Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,
den reinen Raum vor uns …
(Rilke, die achte Duineser Elegie)
Donald E. Carr points out that the sense impressions of one-celled animals are not edited for the brain: “This is philosophically interesting in a rather mournful way, since it means that only the simplest animals perceive the universe as it is.”
(Annie Dillard)
Zur Zeit der Pandemie unternahm ich einmal, mitten im Lockdown, einen langen Spaziergang zwischen den Wiener Vororten Strebersdorf und Stammersdorf, entlang an niedrig geduckten, stellenweise schon ins Erdreich zurückkehrenden Weinkellern, mal vollkommen überwachsen und spinnwebzerfetzt, mal einladend und offenstehend wie das Steingrab zu Ostern. Hohlwege mit bodennaher kalter Kellerluft zwischen den Weingärten. Die Rebstöcke waren alle noch, der Jahreszeit gemäß, kahl, und ein jeder zeigte seine eigene verkrampfte Tanzfigur vor. Außerdem hockten überall die Schatten der Laternenköpfe auf den sonnenhellen Mauern. Dann auf einer Wiese ein Ast, von dem zahlreiche Zahnspuren erzählten, wie oft er von einem Hund geholt und gebracht wurde. Kein Mensch war zu sehen, weit und breit niemand, aber da auf einmal wurde die Straße keck: Es gab Hühner. Sie liefen – jeder Schritt ließ ihre Köpfe leicht erzittern – um den für sie zuständigen Hahn herum, der aufpasste, dass alles glatt ablief.
In den letzten Wochen hatte ich mich bei meinen Spaziergängen bereits an die weitgehende Abwesenheit von Mitmenschen gewöhnen können, aber tröstlich oder Sicherheit vermittelnd war diese Atmosphäre nicht. Nach einer Weile entdeckte ich auf einer Wiese unerwartete Zeichen von Bewegung. Ich ging näher, allerdings lange ohne zu begreifen, was ich da sah. Zuerst war es eine Art von formlosem Ungetüm gewesen, dann endlich fügten sich die richtigen Bahnen im Gehirn und ich erkannte sie: Artisten. Oder Schausteller? Oder wie nannte man das? Es waren vier Männer und eine junge Frau, die einander immer wieder hochstemmten, kontrolliert fallen, das heißt, abrollen ließen und dann gleich wieder, ohne die geringste Pause, in die Höhe stemmten, ein paar Sekunden hielten, bis der menschliche Turm erneut wackelig wurde, und immer so weiter, ein jedes Mal mit der jungen Frau an der Spitze. Sogar eine umgekehrte Pyramide konnten sie aus sich machen, und ich, aus meiner relativ weiten Distanz heraus, applaudierte ihnen lautlos, und dann kamen noch weitere, neue Formen aus ihren Körpern, mein Gott, wie sie das konnten!
Ich schaute diesen begabten Menschen lange zu und brach dann nach ein paar Minuten, sehr überraschend, jämmerlich in Tränen aus. Das passiert mir im Freien gar nicht so leicht. Es war ein heftiges, in die leere Luft beißendes Weinen, ich brach einfach auseinander, fiel in Stücke, konnte mich nicht fangen. – Erst zuhause beruhigte ich mich genug, um mir die Frage stellen zu können: Was war das gewesen? Was hatte mich da so angepackt?
Ich wusste, dass ich irgendwo einmal schon von so etwas gelesen hatte, also von Menschen, die einander kunstvoll hochstemmen und beklettern und mit Salto abspringen lassen. Französisch, dachte ich. Ja. Von irgendeinem Platz in Paris war da die Rede gewesen. Nach einigem Suchen fand ich ein Prosagedicht eines meiner liebsten Dichter, Pierre Reverdy, wo es tatsächlich genau um diese Art von Artisten geht, auf französisch Saltimbanques genannt. Aber Reverdy stellt diese Menschen eher als etwas Tragisches dar, fand ich, vor allem den jüngsten der Truppe, einen mageren Buben:
SALTIMBANQUES
Au milieu de cet attroupement il y a avec un enfant qui danse un homme qui soulève des poids. Ses bras tatoués de bleu prennent le ciel à témoin de leur force inutile.
