Karthause und Containerterminal

Paul-Henri Campbell zu Daniela Danz‘ Gedichtband Portolan

Online seit: 8. September 2025

Daniela Danz verabschiedet sich in ihrem neuen Gedichtband Portolan von den sicheren Böden, vom festen Land – vom Kern- und Kronland. Stattdessen tasten ihre Gedichte die Konturen der Küsten ab, folgen den Winden über die Meere. „Am Abend kommen die Schwimmer / aus der Nehrung zurück / wie vernichtend geschlagene Heere / sie zählen einander ein letztes Mal durch / ohne zugeben zu können / dass es wieder Verluste gab,“ heißt es etwa im Gedicht „Containerterminal Klaipėda“. Als Portolane (von lat. portus, dt. Hafen) bezeichnen Historiker mittelalterliche Seekarten. Doch die Dichterin Daniela Danz betreibt keine nostalgische Retrospektive: Sie entwirft, wie das soeben anzitierte Gedicht vom lettischen Containerhafen zeigt, eine Lyrik, die in den unsichtbaren Verflechtungen des globalen Kapitalismus sowie den geopolitischen Iliaden der Gegenwart steht. Etwas weiter im Gedicht heißt es: „die Mannschaft / empfängt endlich / Nachrichten aus der Heimat: / in Wladiwostok ist eine Mauer / auf die davor parkenden Autos gestürzt / drei philippinische Seemänner wurden / entführt die Frau ist krank im Banat / hat es immer noch nicht geregnet.“

Politisch mit allen Sinnen

Die Dichtung von Daniela Danz selbst spielt auf einer akkordreichen Klaviatur: In Portolan schillern mythologische Motive ebenso durch wie auch die essenziellen Debatten der Gegenwart. Als Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz trägt die Dichterin persönlich Verantwortung und Gestaltungswillen in der Kulturpolitik.


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Dieses institutionelle Engagement öffnet ihre Poesie auf die Welt hin, nimmt dieser Dichtung die andernorts etwas fad gewordene Schöngeistigkeit und erfüllt ihre Verse mit spürbarer Dringlichkeit und Umsicht. Diese drückt sich nicht in groben und poetisch maskierten Apellen aus, sondern auf einer anderen Ebene. Zum Beispiel hier: „Als wir klein waren noch in Schubladen schliefen / schrieben wir Nachrichten mit den Wimpern glaubten / an das Verstehen ließen die Dinge ihre Anwesenheit / erzählen das Meer war ein Ort dem noch nichts die / Wildnis ausgetrieben hatte wir schrieben mit Fingern / einander Worte auf den Rücken wischten sie mit der / Handfläche aus.“

Diese Lyrik ist vor allem eine Umwälzung der Gefühlsprägung. Das ist hochpolitisch. Das ist Arbeit am Wort. Danz, die z.B. mit ihrem Libretto zur Oper über den NSU Mordfall Halit Yozgat (2021) oder in ihrem RomanTürmer (2006) zur DDR die verdeckten Formen von Gewalt und Ressentiment thematisiert, besitzt in Portolan ein ebenso scharfes Auge, ohne die poetische Kraft ihrer Sprache abstumpfen zu lassen. Das ist, was Lyrik leistet. Nicht in einleuchtenden und richtigtuerischen Argumentationsketten, wie es Essays oder Reden gelegentlich tun, daherzukommen; keine emphatischen, aber ebenso oberflächlichen Apelle, die zwischen den Zeilen ins Leere gehen, finden sich hier. Vielmehr bietet Daniela Danz eine allmähliche Verschiebung unserer Empfindungen per Hexameter und Pentameter.

Portolan verwurzelt den pelagischen Leviatan durch existenzielle Verortungen des lyrischen Ichs in konkrete Realitäten hinein – etwa im Gedicht „Mariupol im Sommer 2018“; – oder verknüpft sie mit konkreten Personen (z.B. Werner Söllner). Das schenkt Wärme und Antlitz. Dadurch färbt sich das in diesem Band befindliche Lexikon mit einer individuellen Dramatik und Konnotation. Der Verswortschatz verdichtet sich zu einer Werkssprache und diese erschafft zwischen zwei Buchrücken eine eigene Welt: So hört man das Echo in dem Text „[Container]“ im finalen Kapitel des Bandes als einen Widerhall aus den ersten Gedichten: „wir haben uns zurückgezogen / ich weiß nicht ob wie eine Schnecke auf die man tritt / und ihr Haus zersplittert wie nichts / oder wie eine Schildkröte deren Panzer standhält / wer sind wir: Seeleute oder Passagiere die es all die Jahre / nicht merken wollten / gefangen in den kleinen Etappen des Konsums.“

