Poesie am Rande des Nervenzusammenbruchs

Michael Braun im Gespräch mit Gerhard Falkner über seinen neuen Gedichtband Ignatien.

Online seit: 3. März 2015

MICHAEL BRAUN Ihr Gedichtband Ignatien, der im Untertitel „Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs“ annonciert,  bezieht sich programmatisch im Eröffnungsgedicht, in der ersten Ignatia, auf Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien.
Referenzpunkt sind die berühmten Zeilen der ersten Elegie:
WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang …
In den Ignatien lesen wir dagegen:
Wer, wenn nicht ich, hörte mich denn
aus der Enge der Ordnungen
dem Ingrimm der Zeichen
in entsprechender Zeit?

Das klingt so, als seien die Ignatien eine direkte Antwort auf Rilkes Duineser Elegien?

GERHARD FALKNER Nein, das sind sie mit Sicherheit nicht. Geplant war das Ganze als ein fernes Echo auf die Duineser Elegien. In der ersten Elegie bei mir und bei Rilke sind die Kontakte noch sehr eng und sehr greifbar. Ich entferne mich dann aber sehr weit vom Rilkeschen Duktus und vom Rilkeschen Thema und modelliere dann eigentlich auch mehr und mehr mein eigenes Thema.

BRAUN Sie installieren in Ihrem Buch die Ignatie als eine poetische Form, als sei sie eine Nachbardisziplin des Sonetts oder der Volksliedstrophe. Das Wort bezieht sich aber doch erst einmal auf etwas, was sich Ignazbohne nennt?

FALKNER Ja, ich versuche gerade, das zu einer eigenen poetischen Form werden zu lassen durch dieses Buch. Aber es bezieht sich auf die Ignatia, wie es in der Homöopathie heißt, oder auch Ignazbohne, es gibt verschiedene Begriffe dafür. Und die ist eigentlich zu dieser Arbeit erst später hinzugekommen. Ich habe ziemlich lange an dem Buch gearbeitet. Vor fünfeinhalb Jahren habe ich damit angefangen und habe auch vor drei Jahren in Lettre international schon die ersten Ignatien veröffentlicht. Und da hießen sie noch gar nicht Ignatien. Sondern die Arbeit bestand ursprünglich aus dem – wie ich es genannt habe – Versuch des manischen Sprechens. Und hieß: Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das ist jetzt zum Untertitel geschrumpft.

BRAUN Sehr programmatisch heißt es gleich auf der ersten Textseite: „Die Wirkung der Ignatie ist ganz auf das Nervensystem gerichtet!“ Ist auch die Wirkung der Poesie ganz auf das Nervensystem gerichtet?

FALKNER Ja, absolut. Also dieses manische Sprechen, was ich versucht habe, als Treibstoff für die Gedichte zu verwenden, das gehört ja als Gegenpol zur Melancholie und zur Depression, zum Erscheinungsbild der bipolaren Erkrankung, der manisch-depressiven Erkrankung. Und die Manie war durch alle Jahrhunderte ein furchterregendes und auch geradezu angsteinflößendes und dadurch auch heiliges Phänomen, vor allem in den alten und den primitiven Kulturen. Und Samuel Hahnemann ist darauf nur durch Umwege gekommen, über diese Verwendung von manischen Dosen im poetischen Verfahren. Da kamen dann immer wieder im Zusammenhang mit der Krankheit Fragen auf: Welche Mittel gibt es bei dieser Krankheit, und wie wird ihr begegnet? Und da ist eben Hahnemann aufgetaucht, also der Begründer der Homöopathie, ein Schweizer Arzt und Gelehrter des 19. Jahrhunderts. Der war ein Schlüssel zu sehr vielen Punkten,  die bei mir eine Rolle gespielt haben.

BRAUN Eigentümlich an diesen Ignatien ist auch, dass aus den Schriften von Herrn Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, auch Zitate aufgeführt sind, Aufzeichnungen, die Symptomatiken von Krankheiten behandeln. Mir scheint, diese Aufzeichnungen sind nicht nur diagnostische Texte, sondern selbst auch poetische Texte?

FALKER Ja, es sind sehr poetische Texte. Beeindruckend sind die Sprachmacht von Hahnemann und die Ungewöhnlichkeit seiner Formulierungen. Wenn wir uns überlegen, dass manisches Sprechen in der Dichtung vielfach eine große Rolle gespielt hat – das geht von den Dionysos-Dithyramben von Nietzsche bis hin zu Howl von Allen Ginsberg: Das sind alles Formen manischen Sprechens, die im Gedicht praktiziert werden. Die Möglichkeit, das durch wissenschaftliche Sprache gegenzukaschieren, war für mich ein großer Reiz.

