Vor seinem Tod schien Michael Braun manchen wie eine Begleiterscheinung, Scharnier und Staffage, eine Omnipräsenz, ein Symptom dessen, was mit freundlichen Metaphern als Szene oder Betrieb bezeichnet wird: „Halb Pater familias, halb Direktor eines Flohzirkus,“ wie Gregor Dotzauer in seinem Nachruf notiert. Als kritische Kapazität auch „Miterfinder der neuen deutschen Lyrikszene.“
Es wird vielleicht eine Zeit kommen, wo man Michael Brauns sechzig bis achtzig Kritiken pro Jahr als Artefakte einer sehr eigenartigen Kulturgeschichte betrachten wird, die er seit 1986 kontinuierlich aus sich herausgeschleudert hat, zuerst in der von Michael Buselmeier mitgegründeten und von Manfred Metzner herausgegebenen Heidelberger Wochenzeitung Die Communale.
Zwei-, drei-, vierspaltige oder halb- und ganzseitige Kritiken wird man in Archiven auf vergilbten Zeitungsseiten im rheinischen Format mustern, in den Nürnberger Nachrichten, der taz, der Zeit, der Badischen Zeitung, der FAZ, der Basler Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Rheinpfalz, der Saarbrücker Zeitung, dem Tagesspiegel, der Neuen Züricher Zeitung usf. – man nenne eine beliebige Tages- oder Wochenzeitung, und man wird darin den Namen Michael Braun unter einer Besprechung oder einem Interview entdecken.
Diesseits und jenseits der Frist
Doch das Werk dieses obsessiven Stimmensammlers erschöpft sich weder im publizistischen Tun noch im intensiven Wirken im Rundfunk. Vielmehr wird es komplementiert bzw. grundiert durch die fortwährende Beziehungsarbeit mit der lebendigen Literaturkultur. Kein opportunistisches Netzwerken, sondern ein kundiges Ausloten der Haltungen und Stimmungen von Autor:innen und Institutionen. Jahrzehntelang moderierte er Sommer für Sommer etwa beim Erlanger Poetenfest, begleitete kritisch unzählige Abende in Literaturhäusern in der gesamten Republik. Sein Wirken in zahlreichen Entscheidungsgremien und Jurys, etwa beim Open Mike oder dem Leonce und Lena-Preis, warf zuerst Spotlights auf Autoren wie Nico Bleutge oder Kerstin Preiwuß.
Trotzdem war Michael Braun, im Gegensatz zu den Sandburgbaronen der Gegenwartsliteratur, nicht wirklich ein Machtmensch. Gegenüber jungen Autor:innen trat er nie als Gönner oder Förderer oder wohlgesinnter Gatekeeper auf, sondern nobilitierte ihr Schreiben, indem er ihnen seine bescheidene Anerkennung für ihre Fähigkeiten schenkte, in ihnen das Selbstvertrauen ins eigene Vermögen nährte. Die Größe von Michael Braun entstand nicht lediglich aus der beflissenen Klugheit seiner Kritik, sondern in der zarten Umsichtigkeit seines Habitus, aus seiner Einsicht, dass alle Literatur sowohl Können, Gunst und Zufall ist, dass sie als ein Trotzdem und als ein Wunder entsteht unter mehr oder weniger günstigen und ungünstigen sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen, dass die Literatur ihre Relevanz, Popularität, auch ihre Liebhaber und Leserschaft oft aus Gründen gewinnt, die nicht immer aus ihr selbst entspringen oder von ihren Autor:innen zu beeinflussen ist, dass sie das wankelmütige Produkt aller Ungeschicklichkeit des Genies ist.
Und hier ist vielleicht die wertvolle Autonomie seiner Urteilskraft anzusiedeln. Keinem Zeitungskonzern verpflichtet, von den Politiken der öffentlich-rechtlichen Anstalten ausgenommen, bei redaktionellen Zänkereien der Zeitschriften und Magazinen außen vor, gehörte Michael Braun zu der raren Spezies der unabhängigen Kritiker, das heißt, unabhängig und doch verstrickt in die Launen und Trends des Betriebs, für die er eine empfindliche Antenne besaß. Aber war dies der einzige materielle Grund seiner Unabhängigkeit?