L’enfant danse, léger, dans un maillot trop grand; plus léger que les boules où il se tient en équilibre. Et quand il tend son escarcelle, personne ne donne. Personne ne donne de peur de la remplir d’un poids trop lourd. Il est si maigre.
Nein, das war viel zu deprimierend, das war es nicht gewesen. Erst Wochen später, glaube ich, fiel es mir auf einmal wieder ein. Ich hatte von den Artisten auf einem Platz in Paris vor langer Zeit in einer der Duineser Elegien gelesen. Die fünfte. Rilke beschreibt darin die Männer mit großer Zuneigung.
Da: der welke, faltige Stemmer,
der alte, der nur noch trommelt,
eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher
zwei Männer enthalten, und einer
läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern,
taub und manchmal ein wenig
wirr, in der verwitweten Haut.
Einer der größten Erzähler der Gegenwart, der Comic-Romancier Chris Ware, hat vor vielen Jahren in einer kurzen Erzählung genau so einen Fall geschildert. Eine humanoide Maus namens Quimby lebt da mit ihrem siamesischen Bruder in einem Körper zusammen. Sie teilen sich dasselbe Beinpaar. Aber der Bruder altert aus irgendeinem Grund viel rascher als Quimby. Er kann sich nicht mehr so schnell bewegen, muss öfter ausruhen, und Quimby geht höflich auf diese zunehmende Gebrechlichkeit ein. Irgendwann aber kann der Bruder überhaupt nicht mehr aus dem Bett aufstehen und Quimby, der noch voller Leben ist, ärgert sich sehr und schimpft mit ihm. In der Nacht stirbt der Bruder, greisenalt und weißbärtig, und Quimby, immer noch jung, entdeckt es am Morgen. Chris Ware zeigt uns nur seinen Blick: das Antlitz einer aus dem Universum gefallenen Comicmaus, schreckensstarr, ungläubig.
Aber zurück zur Elegie. Auf die Beschreibung des in seiner Haut gealterten Trommlers folgt eine neue Figur – und ein ganz wunderbarer Vergleich:
Aber der junge, der Mann, als wär er der Sohn eines Nackens
und einer Nonne: prall und strammig erfüllt
mit Muskeln und Einfalt.
Der Sohn eines Nackens und einer Nonne! Manchmal vergisst man, was für eine anmutige Frechheit und Keckheit sich in Rilkes Vergleichsbildern umtreibt. Und interessanterweise hatte ich unlängst gerade an ein solches Bild denken müssen, anlässlich eines ganz anderen zu Beginn der europaweiten Lockdowns im Jahr 2020 beobachteten Pandemie-Phänomens: Die Rückkehr der Delfine in den Hafen von Venedig. Begleitet wurde diese Beobachtung in den sozialen Netzwerken meist durch den Satz „Nature is healing“. Durch die Abwesenheit von Schiffsverkehr und geschäftiger Menschheit allgemein war die Verschmutzung der Gewässer offenbar etwas zurückgegangen und die Delfine tummelten sich auf einmal wieder in den alten Kanälen. Und ich hatte bei der Erwähnung dieser Delfine sofort an die letzten Zeilen eines Rilkegedichts denken müssen: Die Geburt der Venus. Überhaupt wäre viel zu sagen über die oft so wunderbar grotesken und überraschend witzigen letzten Zeilen gewisser Gedichte aus der Schaffensperiode der Neuen Gedichte.