BRAUN Sie haben Nietzsches Dionysos-Dithyramben erwähnt. Fällt auch Hölderlin unter die von Ihnen beschriebene Form des manischen Sprechens?

FALKER Ich habe mich lange mit Hölderlin beschäftigt, die Frucht dieser Beschäftigung ist ja die Hölderlin Reparatur (2008). Ich habe mich auch ausführlich mit psychischen Krankheiten beschäftigt. Das hatte verschiedene Gründe. Ich bin der festen Überzeugung, dass Hölderlin bipolar gewesen ist. Besonders deutlich wird dies in diesen berühmten heiligen Gesängen, wo eine große nervliche Überspanntheit zu erkennen ist. Und bei Hölderlin ist auch, wie wir alle wissen, der Gegenpol zur manischen Erkrankung, also die große Betrübtheit, deutlich belegt. Und hier würde ich gerne mal einfließen lassen, dass die Melancholie für mich eine sehr wichtige Rolle spielt in meiner Arbeit. Die Melancholie, die unter keinen Umständen mit der Depression gleichgesetzt werden darf, wie das heute allgemein geschieht. Die Melancholie ist, wenn man sich zum Beispiel das 18. oder 19. Jahrhundert ansieht, auch eine süße Schwermut. Also eine Schwermut, die auch eine große künstlerische Kraft besitzt. Wie man es zum Beispiel auch an der melencolia von Dürer ablesen kann. Und: Die Depression, die klinische Depression, die wir heute als bipolare Erkrankung kennen, die hat mit Möglichkeiten der Kunst überhaupt nichts zu tun, sondern die besteht in einer völligen Unfähigkeit zum Ausdruck.

BRAUN Wichtig scheint mir auch die „Ignatia 20“. Sie endet mit einem wahrnehmungsgeschichtlichen Hinweis auf „die Displays einer allmächtigen Leere“, auf die gestarrt wird. Vieles in den Ignatien erinnert mich überhaupt an Thesen Ihres großen Essays über den „Vampirismus“ in der gegenwärtigen Kultur, in dem über den Verlust von Wahrnehmungsfähigkeit gesprochen wird, über den Verlust einer Ressource, die für die Dichtung unerlässlich ist. Sie diagnostizieren hier den Verlust des „inneren Monologs“.

FALKER Ja, mich hat immer das Verhältnis zwischen poetischer Sprache und instrumentalisierter Sprache interessiert, den Formen der Kommunikation, die wir heute pflegen. Und die Kluft zwischen beiden Sprechweisen wird ja immer größer. Ich denke tatsächlich, dass die Kommunikation über die sozialen Medien und über die neuen technischen Möglichkeiten Massenbetäubungsmittel darstellen, deren Auswirkung überhaupt noch nicht suffizient untersucht worden ist. Und man kann es, glaube ich, ganz gut verstehen, wenn man andere Formen des Sprechens als diese, wie ich es in einem anderen Essay genannt habe, „superkurze Einsatz- und Bereitschaftssprachen“ ausprobiert. Und das manische Sprechen ist zum Beispiel diesen „superkurzen Einsatz- und Bereitschaftssprachen“ extrem entgegengestellt. Es geht eigentlich von einer überhöhten Reizbarkeit den Lebensbedingungen gegenüber aus und es ist auch tatsächlich ein hymnisches Sprechen. Es ist ein Sprechen, das die Leute schreckt und verängstigt. Und es bietet dadurch einen Kontrast zu diesen inzwischen verabreichten Sprachen, mit denen wir kontrolliert werden. Wir kontrollieren diese Einsatzsprachen nicht mehr, sondern werden durch sie kontrolliert.

BRAUN Der Band Ignatien besteht auch aus einer Korrespondenz zwischen Ihren Gedichten und Bildern des Künstlers Yves Netzhammer. Sind denn die Gedichte und die Bilder unabhängig voneinander entstanden – oder gab es beim Entstehungsprozess einen Austausch zwischen dem Dichter und dem bildenden Künstler?