Auf diese Weise sind gerade Texte, die auf verschiedene Kriegszustände in der Gegenwart reagieren, berührend – und glaubwürdig. Es ist offenbar eine Grundüberzeugung in Portolan, dass der Welthandel eine Welt der Gewalt gebiert: wir segeln unter zypriotischer Flagge / der Captain ist Este / der Chief Russe die Offiziere Rumänen / die Mannschaft Ukrainer / die Ukrainer versinken in lange dunkle Gespräche / sie sagen страшні und sind im Krieg / wo ihnen alles schon geschehen ist / was uns je geschehen könnte / weit weg sind sie bei den Kindern / und was sie gesehen haben / und was einer dem andern erzählt hat.“

Karthause: Knoten & Kukulle

Aber dann wechselt die Verssprache an ein anderes Gestade: begibt sich Portolan für die Dauer eines fünfteiligen Gedichtzyklus in eine Karthause. Nein, nein – keine Sorge, keine keusche Stundenbuchpoesie hier. Nur die gesammelte Innigkeit einer Karthause, ein ebenso randständiger Ort, der von der lärmenden Menschheit durch ein Meer von Schweigen getrennt ist: „Lieber Bruder baue meinem Vergnügen einen harten Schemel / der Boden meiner Zelle schwankt in der schweren See der / Unterhaltung ich habe auf dem Wandbord geschlafen und quer / über der Schwelle aber was ich suche, finde ich überall und / alles ist mir zuhanden […].“

Visitiert da eine Protestantin ein Schweigekloster? Sicher, es findet sich in dieser Poesie eine gewisse Kühle, auch Strenge. Davon profitiert die Leserschaft. Insbesondere die hymnischen und odenähnlichen Tonlagen, die in der mystischen Sufi-Tradition die Schwankung zwischen Veräußerung und Inwerdung zeigen, gewinnen durch diese Danzische Strenge: „ich stand am Wasser sah in den Himmel / und verschwand / ich verschwand / im Übergang von Wasser und Himmel / war ich ein Übergang / gelegt in die Linie des Horizonts / die Linie des Horizonts / in die ich mich auflöste / in die ich mich auflöste / um Kontur der Schwebe zu werden.“ Da sind sie: die Elemente dieser Kontemplation; sie wirken kein bisschen manieriert – das Wiederholungswort am Versende sowie die anadiplosische Wiederaufnahme eines Themas aus der Vorzeile, das sich graduell zu einer Verkettung auswächst. Nicht zufällig sind manchen Kapiteln Zitate von z.B. Hölderlin oder Rumi vorgesetzt.

Obwohl ausgerechnet das Jahr 2025 scheinbar das Jahr der buchstarken Langpoeme war, vereint Portolan Einzelgedichte nicht zu einem großen Ganzen: Portolan, denke ich, versammelt sie lieber anstatt sie konzeptuell zu zwingen und zu vereinen. Das schenkt diesem Band eine herrliche Offenheit, sodass man sich während der Lektüre an einzelnen Texten berauschen kann, ohne sich über die restlichen Poeme allzu sehr Gedanken zu machen; Portolan offeriert aber zugleich zahlreiche Möglichkeiten zu einer assoziativen, synoptischen Lektüre, bei der Zusammenhänge, Linien, Widerhall und Haltungen zwischen den Einzelgedichten hervortreten. Oder, wie es im Poem „Zitadelle“ heißt: „Ich versuche mir die Fische unter uns vorzustellen / um sie zu zählen aber es gelingt mir nicht / sie schwimmen zu sehen sie weinen alle / wegen uns über uns wegen der verfahrenen  / Zusammenhänge aber ich kann mich nicht verständigen.“

Paul-Henri Campbell, geboren 1982 in Boston, lebt als Lyriker, Essayist und Theologe in Unterfranken und Wien. 2018 erhielt er den Hermann-Hesse-Förderpreis, 2021 übernahm er die Chamisso-Poetikdozentur. Zuletzt erschien der Gedichtband innere organe (Verlag Das Wunderhorn, 2022). Campbell ist zudem Herausgeber des LyrikLetters.

Daniela Danz: Portolan
Gedichte
Wallstein, Göttingen 2025