Als ich ihn kennenlernte, war er gerade durch eine experimentelle Krebsbehandlung dem Tod von der Schippe gesprungen. Hätte er nicht im Rhein-Neckar Gebiet gelebt, wo das Deutsche Krebsforschungszentrum eine exzeptionelle Versorgung der Menschen garantiert, sondern – sagen wir in Brandenburg oder im Burgenland – er wäre viel früher heimgegangen. Diese liminale Erfahrung, diese Tuchfühlung mit dem Tod, schenkte ihm eine Urteilskraft, die alles Menschliche ins relative Verhältnis zu setzen wusste, machte ihn freier und klarer für das, was im Leben und in der Ästhetik zählt. Es ist tragisch festzustellen, wie sehr die experimentelle Spitzenmedizin im Neckar-Athen Heidelberg zwar vermochte, die Frist dieser Seele für ein paar Jahre zu verlängern, nur damit ihn am 23. Dezember 2022 eine relativ banale Lungenembolie für immer fortnahm.
Quellen des Urteils
Seine Urteilskraft war klar, nicht unbeirrbar und schon gar nicht ohne Makel, aber an Wesentlichem orientiert; er wusste um die Gnade der großen Dinge, begriff sich aber selbst, wie es Denise Levertov einmal formuliert hat, als einen Floh auf dem Rücken des Leviathan. Man wird vielleicht einmal nachskizzieren, wo die formativen Augenblicke dieser Urteilskraft lagen und alle Skizzen werden bloß verzerrte Kritzeleien sein. Sie werden das Bild eines kleinen Ministranten am Altar der neuromanischen Christkönig-Kirche in Hauenstein zeichnen, der, wie es ein Kindheitsfreund auf der Beerdigung berichtete, mit weihevoller Akribie bei der Wandlung mit dem Klöppel genau auf die Mitte des Gongs schlägt (in der Pfalz verwendet man bei der Wandlung offenbar einen Gong und keine Glöckchen).
Oder man wird von langjährigen, zuverlässigen Bindungen erzählen, etwa dass Michael Braun und seine Frau Doris in Heidelberg denselben Friseur hatten wie die Verlegerin Angelika Andruchowicz, deren Geschäftspartner Manfred Metzner und der Kurator des Künstlerhauses Edenkoben Hans Thill. Man wird sich an die durchzechten Nächte bei den jährlichen Ausflügen der drei Freunde Michael Braun, Henning Ziebritzki und Hauke Hückstädt an ihre jeweiligen Heimatorte erinnern.
Dincer Güçyeter wird feststellen, wie besorgt der Kritiker im Frühjahr und Sommer 2022 nach Veranstaltungen sofort zurück nach Heidelberg eilte, weil seine Frau in kardiologischer Behandlung war. Alexandru Bulucz wird über ein letztes Treffen am Berliner Hauptbahnhof berichten, bei dem die beiden über die wohl letzte Ausgabe der Zeitschrift Park sprachen. Man wird einen Schnipsel aus der taz (Abb. 1) von 1989 anführen, in dem die Redaktion auf Bitte von Michael Braun die Namen der Literaturzeitschriften nachträgt, die beim ursprünglichen Beitrag vergessen worden waren. Ulrike Draesner wird in der Zeit schreiben: „Selbst auf die Gefahr hin, sich zu täuschen, ließ er sich darauf ein, und er formulierte seine Fragen und Erkenntnisse in einer Sprache, die man mit Freude lesen wollte: einfach – auf jene Weise, die nur entsteht, wenn eine Sache wirklich durchdrungen wird.“
Beate Tröger wird an gemeinsame Aufnahmen mit ihm im Studio des Deutschlandfunks denken, an eine glückverheißende bronzene Löwenschnauze in München und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagen: „Woraus sich Michael Brauns kritisches Erkenntnisinteresse speiste, lässt sich auch durch einige Titel seiner zahlreichen Herausgeberschaften präziser fassen: Die Anthologien Aus Mangel an Beweisen und Lied aus reinem Nichts, zwei gemeinsam mit Hans Thill herausgegebene Bände mit deutschsprachiger Lyrik des 21. Jahrhunderts, weisen ebenso wie der Titel Was ich weiß, geht mich nichts an. Essays zum 50. Todestag von Günter Eich den Weg zu einer der Suche nach Wahrheit verpflichteten Skepsis, in die Offenheit bis in die Unsicherheit.“ Insa Wilke wird am Tag der Beisetzung in Berlin eine Kerze auf ihrem Schreibtisch anzünden. Freund und Verleger Andreas Heidtmann wird sich über eine Kette von Veranstaltungen zu Günter Eich wundern, die Michael Braun für 2023 bereits durchorganisiert hatte. Man wird glücklich über die Milde und Geduld lächeln, mit der Michael Braun Autor:innen ins Auge fasste: egal ob sie zu den ambitionierten Hausaufgabenmachern gehörten, den trendigen Wellenreitern, den Bibliotheksgescheiten, den naserümpfenden Formalisten, den punkigen Abseitsstehern oder den labilen Chaoten.