FALKER Die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern ist für mich immer ganz wichtig gewesen, auch einen Blick in andere Weltbewältigungen zu tun. Es hat mit jedem Künstler natürlich anders ausgesehen bzw. andere Grade der Zusammenarbeit gegeben, manchmal ganz enge, manchmal ganz lose. Yves Netzhammers Werk kenne ich schon sehr lange. Da gab es den konstruktiven Vorschlag des Verlegers, der gleich eine meiner Ignatien mit den Video Stills von Yves Netzhammer konfrontiert hat, und das war für mich ein unglaubliches Aha-Erlebnis. Wir sind dann alle zusammen nach Zürich gefahren und haben Yves im Atelier besucht. Ich habe gemerkt, dass es zwischen uns erstaunliche Korrespondenzen gibt. Vor allem in seinem Werk über den Video-Film gibt es eine sehr starke Bildmächtigkeit, die einer von mir zumindest beabsichtigten Sprachmächtigkeit korrespondiert. Er hat auch diese Verbindung von exaktem, technischem und formalem Kalkül mit einer Verknüpfung mit der surrealistischen Bildmetapher, die bei mir im Text ganz ähnlich ist. Er war gerade während der Zusammenarbeit mit einer Ausstellung im Riedberg-Museum sehr beschäftigt, aber zum Schluss konnten wir das doch noch so vereinbaren, dass Yves immer mehr die Motive in die Richtung meiner Texte zugespitzt hat. Und vor allen Dingen dieser Engel, der ja eine Referenz an die Duineser Elegien ist, der Engel, der bei mir immer auftaucht, und der praktisch eine metaphysische Form ist, ein metaphysisches Model oder Modul. Diesen Engel habe ich bei Netzhammer in einer stark veränderten Form wiedergefunden, und damit war der Pakt eigentlich besiegelt.

BRAUN Der Pakt zwischen dem Dichter und dem bildenden Künstler teilt sich beim Studieren des Bandes unmittelbar mit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sehr schwierig ist, die Gedichte isoliert von den Bildern zu lesen. Vielleicht ergeben sich bei der Lektüre dann auch Überlagerungen bei der Deutung. Die „Ignatia 5“ korrespondiert z.B. mit einem Bild von Yves Netzhammer, das eine Form der Intimität zeigt. Zwei puppenhaft wirkende Wesen, anonyme Köpfe, die in intimer Verbundenheit dargestellt sind. In diesem wie in den anderen Bildern von Netzhammer kommt ein Moment von Ent-Individualisierung ins Spiel. Allen Gestalten, die hier dargestellt sind, ist etwas Serielles, Maschinelles, Ent-Individualisiertes eigen … und auch in der „Ignatia 5“ ist vom Prozess dieser Ent-Individualisierung die Rede, etwa in den bewusstseinsdiagnostischen Anmerkungen: „Der Unterschied / zwischen Curt Goetz und Rainald Goetz / zwischen Ann Cotten und Jerry Cotton / ist, genetisch gesehen, irrelevant.“ Das lese ich als Diagnose, dass in unserer Lebenswirklichkeit die Fähigkeit zur Differenzierung zusammengebrochen ist.

Ignatia 5
Derrida! die Blumen sind da!
il y a les fleurs et il y a les fleurs
Tandaradei
die welt ist so online und die Ottern lachen.
Verbrechen gegen die Humanität
bleiben ungesühnt.
Na fabelhaft! alles so saussure!
Den Träumen sind wir entschlafen
den Bild- , Bankett- und Blütenträumen
die vom Honig glühen.
Unsere Herzen schlagen für die Hologramme
Herodes
der Spötter, Tetrarch und Ehebrecher
erobert die Charts, die anwesenden Christen sind
bezaubernd jung und überraschend preiswert.
Alles besitzt uneingeschränkte Relevanz
selbst Antiödipus, Hamletmaschine
und Hölderlin Reparatur machen
keine Ausnahme.
Der Unterschied
zwischen Curt Goetz und Rainald Goetz
zwischen Ann Cotten und Jerry Cotton
ist, genetisch gesehen, irrelevant.
Alles die gleich Homöobox
das gleiche, trügerische Schillern von Aminosäuren
genetische Strickleitern, codierte Erblast.
Dahin die Nächte, die Räusche
der Innigkeit probates Inventar
die Spechte fort, die mit ihrem Lachen
ins Trinklied der leichten Landschaften
einstimmten oder die ersehnten Ergebnisse
aus den Rechenzentren der Rehkitze
die den Ruf nach der Anabasis laut werden lassen
dem Aufstieg.
Doch sei die Sache wie sie sei, ob Aue
oder Heide, notfalls
erklingen wir auch unverrichteter Dinge