Die Geburt der Venus beginnt mit den Gebärschreien des Meeres, dann wird in gestochen scharfen Bildern die Formung eines weiblichen Wesens aus den Elementen geschildert, mit lauter verblüffenden und fast expressionistisch überhellen Vergleichen: „und die Gelenke lebten wie die Kehlen / von Trinkenden“ oder „Wie Monde stiegen klar die Kniee auf“ und: „Jetzt [… ] streckten sich auch die Arme aus wie Hälse / von Schwänen, wenn sie nach dem Ufer suchen.“ Nichts als Pracht und Anmut ist diese lange Geburt. Am Ende steht die Schaumgeborene strahlend da und schreitet davon und belebt mit der Berührung ihrer Füße die Erde und die Blumen. Und wäre das das Ende, könnte man sagen: Ja, ganz hübsch. Fein beschrieben. Aber Rilke lässt sein Gedicht ganz anders enden:
Am Mittag aber, in der schwersten Stunde,
hob sich das Meer noch einmal auf und warf
einen Delphin an jene selbe Stelle.
Tot, rot und offen.
Wie großartig ist das. Er schildert zur Geburt auch die Nachgeburt, die gehört schließlich dazu. Und die ist ein Delfin. Zerfleischt, zerfleddert. Das Bild ist ungeheuer witzig, und ich kann gar nicht genau sagen, wie sein ebenfalls ein wenig an Comic-Bildsprache erinnernder Humor funktioniert. Also sind wohl auch alle Delfine der Erde, auch die vorübergehend wiedergekehrten in Venedig, nichts als unversehrte, noch in Gebrauch befindliche Plazentas? Wirklich fantastisch.
Ein anderes Gedicht, das mit einem ähnlich wunderbaren, comicartigen Bild endet, ist das zweite Sonett in dem Triptychon Die Insel, ebenfalls aus dem ersten Teil der Neuen Gedichte. Die kraterrandartig umhegten Gärten der Nordseeinsel-Ortschaft werden beschrieben, dann das Interieur der Häuser. Aber dann diese letzten Zeilen (ich zitiere hier auch die davorstehenden Zeilen, damit man sozusagen die „Fallhöhe“ und die pointierte Wucht des Reims mitbekommt):
[…] Und einer von den Söhnen
tritt abends vor die Tür und zieht ein Tönen
aus der Harmonika wie Weinen weich;
so hörte ers in einem fremden Hafen –.
Und draußen formt sich eines von den Schafen
ganz groß, fast drohend, auf dem Außendeich.
Genial. Das plötzlich anschwellende Schaf. In seiner frommen, fügsamen Form verkörpert es das, woran man dieserorts offenbar zu Grunde geht: an allzu großer Rundheit der Erfahrung. Inselrand: rund. Gärten: rund. Tagesverlauf: ebenfalls rund. Und selbst die Schafe runden sich dergestalt da draußen, „ganz groß, fast drohend“. Und irgendwann, wenn einem auch die Melodien für die Harmonika ausgegangen sind, füllen sie vermutlich das gesamte Denken aus. Dann gibt es nur noch Schaf. Und man wird Schaf unter Schafen.
Aber, um zu unserer ursprünglichen Fragestellung zurückzukehren, warum hatte mich die Beobachtung der Saltimbanques auf einer Wiese in der nördlichen Vorstadtwildnis Wiens so tief getroffen? Es hatte wohl etwas mit dem starken Lebenskontrast zu tun, den sie jedes Mal abgeben, egal, wo sie ihre Kunststücke aufführen, und den Rilke auch in der ihnen gewidmeten Elegie festhält. Beim genauen Wiederlesen der Zeilen bemerkte ich, dass ich mich inzwischen in dem Abschnitt meines Lebens befand, in dem man die Duineser Elegien bereits als Essays zu lesen beginnt, als kompakt angeordnete, gewaltige Speicher an Lebenserfahrung.
Ein japanischer Kannibale erhält sogar heute, viele Jahre nach seiner ersten Tat, regelmäßig Anfragen von Mädchen, die von ihm getötet und gegessen werden wollen.
Rilke hat dieselben Artisten auch in einer kleinen Betrachtung in Prosa aus dem Jahr 1907 festgehalten, in der die in der Elegie gefeierten Figuren ebenfalls vorkommen, der alte, der zwar noch Muskel
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