Andere werden im Gespräch feststellen, dass Michael Braun allein in den letzten zehn Tagen vor seinem Tod mit drei oder vier Dutzend Personen im Literaturbetrieb per Telefon, Mail oder persönlich in direktem Austausch gestanden war.
Und so sehr all diese Umstände zusammengenommen lediglich Anekdoten sein mögen, so sehr sind sie Wuchsspuren einer Urteilskraft, die das ästhetische Bewusstsein einer gesamten Szene mitprägte. Seine Kritik war auf intensive Weise persönliches Anliegen, nicht klüngelhaft oder parteiisch, fern vom Gebaren eines Funktionärs, vielmehr gewann sie durch ihre Involvierung, ihre Verstrickung in die Bewegung der Poesie an Sinn und Wucht.
Selbstverständlich vermochte Michael Braun ebenso eine scharfe Feder zu führen: Man denke nur an seine bissigen Kommentare zur helvetischen Literaturszene, für die er eine besondere Hassliebe kultivierte, obwohl er gerade in Basel eine der glücklichsten Phasen seiner Arbeit als Kritiker erlebte. Urs Allemann leitete in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren ein spektakulär umfangreiches Literaturfeuilleton in der Basler Zeitung, wofür er Michael Braun als sogenannten Pauschalisten angeheuert hatte.
Betrachtet man die Mediengeschichte der letzten vierzig Jahre durch das Schlüsselloch Michael Braun, wird man mit ihm sehr früh feststellen, wie sich nach dem 1990er-Boom an Publikationen, schnell eine Fragmentierung und Festivalisierung der Szene entwickelte, dass, wie er feststellte, die Literatur als ästhetische Kommunikation und Erfahrungsraum einen neuen Stellenwert gewann, ihre Anerkennungsmechanismen sich vom Markt entkoppelten und stärker von staatlichen Institutionen geprägt wurden.
Er hinterließ, außer auf WhatsApp, in den digitalen Literaturszene auch auf einer Handvoll Blogs seine Fingerabdrücke. Was er in Kommentarspalten unter Nachrichtenartikeln wahrnahm, betrachtete er unbekümmert als white noise. Die kulturalistische, anthropozänische und identitätspolitische Wende, sowie deren Abflauen betrachtete er als belebende Entwicklungen. Trotzdem war er bei aller Begeisterung fürs digitale Stock Trading letztlich ein Geschöpf der analogen Wirklichkeit.