FALKER Das wissen wir ja, seit die Postmoderne zum Gegenstand der Betrachtung geworden ist, dass durch das postmoderne Denken die Beliebigkeit eine Einladung zur Seriosität erhalten hat. Was Sie da gesagt haben über die Arbeiten von Netzhammer, trifft einen ganz wichtigen Punkt. Das Phänomen der Intimität geht normalerweise gar nicht zusammen mit dem Phänomen der Künstlichkeit. Intimität ist ganz stark an die menschliche Empfindung gebunden. Und diese Diskrepanz zwischen Kunst und Künstlichkeit, oder auch Natur und Künstlichkeit, die ist bei Netzhammer ebenfalls in einer nahezu bipolaren Weise vorhanden. Das macht die Sache sehr spannend. Ich muss ganz kurz rekurrieren auf das Phänomen der Manie und des manischen Sprechens. Da kommt nämlich wieder Hahnemann ins Spiel. Hahnemann – von ihm stammt ja der berühmte Satz „Similia similibus curentur“, also Gleiches muss man mit Gleichem behandeln. Das trifft auch für das Buch zu. Gleichen Texten muss man eine gleiche Art des bildnerischen Denkens gegenüberstellen. Und noch wichtiger ist die Idee der homöopathischen Dosis. Wir können nämlich im Dichterischen keine manischen Menschen sein. Das Manische ist etwas, das den Körper extrem erschöpft und das Gehirn extrem beansprucht. Und diese Möglichkeiten müssen wir für die Poesie einerseits auch nutzen. Aber wir müssen auch wissen, wie wir die Manie dosieren, um die verschiedenen klaren Reflexionsmöglichkeiten, die Dichtung unbedingt braucht, auch beibehalten zu können.

BRAUN Vielleicht können wir auch die „Ignatia 9“ einbeziehen, da ja hier in Anknüpfung an Rilke auch ganz stark der Engel konturiert wird – als heikler Engel!

Ignatia 9
Engel sind heikel.
Schwarzfahrer sind sie der himmlischen Umzüge, der
kleinen Kabinen
verwirbelter Luft, die segeln im Aufwind der Sprache.
Engel aus Aramith. Segelnde rote Kugeln.
Ihre feuerfesten Flügel sind, wenn sie rauschen,
geflüsterter Jubel.
Engel sind reine Innerheit. Entsetzlich zart.
Entsetzlich.
Zart wie die Gelüste einer Frau. zusammengehalten von
einer Heftklammer.
Wie ein junger Mann, gestaltet wie ein Seufzer
der einen Strand entlanggeht, dessen Weite ihn auslöscht.
Wie der Fühler des Zitronenfalters (vor der geöffneten
Klappe der Mikrowelle).
Die Namen der Engel sind Farben
Farben aus den Fabriken einstigen glühenden Glaubens
Komponentensignale!
Flügel und Bewegung des Flügels werden getrennt
übertragen.
Eine Billiarde Bilder täglich.
Welche Farbe hat welche Farbe hat welch Farbe?
Rot oder Rot? Mark Zuckerberg entscheidet!
Die Engel liegen als Punks mit gepiercten Augen
vor den Portalen von Facebook.
Ihre Hunde erschallen.
Ist hier das Jetzt jetzt denn endlich einen Moment lang
ewig?

Ein kühner Text und eine kühne Bildlichkeit. Wenn man  die Zeile nimmt: „Die Engel liegen als Punks mit gepiercten Augen vor den Portalen von Facebook.“ Das liest sich wie eine poetische Signatur für das 21. Jahrhundert. Da hier die Engel auf markante Weise in das digitale Zeitalter involviert sind und zu digitalen Wesen mutieren.

FALKER Ein großzügiges Kompliment. Das Gedicht ist eigentlich eins meiner Lieblingsgedichte in dem Band. Es ging ja ursprünglich um Billardkugeln. Aramith ist das Material der Billardkugel, und diese Billard-Bewegungen sind etwas, was der Netzhammer-Ästhetik extrem stark nahekommt. Also diese sehr stark gerundeten Formen. Diese schwebenden Kugeln, die einander abstoßen und anstoßen, und wo der Einfallswinkel gleich dem Ausfallswinkel ist, und wo das Phänomen der Berechenbarkeit von Sprache für mich eine große Rolle spielt. Ich habe eine ganz bestimmte Auffassung davon, wie Sprache in einem Gedicht gesetzt werden muss. – Also dieses Gedicht hat eine zentrale Rolle gespielt, die vorliegende Fassung ist einer der ersten Entwürfe gewesen.

