You forget what you want to remember and you remember what you want to forget.
(The Road)
1933 geboren, wächst Cormac McCarthy in Knoxville/Tennesse in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Sein Vater, ein wohlhabender Rechtsanwalt, beschäftigt eine Anzahl an Dienstboten und ermöglicht dem Sohn eine klassische Bildung in einer katholischen Eliteschule – die der junge Cormac trotz einer Liebe für Bücher regelmäßig schwänzt.
Früh ist er von einem ganz anderen Leben fasziniert, abseits bürgerlicher Konventionen und Komfort. Er ist bricht allein in die Wildnis auf und findet sich wegen kleinerer Vergehen gelegentlich im Gefängnis wieder, wo er früh Bekanntschaft mit all jenen Gestrandeten, Verlorenen und Getriebenen macht, die von da an sein Werk bevölkern.
Nach einem kurzen Intermezzo bei der Air Force in Alaska widmet er sich nur noch dem Schreiben (auf einer gebrauchten Olivetti aus dem Pfandhaus). Eine erste Ehe, aus der ein Sohn hervorgeht, ist nur von kurzer Dauer. Mit Hilfe von Stipendien bereist er Europa. 1966 heiratet er die Sängerin Ann de Lisle und lebt mit ihr eine Zeitlang auf Ibiza.
1969 zieht das Paar in eine von McCarthy umgebaute Scheune in Louisville/Tennesse. Die bedrückenden materiellen Verhältnisse und McCarthys einzelgängerische Ungeselligkeit führen 1976 zur Trennung. McCarthy bricht daraufhin seine Zelte in Tennesse endgültig ab und vagabundiert durch den Südwesten, meidet dabei die großen Städte, übernachtet im Freien oder – wenn er mal Geld hat – in heruntergekommenen Motels.
Das Manuskript seines ersten Romans The Orchard Keeper (1965) beeindruckt William Faulkners legendären Lektor Albert Erskine bei Random House, an den sich McCarthy gewandt hat, weil er niemand anderen kennt. Verkauft hat McCarthy davon gerade mal dreitausend Exemplare – ein Schicksal, dass alle nachfolgenden Romane teilen, bis 1992 All the Pretty Horses ein unerwartet großer Erfolg und mit Penelopé Cruz in einer Hauptrolle verfilmt wird. „Ich habe Glück gehabt im Leben – ich habe nie eine einzige Zeile geschrieben, um Geld damit zu verdienen“, sagt er später in einem Interview.
Anders als bei Faulkner, dessen Bücher eine Chronik des Verfalls des Südens der USA sind, ist bei McCarthy schon alles verspielt, vernichtet, verloren, sodass es nichts mehr zu betrauern und zu beklagen gibt – seine Bücher sind keine Jeremiaden. Die Protagonisten der frühen Romane tragen noch groteske Züge, sind auf absurde, manchmal geradezu perverse Weise miteinander verstrickt, dass man im Hintergrund das höhnische Gelächter eines göttlichen Puppenspielers zu vernehmen glaubt, der eher dem bösartigen Demiurgen der Gnosis gleicht als dem Jesus des Neuen Testaments. Derselbe Typ, der in The Orchard Keeper einen Anhalter aus einer Laune heraus tötet, steht – ohne zu wissen, wer er ist – dessen Sohn wie ein väterlicher Freund zur Seite, während ein Eremit über den Leichnam des Vaters wacht und auf den Tag der Abrechnung wartet.
McCarthys frühe Romane The Orchard Keeper, Outer Dark (1968), Child of God (1974) und Suttree (1979, an dem McCarthy zwanzig Jahre lang schrieb) weisen Spuren von McCarthys umfassender Bildung auf und setzen archetypische Figuren der Weltliteratur in Szene. „Bücher sind aus Büchern gemacht“, sagte McCarthy einmal, ähnlich wie Picasso, der behauptete, beim Malen stünden die Künstler der Vergangenheit geschlossen hinter ihm.
Cornelius Suttree hat wie McCarthy seine Familie hinter sich gelassen und lebt nun in einem Hausboot auf einem Fluss – die Verwandtschaft mit Stephen Dedalus, der gern am Meer spaziert, und seinem Schöpfer James Joyce, der Dublin für immer Lebwohl gesagt hat, ist offensichtlich. Zugleich ist der Fluss auch der Fluss Styx der griechischen Mythologie, mit dem Unterschied, dass bei McCarthy die Toten und die Lebenden nicht getrennt sind, sondern dieselbe Sphäre bewohnen. Sie müssen auch nicht sterben lernen wie bei Montaigne. Der Tod ist sowieso überall, das Leben ist unweigerlich ein Leben auf den Tod zu, ist von Geburt an in ihn gebettet. Im Fluss, in dem Suttree seine Fische fängt, treibt ab und an eine Leiche vorbei.
