Asynchroner Freiluftspagat

Zu Punktlandung von Ute-Christine Krupp. Von Ralf Diesel

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

X arbeitet im nationalen Sicherheitsapparat, nicht ganz oben, nicht ganz unten, in beiden Richtungen sind Möglichkeiten gegeben. Gerade hastet X ins Büro, eine Dringlichkeitssitzung, ein Terrorakt ist ankündigt, sein ganzer Einsatz ist gefragt. Wie sich herausstellt, wurde von ihm Eile verlangt.

Nebenschauplatz: Gerade wurde er geschieden, auch in seiner Ehe war sein ganzer Einsatz gefragt, doch hier kam er dem Verlangen nicht nach.

Wie er seinem beruflichen Einsatz eher administrativ nachkommt, so handelt er sein Privatleben ähnlich unberührt ab. Die Privatzeit spannt sich in die Vergangenheit, in Form von Erinnerungen. Die Berufszeit spannt sich in die Zukunft, in Form des nächsten möglichen Schrittes, konkreter jedoch in Form der Ankündigung einer Katastrophe. Das Lied der Zukunft, die Symphonie der Vergangenheit, beides in Moll. Zwischen beiden der Held, unmusikalisch.

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X steht übrigens so nicht im Roman. Der Held hat einen Namen, Peter Jost. So wird er immer wieder über das ganze Buch genannt. Förmlich, mit Distanz. Es könnte ein jeglicher sein, lediglich eine Figur steht da vor uns, ein Bild, mehr noch ein Abziehbild, von glatter Oberfläche, von der Art, an die nichts wirklich rankommt, der nichts wirklich schadet, und von der nichts rüberkommt. Die aber dennoch da ist.

Da hat sich die Autorin einen schwierigen Kandidaten ausgesucht. Sie schreitet entschlossen in den Roman hinein, ein hastiges Opening, dem ein Versprechen innewohnt. Die Spannung liegt jedoch bald nicht mehr auf der Handlung, welche kaum vorangetrieben wird, sondern verlagert sich auf die Erzählweise. Wie stellt man einen Menschen dar, der von seiner Umwelt weitestgehend unberührt ist und der selber auch nicht berührt? Hat seine Frau sich doch offensichtlich genau deshalb von ihm getrennt.

Schon beim Kennenlernen deutet seine zukünftige Frau auf ein Schild mit dem Schriftzug „Leidenschaft“. Dieses Schild befindet sich in gehöriger Distanz zum Helden, Leidenschaft bleibt Schrift, die Schrift verbindet nicht, es bleibt ein Wort, ein Außen, der Held bleibt unberührt. Genauso der Auftakt des Romans, er hastet zum Arbeitstreffen, ein Attentat ist angekündigt, im nächsten Moment sitzt er im Bürosessel – unberührt. Auch sein Innenleben: Es geht nahtlos vom Privaten über ins Berufliche, im permanenten Wechsel, pausenlos. Eigentlich die Anlage für ein gründliches Burnout. Doch der Held: wieder unberührt.

Sein Kindheitsfreund Frank löst Gedanken aus, ebenso sein unbefriedigtes Verhältnis zu seinem Vater. Doch keine Krise, keine tiefen Gefühle. Ob auf dem Mond oder auf der Erde, der Abstand ist derselbe.

Zuguterletzt erhält er noch ein eher müdes „Guten Tag“. Man könnte noch anfügen: Der Rest ist Schweigen.

Der Held geht nicht den nichtheldischen Weg des Bartleby, der im Merkwürdigen als Merkwürdiger verharrt, im Stillstand verdichtet. Auch geht er nicht den Weg der existenziellen Krise, wie das die männlichen Helden bei Martin Suter gern tun. Die Autorin bricht dem Männlichkeitshelden nicht das Genick. Kein Held, kein Antiheld, kein Bartleby – völlig spannungslos, ohne Widerstreit. Ein Spannungsloser in einer angespannten, verspannten, zuweilen sogar spannungsgeladenen Umwelt. Doch keine Spur von Neurose oder Action oder Abseitigem oder Entwicklung.

Die Umwelt spielt sich vor seinen Augen ab, auch vor seinem inneren Auge, doch nicht in ihm drin. Da geht die Autorin nicht rein, in sein Innerstes. Da ist sicherlich kein Weiterkommen, doch da wird es erst interessant. An dieser Stelle wünscht man sich mehr Leidenschaft der Autorin für ihren Helden, für ihre Figuren allgemein. Selbst wenn aus ihm nichts rauszuholen ist: Welche Auswirkungen hat genau das auf sein Umfeld, welche Katastrophen löst das aus, was richtet er an, welche Auswüchse hat das? Doch das Innenleben der Ex-Frau, der Kinder, der Vorgesetzten und Kollegen, letztendlich auch der Gesellschaft, selbst in der Bedrohungssituation, wird nur von außen betrachtet. Damit glückt der Autorin ein Rückschluss zum gesellschaftlichen Problem des Unberührt-Seins, des Selbstbezüglichen. Da schließt sich erzählerisch der Kreis. Doch da bleibt eine Möglichkeit ungenutzt.

Der Tiefgang, den der Held nicht hat, den man also gar nicht beschreiben kann, der muss an anderer Stelle ausgelotet werden. Was richtet das administrativ Formelhafte an, wenn es schon in uns eingedrungen ist? Hier bleibt eine Leerstelle.

Und hieran mögen sich die Geister scheiden. Der Autorin entgleitet der Roman nicht, Form und Inhalt sind stark verschränkt. Von der Komposition her eher kammermusikalisch. Eine vielversprechende erzählerische Hingabe. Klug. Jetzt noch die Leidenschaft für die Figuren.

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