Essentialistischer Nestbeschmutzer und harmoniebedürftiger Reaktionär
In dieser analogen Welt wird man einmal in der Basler Zeitung z.B. am 22. Oktober 1987 einen erbosten Leserbrief von einem Dieter Kief aus Kreuzlingen (CH) entdecken, darin es heißt: „Dabei tut Braun so, als beherrsche Diederichsen zumindest phasenweise die vernünftige Rede, vermöchte diese aber nicht durchzuhalten.“ Im Frühjahr des gleichen Jahrs wird man in der taz von Michael Braun eine polemische Streitschrift („Der Kritiker als Parasit. Nicht gehaltene Rede auf dem Kritiker-Treffen im Literarischen Colloquium“) über die vom Deutschen Literaturfonds organisierte Zusammenkunft mit dem Titel „Literaturkritik oder Literaturvermittlung?“ finden, darin heißt es aus der Feder des 29-jährigen „Stoikers“ aus der Pfalz: „Mein Tauschwert auf dem Markt der literaturbetriebsamen Eitelkeiten ist nicht allzu hoch zu veranschlagen. Meine Nestbeschmutzung wird daher die hier versammelten literaturkritischen Instanzen nicht sonderlich berühren, denn die folgenden masochistischen Thesen sind nicht neu. ’Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen,‘ notiert Karl Kraus und trifft damit haarscharf den Kern der Kritiker-Existenz. […] So kämpft sich der Durchschnittskritiker mit seinen immergleichen Maßstäben und Verdikten von Buch zu Buch und lässt seine Opfer für die unendliche Langeweile büßen, die er verspürt. Da er zunehmend an seiner anachronistischen Existenz leidet, bedarf er gruppentherapeutischer Ermunterungsveranstaltungen—wie dieser hier im LCB. […] Und so verabreichen sich die hier anwesenden Kollegen in blendend formulierter Rede die dringend benötigten Streicheleinheiten. […] Und nach der Tagung und nach dem gähnenden Sommerloch werde ich mit Ihnen, liebe Kollegen, dafür sorgen, dass sie weiter aufsteigen: die bunten Seifenblasen aus den dickleibigen Literatur-Beilagen, die dem lesenden Publikum als Bildungsdessert gereicht werden. Ich danke Ihnen.“
Detaillierte Materialkenntnis anstatt Belesenheit
35 Jahre nachdem diese Polemik erschienen und schon wieder längst vergessen ist, stehe ich Anfang April 2022 um sieben Uhr in der Früh mit dem Auto vor dem Haus in der Heidelberger Rudolf-Hell-Straße, um einen etwas grantigen Michael Braun einzusammeln, da wir uns eine Exkursion zur Ruhestätte der Asche von Günter Eich in Alfermée am Bieler See vorgenommen hatten. Während der Fahrt in die Schweiz sprachen wir naturgemäß über das, was wir kürzlich gelesen hatten, informierten uns gegenseitig über den neuesten Gossip und bestaunten die Landschaft. Als wir um 11:20 Uhr unsere Recherche bereits abgeschlossen hatten, war ich etwas überrascht, da wir praktisch schon nach zwei, drei Serpentinen überm Ufer zu einem brachen Weinberg kamen, einem sonnigen Steilhang, der im oberen Feld eine Gruppe von in den Ästen gelblich bemoosten Flaumeichen beherbergte.
Michael war der Hang zu steil, ihn zu erklimmen zu anstrengend. Ich zog ihn auf, sich zusammenzureißen und mit hochzusteigen. Doch Michael wollte nicht und fotografierte stattdessen ein Passagierschiff unten auf dem See. Ich ging also alleine hinauf, um die Bäume genau zu bestimmen und ein paar Fotos zu machen. Vor den drei Bäumen lagen wallartig in einem Halbkreis, aufeinandergestapelt wie Artilleriemunition, vielleicht hundert aus dem erschöpften Boden gezogene Rebstämme, fasrig und grau. Die Bäumchen schienen als seien sie, seit Ilse Aichinger oder Heinz Schafroth bei der Ausstreuung von Eichs Asche das Foto von ihnen gemacht hatten, das wir zur Identifizierung der Stelle herangezogen hatten, so gut wie gar nicht gewachsen. Sie standen, ähnlich knorrig wie die toten Rebstämme, im harten Hangwind, der über die Jahrzehnte ihre Äste so gewunden hatte wachsen lassen.
Als ich zurückkam und Michael die Nahaufnahmen auf meinem Handy zeigte, hatte er genug gesehen. Im Übrigen war dies der einzige Halt auf unserer Recherche-Reise. Er wollte gar nichts dokumentieren, wie ich erst später merkte, sondern an diesem Ort einfach nur gewesen sein, ihn wie ein Pilger besucht haben.
Danach fuhren wir in die Stadt, besuchten das Schweizer Literaturinstitut und spazierten durch die Gassen. Er berichtete darüber, wie sehr er das Unterrichten am Leipziger Literaturinstitut genossen hatte und sich darauf freute, die Teilnehmer:innen seines Seminars einmal persönlich kennenzulernen, da zuvor die Lehrveranstaltungen via Zoom hatten stattfinden müssen.