Für Schriftsteller bietet McCarthys Stil die Möglichkeit, in der eigenen Arbeit am Regler zu drehen: Was spreche ich aus, was lasse ich unausgesprochen?
Lester Ballard, der Protagonist von Child of God ist mutterlos aufgewachsen, den Vater findet er erhängt in der Scheune. In weiterer Folge wird das Grundstück versteigert, Ballard steht mit nichts da, niemand kümmert sich um ihn – was dazu führt, dass er regelrecht verwildert. Nachdem er die Leiche einer Frau geschändet hat, wird er selbst zum Mörder und landet am Ende in einer Höhle im Wald, wo er die Leichen seiner weiblichen Opfer lagert, deren Kleidung trägt und sich aus ihren Skalps eine Perücke fertigt (man denkt unwillkürlich an den Serienkiller Buffalo Bill in Das Schweigen der Lämmer). Lester Ballard erscheint wie andere Protagonisten bei McCarthy als die blinde Natur, die von Moral, Gut und Böse nichts weiß – die Schuldfrage stellt sich erst gar nicht. Ein Naturzustand im Geiste von Hobbes oder gleich de Sade, nicht von Rousseau.
In den siebziger Jahren lässt sich McCarthy im texanischen El Paso nieder, wo er in einem einfachen Steinhaus lebt, in dem immer wieder mal die Klimaanlage ausfällt. Grenzland, Klapperschlangenland, wo es im Sommer über vierzig Grad heiß ist. Jenseits der Grenze liegt Ciudad Juarez, das für seine unfassbare Anzahl ermordeter und spurlos verschwundener Menschen (überwiegend Frauen) weltweit bekannt wurde – eine Chronik des Grauens, die Roberto Bolano in 2666 literarisch verarbeitet hat (und die auch den Hintergrund von Denis Villeneuves Film Sicario aus dem Jahr 2015 bildet).
Mc Carthy bleibt im selben Fach – „Southern Gothic“ (mit seinen Vorgängern von Twain über Poe bis Faulkner) –, wird jedoch von der gnadenlosen Landschaft und seiner blutgetränkten Geschichte, dazu inspiriert, die Tonlage zu wechseln. Das Groteske und Absurde weicht dem Apokalyptischen, die zwischen vielen Tonlagen und Farben changierende Prosa bekommt eine alttestamentarische Strenge und Wucht. „Rough Southern“ nennt man dieses Genre, das seine musikalische Entsprechung in Johnny Cashs Alterswerk hat, wo er im Song „When the man comes around“ am Ende aus der Apokalypse nach Johannes zitiert: „And I heard a voice in the midst of the four beasts / And I looked, and behold a pale horse / And his name that sat on him was death, and hell followed with him“.
In Blood Meridian (1985), das heute zu jenen Werken zählt, die in den USA weit über die Literatur hinaus wirkten, ist dieser Mann Judge Holden, ein riesiger, kahl geschorener, schneeweißer Albino, der nach reinem Gutdünken Menschen tötet oder am Leben lässt. Er führt eine Truppe skrupelloser Männer an, die dafür bezahlt werden, im mexikanischen Grenzland mit den Indianern aufzuräumen, eigentlich: sie im Sinne eines Genozids für immer von der Erde zu tilgen.
McCarthys unsentimentale und wertfreie Schilderungen erinnern an die Darstellung Schillers von der Einnahme Magdeburgs durch den katholischen Grafen Tilly im Dreißigjährigen Krieg: „Frauen werden in den Armen ihrer Männer, Töchter zu Füßen ihrer Väter misshandelt. Dreiundfünfzig Frauen fand man in einer Kirche enthauptet. Soldaten vergnügten sich damit, Kinder in die Flammen zu werfen. Andere spießten Säuglinge an den Brüsten ihrer Mütter mit der Lanze auf. Tilly meinte, der Soldat muss für seine Gefahr und Arbeit etwas haben.“
Am Friedhof von El Paso liegt einer der brutalsten Serienkiller in der Geschichte der USA, John Wesley Hardin, der Menschen im Nachbarzimmer durch die Wand erschoss, weil ihn ihr Schnarchen störte. Vierundvierzig Menschen sollen zwischen 1868 und 1878 auf sein Konto gehen – eine Zahl, auf die Anton Chigurh, der Auftragskiller in No Country for Old Men, mit der Zeit sicher auch gekommen ist. Im Unterschied zu jenen, die töten, um zu leben, lebt Chigurh, um zu töten – etwas, das Sheriff Bell nur hilflos zur Kenntnis nehmen kann, während er hinter dem Killer aufräumt.
