Das Monatsende

Von Reinhard Kaiser-Mühlecker.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil VIII

Online seit: 9. April 2021
Reinhard Kaiser-Mühlecker © Amrei Marie
Reinhard Kaiser-Mühlecker. Foto: Amrei Marie

Der Monat ging dem Ende zu, und seit Tagen hatte er kein Geld mehr und musste den letzten vorrätigen Schnaps trinken, den er unbedingt ins nächste Jahr hatte bringen wollen. Ein paarmal war er bereits in der Nähe der Bushaltestelle umhergeschlichen, ohne sich jedoch entscheiden zu können, in die Stadt zu fahren. Einen Ort immerhin gab es noch, wo er anschreiben lassen konnte. Aber der Monat wollte nicht enden, und es war ein Unglück, dass noch ein Montag in diesen Monat fiel – Ruhetag des Wirtshauses. Auch Klopfen half nichts, nicht einmal Rufen. Niemand öffnete ihm, vielleicht war nicht einmal jemand da und das Licht im Obergeschoß nur eine Abschreckung für Einbrecher, die es hier ohnehin nicht gab – seit dem Krieg nicht mehr gegeben hatte. Er ging nach Hause, unzufrieden, unruhig, mit wachsender Wut. Zu Hause wusch er sich und zog frisches Gewand an, sogar die Uhr legte er an.

Wann war er das letzte Mal gefahren? Die Strecke stellte sich ihm so genau wie noch nie dar; ihm war, als nehme er kameraartig den vorbeiziehenden Raum auf, als Ganzes; und die Fahrt war ihm noch nie so lange vorgekommen: Was eine halbe Stunde dauerte, empfand er als eine Tagesreise. Nur ein paar Weitere saßen außer ihm im Bus, und nur er stieg am Bahnhof aus. Es war ein kalter Tag, ein kalter Himmel spannte sich flach über die Stadt, und Wolkenfetzen trieben heimatlos umher, vereinigten sich, lösten sich voneinander, auch sie schienen kalt in ihrer Substanzlosigkeit, Flüchtigkeit. Der gepflasterte Vorplatz war menschenleer, nur ein Taxi stand mit laufendem Motor dort. Die Steine hatten einen Schimmer, als seien sie eben noch nass gewesen. An einem Zeitungsstand las er die Schlagzeilen. Er stand eine Zeitlang vor dem Bahnhof, dann drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an, sog den scharfen Rauch – der Tabak war alt und trocken – tief in die Lungen, wandte sich vom Bahnhof ab und schlenderte Richtung Zentrum. Doch auf halbem Weg blieb er stehen, kehrte nach mehrmaligem Durchatmen um und ging zum Bahnhof zurück. Immer noch die Steine wie eben getrocknet. Ob es hier geregnet hatte? Seit Wochen hatte es im Dorf – abgesehen von dem vielen Nebel – keinen Niederschlag gegeben. Leise klimperten die Münzen in seiner Sakkotasche. Ihm war, als sagten sie: „So ist es! So ist es!“ Und hatten sie nicht recht? Wieder schlug er leise gegen die Sakkotasche, und jetzt sagten die Münzen: „Los! Los!“ Seufzend ging er los.

In der Wartehalle war niemand. Er suchte die Anzeigetafel nach den nächsten Verbindungen ab – erst in zwei Stunden käme wieder ein Zug. Nie dachte er über die Gegend nach, in der er lebte, nur bei solchen Gelegenheiten ging ihm durch den Kopf, dass sie gottverlassen war. Er dachte es als Fluch: „Verdammte gottverlassene Gegend!“ Er trat durch die alte dunkle Pendeltür auf den Bahnsteig und spähte sofort nach links, aber auch hier war niemand zu sehen. Wieder seufzte er, doch er merkte, dass es auch ein Seufzen der Erleichterung war; sein unmerklich rascher gewordener Herzschlag verlangsamte sich, als er den Bahnsteig entlangspazierte. Vor einer schweren, verchromten und mit Fenstern aus dickem, bräunlichem und undurchsichtigem Glas versehenen Schwingtür blieb er stehen. Leicht war beißender Uringeruch wahrzunehmen. Ein blaues Schild verkündete, was sich hinter der Tür befand. Die Tür schloss nicht ganz, hing ein wenig nach innen, sodass etwas von den hellen, schmutzigen Fliesen und ein Stück eines Papierhandtuchfetzens zu sehen waren. Er sah sich um – niemand – und setzte sich wieder in Bewegung. Sogar als der Zug kam, ging er noch auf und ab. Vielleicht – er wusste es selbst nicht – redete er sogar mit sich selbst aus Langeweile. Er erinnerte sich, auf der Anzeigetafel gesehen zu haben, dass nach dem einen wieder lange Zeit kein Zug käme, aber diese Erinnerung war dunkel und unwichtig. Er war in einer Art Dämmerzustand, und, ja, er sprach wirklich mit sich selbst. Er merkte es, als er plötzlich im Augenwinkel etwas wahrnahm, was sich ihm zwar nicht physisch näherte, was er jedoch trotzdem näherkommen fühlte – ein prüfender Blick. Er wandte den Kopf ein kleines Stück, um sich zu vergewissern. Dann holte er tief Luft und stieß die Schwingtür auf. In dem Raum war es nicht wärmer als auf dem Bahnsteig, bloß windstill. Er nahm eine der jetzt wieder klimpernden Münzen aus der Tasche und steckte sie nach kurzem Zögern mit zitternder Hand und verhaltenem Atem in den Schlitz der unter dem Griff der Kabinentür angebrachten Metallbox. Als die Münze einfiel, klang es, wie es in der Kirche klang, wenn der Klingelbeutel umging, und dann klackte es, und er konnte die Tür öffnen. –

Nach dem einen war ein zweiter gekommen und, als er schon gehen wollte, sogar noch ein dritter. Müde und mit einem Gefühl, als hätte er ein Loch, einen Ball aus Nichts in seinem Inneren, fuhr er mit dem Autobus durch die stille Gegend nach Hause. Ohne Schwierigkeiten käme er nun bis ans Ende des Monats, das, er wusste es, sich nun, da er wieder Geld hatte, unvermittelt einstellen würde; die Zeit würde nicht mehr zäh verfließen, sondern verfliegen.
Zwei Stationen vor seiner legte der Bus einen kurzen Halt ein, der Fahrer stieg aus und gab etwas an der Post ab. Er, in einer der hinteren Reihen sitzend und die Wärme genießend und allmählich wieder ganz werdend, nahm ein weiteres Schnapsfläschchen aus der Sakkotasche, schraubte es auf und nahm einen Schluck. Der gute warme Schnaps. Er blickte aus dem Fenster. Zwischen zwei Häusern, weit dahinter, blinkten die roten und blauen Punkte einer Lichterkette. Das ebenfalls blinkende rote Herz konnte er von hier aus nicht sehen. Aber er sah es dennoch deutlich vor sich. Nichts anderes sah er auf einmal mehr. Plötzlich dachte er: Hol’s der Teufel!, und er sprang auf und lief nach draußen. Das Geld würde reichen, und danach würde er zu Fuß nach Hause gehen.

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Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell (Oö.) auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien und hielt sich längere Zeit in Bolivien, Argentinien und Schweden auf. Werke u.a. bei Hoffmann und Campe: Der lange Gang über die Stationen 2008, Magdalenaberg 2009, Wiedersehen in Fiumicino 2011, Roter Flieder 2012, Schwarzer Flieder 2014. Bei S. Fischer: Zeichnungen. Drei Erzählungen 2015, Fremde Seele, dunkler Wald 2016, Enteignung 2019.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.