Zwischen den Lockdowns

Norbert Gstreins Kolumne „Writer at large“

Online seit: 22. August 2022

Um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und ein paar unerfreuliche, kleine Geschichten zu erzählen, die mir zwischen den Lockdowns passiert sind und in denen ich selbst keine gute Figur abgebe, zäume ich das Ganze lieber von hinten auf und fange damit an, dass ich unlängst irgendwo gelesen habe, in Texas seien die Leute im Straßenverkehr besonders umgänglich miteinander. Denn angeblich müssen sie immer bedenken, dass der andere oder die andere womöglich eine Waffe trägt, weshalb das Abschreckungsprinzip funktioniere, nach dem der kleinste Fehler unabsehbar große Folgen haben kann. Anders hierzulande, was ein Glück ist, versteht sich, was allerdings auch dazu führt, dass einem öfter, als einem vielleicht lieb ist, aufgezeigt wird, dass zur Freiheit auch die Freiheit gehört, unfreundlich zu sein.

Es ist fast nie eine gute Idee, im öffentlichen Raum jemanden auf sein Verhalten aufmerksam zu machen, aber manchmal tun Sie es eben doch, manchmal vergessen Sie den längst gefassten Vorsatz, sich unter keinen Umständen mehr einmischen zu wollen, und bitten einen besonders aufdringlichen Telefonierer in einem Café, ob er zum Sprechen nicht hinausgehen könne, eine Dauerrednerin, ob es ihr nicht wenigstens möglich sei, ihre Stimme ein wenig zu senken, wenn sie das Lokal schon zu ihrem Büro mache und ihre Geschäftstelefonate von dort führe. Sie wollen die Rolle nicht einnehmen und wissen im selben Augenblick, dass es ein Fehler ist, wenn Sie sich doch hinreißen lassen, aber passiert ist passiert, und von da an haben Sie die Situation nicht mehr unter Kontrolle und können nur zusehen, wie Sie wieder einigermaßen heil aus dem Schlamassel herauskommen.

Bärtig, mit Anzug, schwerer Uhr und einem Parfum, mit dem er in weitem Umkreis sein Revier markierte, sollte er mir eine Lehre erteilen, was Schreien für ihn bedeutete.

Bisher hatte ich, was das betrifft, vor allem mit Männern zu tun. Ich werde mich immer an den Herrn im Zug erinnern, sofern das die richtige Bezeichnung für ihn ist, der im Speisewagen direkt unter dem Schild mit dem durchgestrichenen Telefonhörer saß und in sein Telefon schrie, wie es früher Leute getan hatten, die mit der Technik noch nicht so vertraut waren und glaubten, sie würden anders nicht gehört. Bärtig, mit Anzug, schwerer Uhr und einem Parfum, mit dem er in weitem Umkreis sein Revier markierte, sollte er mir eine Lehre erteilen, was Schreien für ihn bedeutete und dass das, was ich für Schreien gehalten hatte, in seinen Ohren noch gar nichts war. Denn kaum hatte ich ihn gebeten, leiser zu sprechen, schrie er auf eine Weise, die mir abwechselnd Angst um ihn und Angst um mich machte. Zwei oder drei Minuten lang schien die Frage nur zu sein, ob er zuerst einen Herzkasper bekam oder sich auf mich stürzte und mich zu würgen begann. Er beugte sich immer wieder vor in den Gang und warf sich im nächsten Augenblick auf seine Lehne zurück, und wenn ich ihn zu beschwichtigen versuchte, wenn ich sagte, es sei alles gut, ich hätte verstanden, baute er sich daran auf und schraubte sich in immer noch höhere Erregungshöhen, bis ich schwieg. Ich umschloss meine Tasse und fasste in eisiger Kälte den Vorsatz, nicht einen Augenblick zu zögern und sie ihm über den Kopf zu schlagen, sollte er handgreiflich werden, und tatsächlich fiel es mir von da an viel leichter, in ihm einen Mitmenschen zu sehen.