Blood Meridian und No Country for Old Men spielen am konsequentesten McCarthys Überzeugung durch, dass der Mensch im Grunde nicht für die Welt geschaffen ist. Sie war vor ihm da und wird auch noch da sein, wenn er wieder von ihrer Oberfläche verschwunden sein wird – gleichgültig, wie viel er auf dem Weg dorthin von ihrer Vielfalt und Schönheit zerstört hat.
Es ist kein Wunder, dass McCarthy eine Vorliebe für Astro-Physik hat. Von ihrer Warte aus erscheint der Mensch marginal, eine Fußnote. Dasselbe gilt auch für die USA. Im Gegensatz zum weit verbreiteten und politisch einflussreichen Exzeptionalismus, der für die USA eine Sonderstellung unter den Nationen vorsieht, verharrt das Land für McCarthy im Zustand eines riesigen „Provisoriums“. Die Eroberung des Westens und die damit verbundene Ausrottung der Ureinwohner, der Unabhängigkeitskrieg, die amerikanische Verfassung, die Ermordung Kennedys, Trump – alles nur ein völlig überbewertetes, de facto belangloses Zwischenspiel in der Geschichte des unvermindert expandierenden Universums.
Die Verfilmung von No Country for Old Men (2007) durch Ethan und Joel Coen ist eine der besten Literaturverfilmungen überhaupt, gerade weil sie sich nicht sklavisch an die Vorlage hält. Während bei McCarthy Strenge, desillusionierte Lakonie und unerklärliche Gewalt dominieren, gibt es bei den Coens Augenblicke jenes tiefgründigen schwarzen Humors, der schon ihre frühen Arbeiten wie Fargo (1996) und ihr Erstlingswerk Blood Simple (1984) prägt, das nicht zufällig in einem texanischen Kaff spielt und aberwitzige Gestalten auftreten lässt, wie sie für McCarthys Frühwerk typisch sind.
Die Kamera von Roger Deakins fängt die Facetten der texanischen Landschaft spektakulär ein – eine Landschaft, die aus unzähligen Western allzu bekannt scheint, von spröder, gefährlicher, dabei erhabener Schönheit. Sie zu bezwingen und zu kultivieren weist alle weißen Männer in den Filmen von John Ford als Pioniere und amerikanische Helden aus. In Deakins Bildern dominiert jedoch eine von einer unbarmherzigen Sonne ausgeleuchtete Menschenfeindlichkeit: Shopping Malls in der Wüste, hitzeflimmernde Highways, ausgedörrte Prärie.
Anders als Ford hätte McCarthy den von John Wayne gespielten, desillusionierten Kriegsveteranen in The Searchers (1956) seine Nichte Debbie erschießen lassen, nachdem diese als kleines Mädchen von Comanchen entführt wurde und mit der Zeit eine von ihnen geworden ist.
Für Schriftsteller bietet McCarthys Stil die Möglichkeit, in der eigenen Arbeit am Regler zu drehen: Was spreche ich aus, was lasse ich unausgesprochen? Wie evoziere ich einen Sub- oder Kontext, eine zweite Ebene, die im Untergrund wuchert oder tobt oder wie ein leises Wimmern den Text durchzieht, eine Erinnerung, die zu schmerzlich ist, sie auszusprechen, ein existenzielles Verhängnis, von dem die Protagonisten anfangs nichts wissen (können), und das sie mit dem Voranschreiten der Handlung eher unabsichtlich zum Entsetzen aller enthüllen. Wieviel Sarkasmus verträgt ein Text (man denke an Virginie Despentes’ Vernon Subutex oder Rainald Goetz’ Johann Holtrop)? Wie schafft man es, allwissende, auktoriale Lakonie nicht zur Langeweile für die Leser werden zu lassen? Und was ist mit den „niederen“ Instinkten und Perversionen – Dinge, die aus der übervorsichtigen Gegenwartsliteratur so gut wie verbannt sind?
McCarthys Romane sind ein Angebot, sich dahingehend auszuprobieren und dabei gewonnene Erkenntnisse in künstlerischer Konfrontation mit den Erschütterungen der Gegenwart auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu prüfen – so man das überhaupt will und nicht vorsorglich in die allseits beliebte Welt des Ersten oder Zweiten Weltkriegs abtaucht, um ihr „berührende“ Lebensläufe abzugewinnen.