So sehr er sich manchmal erschöpft gab, etwa vom Steilhang vor der Eich-Asche, so unerschöpflich war andererseits sein Hunger, seine Neugier, eigentlich seine Lust auf neue Dichtung. Es ist die schlichte Wahrheit. Michael Braun hing nicht bei Veranstaltungen ab, um sich den wichtigen Gesichtern zu zeigen, er las nicht was angesagt war, damit er sich im Legoland der Literatur ein hohes Türmchen zusammenstecken konnte, sondern weil die Lyrik seine Wahlheimat war.
Micheal Braun hat, wie viele bereits angemerkt haben, in den vierzig Jahren seiner Leserschaft vielleicht mehr Einzelgedichte kommentiert als irgendeine andere lebende Person. Als reger Gast im Radio, z.B. im Saarländischen Rundfunk oder dem Deutschlandfunk, schrieb er jahrelang jeden Tag einen Kommentar zu einem zeitgenössischen Gedicht. Auch als die Reihe eingestellt wurde, verfolgte er diese Form weiter, z.B. im Lyrik-Logbuch in VOLLTEXT oder in mehreren buchlangen Folgen des Gelben Akrobaten (Poetenladen, Leipzig).
Michael Braun hat mehrere tausend Gedichte individuell kommentiert. Man nenne einen zeitgenössischen Autor oder eine Autorin und man findet einen Kommentar von Michael Braun. Er erforschte und genoss die zeitgenössische Lyrik auf der mikroskopischen Ebene von Laut, rhetorischer Figur, Zitat und Metapher, aber auch im biographischen Antlitz und Gegenüber ihrer Autor:innen sowie auf der makroskopischen Ebene der publizistischen Kontexte, Festivals, Förder- oder Bezugssysteme und Traditionen.
In monatlichen Kolumnen verschaffte er den Lesern jahrzehntelang einen Überblick über Entwicklungen in der wuseligen Landschaft der Literaturzeitschriften, wies oft auf die erste Nummer einer neugegründeten Zeitschrift hin oder kritisierte die Müdigkeit etablierter Formate. Er sah die Pflanze in Blüte, Wuchs, Gattung, Samen, Biotop und Dünger. Als er einmal für einen Umzug seine Bibliothek ausdünnen wollte, schenkte er mir acht Umzugskartons mit Bänden von zeitgenössischer Lyrik, um nur einen Bruchteil der über die Jahre hin angesammelten Doubletten wegzuschaffen.
Kontinuität und Urteilskraft
Wie in den Stunden, in denen ich mich mit Michael Braun z.B. im Café am Römerkreis in Heidelberg ausgetauscht habe, entging mir auch an diesem Tag in den Gassen Biels nicht, wie sehr er an diese seltsame Form der Expressivität glaubte, an das geschriebene Wort, nicht wie ein bockiger Protestant an eine hinbuchstabierte scriptura, sondern an die skriptural eingefangene Flattrigkeit der Poesie selbst. Michael Braun war ein wirklicher Apostel dieser babylonischen, feuerzüngigen, gemachten und zugleich unverfügbaren Melodie, ihr Hüter, ihr Verehrer, ein Kustode von Rhythmus und Brevis. Aber er konnte auch zornig sein auf diese Poesie, ihre Urheber:innen, ihre Verwalter und auf jene, die ihre Irrtümer auf sie abwälzten. Hierin bestand die fehlbare, irrtumsreiche und liebevolle Gültigkeit seines Urteils.
Bei der Beerdigung besorgt der junge Pfarrer Daniel Johann das Totenoffizium auf dem Friedhof Heidelberg-Rohrbach. Er trägt eine schwarze Sutane, die er bei der langen Prozession hin zum Grab um einen geistlichen Rauchmantel erweitert. Es ist eine seltsame Zusammenkunft, vieler bekannter Gesichter, gleichzeitig anachronistisch und vertraut, als am 5. Januar 2023 in der 1913 nach dem Entwurf von Wilhelm Collmer erbauten Rotunde der Aussegnungshalle, sich im Kreis von 150 Personen die Tröstung durch die Form zuträgt: aus einem silbernen Fässchen, an einer feingliedrigen Kette suspendiert, schwingend, rauchen Harz und Anis, darin das schwermütige Getriebe eines Requiems, am Grab später plötzlich ein Salve Regina sowie die letzte Metapher der Herkunft „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“ und das vieläugig staunende Schweigen vor der schwarzen Lücke im Gottesacker.