Der andere Mann, der mir genauso wenig aus dem Sinn geht, war ein Rentner, blass und glatzköpfig, ein steinharter Patrizierschädel, wie ich dachte, noch bevor ich ein Wort mit ihm gewechselt hatte, und er saß in einem anderen Zug und in einem anderen Speisewagen, dort aber an genau der gleichen Stelle und unter genau dem gleichen Schild, als hätte ihn jemand in einer Versuchsreihe so hingesetzt. Ich wandte mich mit der gleichen Bitte an ihn, und er hörte schnell mit dem Telefonieren auf, sah mich nicht einmal an und verhielt sich von da an in allem unauffällig und ruhig, aber beim Aussteigen blieb er direkt neben mir stehen und sagte: „Hier stinkt’s!“, und als ich aufblickte und ihn ansah, als hätte ich ihn nicht verstanden: „Sie haben schon richtig gehört, Sie stinken, mein Herr.“ Dann schaute er sich um, ob die Mitreisenden alles mitbekommen hatten, und ging weiter, ein deutlich Über-Siebzigjähriger. Ich wartete ein paar Augenblicke, bevor ich ihm folgte und ihn an der Tür stellte, während der Zug in den Bahnhof einfuhr. Dann sagte ich zu ihm, er solle in Zukunft lieber vorsichtig sein, die Welt sei ein gefährlicher Ort für alte Männer, die den Mund zu voll nehmen, ich könnte mir überlegen, mit ihm gemeinsam auszusteigen, und was danach passiere, wisse ich nicht, und es gelang mir genau so viel Drohung bei gleichzeitiger Zurückhaltung in meine Worte zu legen, dass ich beobachten konnte, wie er augenblicklich bleich wurde und anfing zu zittern. Ich musste nur noch darauf achten, dass er nicht in meiner Anwesenheit einen Kollaps bekam, und was in meiner Abwesenheit mit ihm geschah, hatte er sich selbst zuzuschreiben, auch wenn es ihn gleich nach dem Verlassen des Zuges vor Aufregung auf den Bahnsteig hinstreckte und er plötzlich keine Luft mehr bekam.

Bei Frauen hatte ich mich immer zurückgehalten, aber dann unterliefen mir die Missgeschicke innerhalb von wenigen Wochen, und ich kann nicht sagen, dass ich stolz darauf bin. Zuerst hatte mich eine, rückwärts fahrend, auf einem Zebrastreifen angefahren, und ich hatte im ersten Schreck und dann schnell voll Vergnügen, mit diesem ersten Schreck einen Freibrief zu haben, mehrmals gegen ihr Auto getreten. Sie war schreiend herausgesprungen und hatte sich gebückt darangemacht, ihre Seitentür zu inspizieren, ohne mich zu fragen oder sich auch nur im Geringsten darum zu kümmern, ob mir etwas passiert war. Im Grunde genommen hätte ich mich sofort auf die Straße legen, Schmerzen simulieren, nach dem Notarzt rufen und dann monatelang mit immer neuen Beschwerden von Arzt zu Arzt laufen müssen, wie man es von anderen Versicherungsnehmern hört. Stattdessen begnügte ich mich damit, ihr zuzuschauen, wie sie zuletzt ein paarmal ihr Auto umrundete, den Kopf immer noch fast auf dem Boden, und schließlich eindeutig zweideutig sagte, ich hätte noch einmal Glück gehabt, und ich begriff erst mit Verzögerung, dass sie mich am liebsten nicht nur für den von mir möglicherweise verursachten, sondern für jeden zufällig entdeckten Schaden haftbar gemacht hätte.

Aber erzählen will ich eigentlich von den Tränen und dem Gespucke, obwohl mir bewusst ist, dass das niemand hören will und am Ende alles nur auf mich zurückfällt, weil das wahrscheinlich nicht die Geschichten sind, „die wir jetzt brauchen“,