Schon vor dreißig Jahren, als der globale Siegeszug des Kapitalismus und der Klimawandel gerade erst Fahrt aufgenommen haben, stellte McCarthy in einem seiner seltenen Interviews fest: „In unseren Tagen geht es nicht mehr um den Verfall der Kultur“ und die Zerstörung der Natur, „sondern um die Bilanz endgültiger Verluste. Wir sind wie primitive Stämme, die aus ihrer Kultur vertrieben werden und allmählich ihre Orientierung, ihre Identität, ihre Lebensfähigkeit verlieren.“
In The Road (2006) zieht ein Vater mit seinem Sohn durch ein postapokalyptisches Amerika – es könnte sich aber auch um jedes andere Land auf der Welt handeln. Ein nicht näher bezeichnetes, katastrophales Ereignis hat dazu geführt, dass die meisten Menschen tot sind, die Tiere beinah ausgerottet und die Pflanzenwelt so gut wie vernichtet. Eine Aschewolke bedeckt den Himmel, das Sonnenlicht dringt nicht mehr durch, es ist bitterkalt. Die Mutter des Jungen sah keinen Sinn mehr darin, in so einer Welt zu leben, und hat sich vorm Aufbruch der Familie ins Ungewisse umgebracht.
Vater und Sohn versuchen, sich zur Küste, durchzuschlagen, wo sie auf Wärme hoffen und auf Licht. Auf dem Weg dorthin müssen sie sich vor allem vor Kannibalen in Acht nehmen, die Jagd auf andere Menschen machen und sie in Kellern als Fleischvorrat halten. Einmal fällt der Junge einem Kannibalen in die Hände, der Vater kann ihn mit der letzten Kugel aus seinem Revolver töten und seinen Sohn retten. Ein anderes Mal stoßen sie unbemerkt auf drei Männer und eine schwangere Frau – um später ein erloschenes Lagerfeuer zu finden, in dem sich die verkohlten Reste eines Neugeborenen befinden.
Es ist eine Welt, in der sich der viel beschworene Begriff des Menschlichen als etwas Edles, Gutes und Schönes als jene Lächerlichkeit herausstellt, die er immer schon war. „Der Mensch ist immer nur so gut, wie die Welt ihm zu sein erlaubt“, sagt der Joker in Christopher Nolans The Dark Knight (2008).
Am Ende bleibt der Mensch ein Tier, das andere Tiere um seines Vorteils willen ausnutzt, tötet, sich im weitesten Sinn von ihnen nährt.
Um in einer solchen Welt zu überleben, muss man selbst ein Stück weit lernen, mitleidlos und grausam zu sein. Als sie auf einen alten Mann treffen und ihm etwas von ihrer Nahrung abgeben, erlaubt der Vater ihm nicht, sich ihnen anzuschließen. Ein anderer Mann versucht, ihnen die Vorräte zu stehlen – als er dabei erwischt wird, bestraft ihn der Vater damit, dass er ihm die Kleidung abnimmt und ihn nackt dem sicheren Tod überlässt. Als der Junge, in dem noch Empfindungen wie Mitgefühl und Vertrauen wurzeln, dagegen protestiert, lenkt der Vater ein – sie finden den Mann jedoch nicht mehr.
Der Junge wird vom Vater nicht nur als Hoffnung für die Menschheit angesehen – er soll „das Feuer bewahren“ –, sondern auch von McCarthy als Hoffnungsschimmer für die Leser inszeniert. Viele sind dieser trügerischen Fährte gefolgt und halten das Ende des Romans, als der Junge sich nach dem Tod seines Vaters nach anfänglichem Zögern einer Gruppe aus Erwachsenen und Kindern anschließt, für ein gutes. Aber niemand kann sagen, ob er ihnen als weiteres Maul, das es zu stopfen gilt, nicht doch zur Belastung wird oder ihm, wenn die Gruppe einfach nichts zu essen findet, als Außenseiter nicht noch ein ganz anderes Schicksal ereilt.
Wenn der Vater sich am Ende fragt, ob man „in der Zerstörung der Welt endlich erkennen könnte, woraus sie bestand“, weiß man zumindest, dass er die Romane von Cormac McCarthy nicht gelesen hat – denn der hat sich über die Absurdität und die „Hinfälligkeit von allem und jedem“ nie Illusionen gemacht.