BRAUN Noch einmal zur Rolle von Samuel Hahnemann. In Ihrem Ignatien-Band ist ein eigener Teil den Aufzeichnungen Hahnemanns gewidmet, farblich abgesetzt von den übrigen Seiten des Buches. In diesem Teil finden wir auch ein Falkner-Gedicht, das sich „Ignatia amara. Abriss der Homöopathie“ nennt …

FALKER „Abriss“ ist eigentlich das alte wissenschaftliche Wort für „Auszug“. Das Hahnemannsche Werk ist in seiner Sprachkraft sehr beeindruckend. Er benutzt fast ausschließlich den deutschen Wortschatz, arbeitet nur mit sehr wenigen Fremdworten. Sehr eindrücklich. Auch ein wissenschaftliches Werk wie das des Ornithologen Johann Friedrich Naumann gehört zu meinen Ur-Büchern. Da werden einfach nur Vögel beschrieben, aber in einer Weise, die so eindrucksvoll ist, wie das heute fast nie mehr erreicht wird in den literarischen Sprachen. Und ich glaube, man kann da einfach sehr viel lernen. Die Bezüge zu Hahnemann sind sehr körperlich. Die Auswirkungen des poetischen, des manischen Sprechens oder der großen Gesänge, oder wie immer man das nennen will … also Sprache kann ja auch eine große Aufregung erzeugen. Und diese große Aufregung, die große Dichtung eigentlich erzeugen müsste und sollte, wirkt auch als ein Katalysator. Man kann bestimmte Dinge animieren. Man kann auch bestimmte Sprachen, die nicht mehr opportun sind, wieder tauglich machen.

BRAUN In Ihren Pergamon Poems (2012), in denen ja Gedichte auf bildnerische Kunstwerke reagieren, heißt es am Ende des Gedichts „Artemis“:
Die Torsi torkeln von der Wucht des Schönen
und jeder Lücke stockt der Atem
Wie Schönheit so und Schock sich hier versöhnen
War dieser Versuch einer Versöhnung und einer Konfrontation von Schönheit und Schock auch eine Antriebskraft für die Ignatien?

FALKER Absolut. Das war auch einer der Gedanken – Schönheit ist nichts als des Schrecklichen Anfang. Schönheit und Entsetzen sind die beiden Grundmotive. Das eine ist das Manische und das andere ist das Melancholische. Da kommen diese beiden Faktoren auch wieder zusammen. Ich möchte im Zusammenhang mit den Ignatien auch den immer äußerst klugen Friedrich Schiller zitieren. Und zwar schreibt er in Über naive und sentimentalische Dichtung, dass bei der Elegie die Trauer nur aus einer durch das Ideal erweckten Begeisterung fließen darf. Genau das ist eigentlich mein Arbeitsprinzip gewesen. Dieser Satz war wie eine Offenbarung für mich, als ich ihn jetzt wiedergelesen habe, nachdem ich diesen unglaublichen Schiller-Film von Dominik Graf gesehen habe, der mir einfach wieder mal deutlich gemacht hat, wie sehr die Weimarer Klassik für mich dann auch irgendwann mal eine Rolle gespielt hat. Nämlich eine Rolle, die mir die Stabilität gegeben hat, die mir sehr wesentlich war gegen die Instabilität, die mir die Moderne gebracht hat.

Gerhard Falkner, geboren 1951 in Schwabach, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Berlin und Weigendorf. Zuletzt erschien der Gedichtband Pergamon Poems (kookbooks, 2012).

Michael Braun, Jahrgang 1958, lebt als Literaturkritiker und Herausgeber in Heidelberg. Er gibt seit 2007 den Deutschlandfunk Lyrikkalender heraus.

Dieser Beitrag erschien zuerst in VOLLTEXT 1/2015.

Gerhard Falkner/ Yves Netzhammer: Ignatien. Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs.  Deutsch/Englisch. Übersetzt von Ann Cotten und Jeremy Gaines. Starfruit Publications, Fürth 2014. 128 Seiten, € 19,90 (D) / 19,90 (A).