. Diese Entwicklung läuft zu dieser Zeit noch gemächlich aus dem Hafen der Geschichte wie die ersten Dampfschiffe, wird aber Fahrt aufnehmen und im 20. Jahrhundert zur hegemonialen Entwicklung synthetischer Subjektivität von der Stange. Guy Debord wird schreiben: „Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums (…) Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht, hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren.“

Wenn es einen Byron’schen Helden gibt und so dieser Byron selbst ist, wird dessen Heroismus vor allem darin bestehen, die Ansprüche seiner Subjektivität einen äußerst brutalen Machtkampf gegen seine Verdinglichung, an der er Mitschuld trägt, führen zu lassen. Er wird in seinem Arsenal recht unterschiedliche Waffen dafür finden: Flucht in die Einsamkeit, Flucht nach Italien, sarkastische Gegenwehr oder aber die ebenso listige wie fatale Taktik, gerade durch Annahme der zugeschriebenen Rolle die Deutungshoheit darüber zu behalten: Wenn ihr Childe Harold haben wollt, dann gebe ich ihn euch.

Byron war 24 Jahre alt, der Erfolg seines anfänglich ironisch gemeinten Rollenspiels ließ ihn alsbald mit der Rolle verschmelzen. Seine natürliche soziale Unsicherheit half ihm bei Empfängen und in Clubs, die Rolle des verdüsterten anämischen Außenseiters hinreißend zu spielen und in eine strategische Stärke zu verwandeln. Seine Freunde wie Hobhouse und Scrope Davies lachten zu Beginn noch über die gelungene Travestie, als aber der Darsteller seines noch jungen Mythos aufhörte, mit ihnen hinter den Kulissen darüber zu lachen, wussten sie, dass ihm die Rolle in Fleisch und Blut übergegangen war, und der erste Popstar bekam die erste Lektion im noch als Versuchsanordnung existierenden Popbusiness erteilt: die Unmöglichkeit, der eigenen kulturindustriellen Verdinglichung die Zügel anzulegen. Der Herrenreiter, sich über alle Konventionen und Dummheiten erhaben fühlend, spürte plötzlich selbst einen Sattel auf dem Rücken, den der junge Markt ihm aufgesetzt hatte, als dem besten Pferd, das sich je den Konventionen und Dummheiten der Gesellschaft widersetzt hat. Mit Markt meine ich natürlich nicht bloß eine ökonomische Instanz, die nach Plan und Wille verfährt, sondern das oft gar nicht bewusste und sehr vielschichtige Verhältnis zwischen Marketing, Institutionen der Distribution (Verlage, Druckereien, Zeitungen, Literaturkritik, Fanartikelhersteller), Konsumenten und menschlicher Ware.

Doch noch gestaltete sich alles burlesk und wie ein amüsantes Spiel. Aus jener Zeit, in der das Leben ein amüsantes Spiel zu sein hatte, weil noch characters und keine Persönlichkeiten aufeinandertrafen, stammte Elizabeth Foster, die Herzogin von Devonshire, der wir das Zeugnis der ersten Symptome von Byromania verdanken: „Gegenstand der Unterhaltung, der Neugier, der Begeisterung sind im Augenblick weder Spanien noch Portugal, noch der Krieg, noch der Patriotismus, sondern ist einzig Lord Byron! Das Gedicht liegt auf jedem Tisch, und er selbst wird hofiert, ihm wird geschmeichelt, er wird gelobt, überall, wo er erscheint. Er ist blass, sieht krank aus, sein Körper ist hässlich [sic!], aber sein Gesicht ist schön; kurz und gut, er ist Gegenstand jeden Gesprächs – die Männer sind eifersüchtig auf ihn und die Frauen eine auf die andere.“3

Byrons Körper war mitnichten hässlich, der zur Korpulenz Neigende war seit seiner Studentenzeit in Cambridge stark abgemagert. Die Herzogin spricht damit in nicht sonderlich sympathischer Weise auf Byrons Behinderung an, eine Sehnenverkürzung des rechten Fußes. Diese despektierliche Wahrnehmung mag ein Kollateralschaden des klassizistischen Schönheitsideals während Mrs Fosters Jugend gewesen sein, zu Byrons Zeiten und danach erhöhte das Hinken sogar sein tragisches Flair und wurde Bestandteil des Popbaukastens der Byromania.

Nach anfänglichem Mitspielen begann sich das reale Vorbild des Pop-Byron gegen diesen zu wehren, und zwar mit der aristokratischen Selbstgewissheit eines Asozialen, der offenbar noch nicht eingesehen hatte, dass er längst öffentliches Eigentum war. Diese Widerborstigkeit kam ihm teuer zu stehen. Nur ein Mensch erlag der Byromania nicht. Stattdessen prägte er diesen Begriff. Anne Milbanke, die Byrons ersten Heiratsantrag abgelehnt hatte, schrieb 1812 das Gedicht The Byromania:

Reforming Byron with his magic sway
Compells all hearts to love him and obey –
Commands our wounded vanity to sleep
Bid us forget the Truths that cut so deep,
Inspires a generous candour in the mind
That makes us to our friend’s oppression kind.

Es half ihr nichts. Anne Milbanke wurde seine Frau. Byron wusste, dass er nicht einmal seinen besten Freunden darin trauen konnte, das notwendig falsche Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihm machte, zu korrigieren. Bei einem gemeinsamen Ausritt eröffnete er Lady Blessington, dass ihm seine Freunde das Leben gerettet hätten. Denn bloß die Angst, dass sie seine Biografien verfassen könnten, habe ihn vor dem Selbstmord bewahrt. „Ich weiß nur zu gut, was sie über mich schreiben würden – ihre Entschuldigungen, so lahm wie ich selbst, die sie für meine Verfehlungen vorbrächten, bloß um diese unnötigerweise bloßzustellen; und all dies mit der erklärten Absicht, zu rechtfertigen, was – Gott helfe mir! – nicht zu rechtfertigen ist, nämlich meinen unpoetischen Ruf, den die Welt nichts angeht. Der eine würde seine Feder in geklärten Honig, der andere in Essig tauchen, um meine vielfältigen Verfehlungen zu beschreiben; und nur weil ich weder will, dass mein armer Ruhm süß konserviert noch sauer eingelegt wird, habe ich weitergelebt und meine Memoiren geschrieben, in denen die Tatsachen für sich selbst sprechen, ohne redaktionelle Ergänzungen wie: ,Wir können diesen unseligen Fehler nicht entschuldigen oder diese Ungehörigkeit verteidigen!‘ In jener Façon also, fuhr Byron fort, in der Freunde ihre eigene Klugheit und Tugend verherrlichen, indem sie deren Mangel bei dem hochgeschätzten Verblichenen aufzeigen. Ich habe meine Memoiren geschrieben, sagte er, um mir die Notwendigkeit zu ersparen, dass sie von einem oder mehreren Freunden geschrieben werden, und ich kann nur hoffen, dass sie keine Anmerkungen hinzufügen werden.“ Byrons Memoiren wurden am 17. Mai 1824 im Büro seines Verlegers Murray verbrannt.

 

Anmerkungen:

[1] Eckermann 2000: 104f.
[2] Quelle: poetry nook – https://www.poetrynook.com/poem/announcement-new-grand-acceleration-company-promotion-speed-literature.
[3] Zit. n. Maurois 1990: 124.

 

Richard Schuberth: Lord Byron, der erste Anti-Byronist.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 528 Seiten, € 40.