Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die primäre Aufgabe ist die immergleiche, heute wie gestern: Zu fragen, ob Texte funktionieren und gleichzeitig darüber nachzudenken, ob die Kriterien, die man bei der Urteilsfindung bemüht, die richtigen sind. Mir wird gegenwärtig viel zu viel kontextualisiert und symptomatisiert.
Was sind die größten Herausforderungen und Probleme für die Kritik heute?
Die ökonomische und medienpolitische Hauptherausforderung bleibt natürlich der sogenannte „Relevanzdruck“, also der zum Teil offen von Redaktionen ins Feld geführte, zum anderen Teil aber auch internalisierte Vorbehalt, dass das Publikum Rezensionen eigentlich nicht interessieren, sondern alles gleich „Debatte“ sein muss. Die Vorstellung, dass die eigene Lektüre möglichst schnell an die Diskussionen im Gesellschaftsteil rückgekoppelt werden muss, halte ich für fehlgeleitet. Das Feuilleton, das den Menschen möglichst viele fremde, noch unverstandene Welten zeigt und zu erklären versucht, bleibt doch das Reizvollste. Darüber hinaus kann die luzide Deutung und Einordnung eines Gegenwartstextes durchaus begeistern. Man sollte die Leser- und Hörerschaft da nicht unterschätzen. Wo wir bei „luzide“ sind: Ein Hauptproblem der gegenwärtigen Kritik dürfte mit Sicherheit der Mangel an Transparenz sein. Ich will schon gerne wissen, welche Kriterien die Kollegin oder der Kollege hat, wenn er eine Neuerscheinung lobt oder verwirft. Gerade die meinungsstarken Besprechungen bleiben mir da oft zu diffus. Also: Sich selbst zu hinterfragen und die Resultate dieser Befragung mit offenzulegen, halte ich für ein Gebot der Verantwortung. Aber den Zeilenumfang und die Zeit dafür muss man natürlich erst einmal eingeräumt bekommen.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit?
Da die Literaturwissenschaft mein Hauptberuf ist, kann ich diese Frage kaum mit einem „Nein“ beantworten. Ich lese Literaturtheorien freilich selbst als Literatur, also als Verhandlungen des Zusammenhanges von Welt und Sprache. Dementsprechend verfahre ich in der Kritik eher eklektizistisch: Mitunter ist Theorie im Spiel, ohne einfach „angewandt“ zu werden. Als für das Rezensionswesen immer von Neuem fruchtbar erweist sich etwa der abgelenkte Blick der Mediengeschichte. Man erfährt oft viel über Bücher, wenn man danach fragt, wie sie inszeniert werden, oder bei wem sie wo und wann zum Liegen oder Stehen kommen.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Weil das Florett dem Säbel immer vorzuziehen ist, vor allem erst einmal Wiebke Porombka. Ihren Texten merkt man das Erkenntnisinteresse an, genau: Die richtigen Fragen sind wichtiger als das scharfe Urteil. Mich regen diese Kritiken immer sehr zum Nachdenken an und das gibt dem Leben doch ein bisschen Freude. Man liest sie gerne, weil am Ende der Besprechung oft das Gefühl bleibt, dass sie das Geschriebene vermutlich immer noch beschäftigt und man jetzt eigentlich gerne mit ihr weiterdiskutieren würde. Sie ist sehr klug. Bewundernswert.
Auch sehr treffsicher und präzise, aber ganz anders im Gestus wiederum schreibt Richard Kämmerlings. Von seinen Kritiken habe ich vor allem gelernt, die Linie zu halten, also: das Gesehene zu bündeln, ein Argument zu entwickeln und sich dabei nicht durch Jubelstürme des Betriebs irritieren zu lassen. Hat im Zweifel auch einen guten Punch, also das, was mir abgeht. So ein bisschen der Mickey Rourke der deutschsprachigen Literaturkritik. Darf man das sagen – oder wäre das dann kein Lob mehr?
Wiederum mit ganz anderen Qualitäten überzeugt mich Tilman Spreckelsen, dessen Texten man die Liebe zur Literatur anmerkt. Stilistisch von außerordentlicher Qualität und ungeheuer belesen. Ein Autor. Wir kennen uns auch, ich wäre also befangen, wenn es hier um Preisgelder ginge. Aber man kann von ihm auch viel lernen, wenn man ihn kennt.
Diese drei schätze ich am meisten, aber ich lese und mag freilich auch anderes. Den Blog von Jan Drees zum Beispiel.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Von George stammt der Satz, dass man nur fünfzig Bücher besitzen solle, die dafür alle aber von Hand abgeschrieben. Wäre eigentlich ein gutes Richtmaß. Dass die literarische Urteilskompetenz sich proportional
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