Über die heikle Kunst des Romans

Norbert Gstrein im Gespräch mit Wolfgang Matz.

Online seit: 29. Januar 2024

Wolfgang Matz Wir wollen über den Roman sprechen, deshalb meine allererste Frage an Norbert Gstrein: Was ist das, ein Roman?

Norbert Gstrein Das ist ja fast eine Frage wie für Siri oder ChatGPT. Ich versuche Zeit zu gewinnen, du hörst es. Ich versuche zuerst zu sagen, was niemanden weiterbringt: ein erzählendes Prosawerk von einer gewissen Länge. Das kann man aber gleich wieder wegwischen, weil es fast eine Nullaussage ist. Dann versuche ich einen pathetischen Anlauf: die größte Raumzeitmaschine, die wir haben. In großen Romanen bewegt sich der Erzählverlauf manchmal innerhalb eines einzigen Satzes von hier nach dort und von damals nach übermorgen, und die Räume und die Zeiten können sehr groß sein. Noch eine pathetische Erklärung: Es ist eine der gar nicht so vergeblichen Revolten dagegen, dass wir alle nur ein Leben haben. Und die Möglichkeit, noch ein weiteres Leben zu haben, suchen wir unter anderem, glaube ich, in Fiktionen, die uns am ehesten nahebringen, wie es sein könnte, ein anderer Mensch, eine andere Person, eine andere Figur zu sein. Dann kann man sich fragen, wo steht der Roman in Bezug zur Wirklichkeit. Wie ist das Verfahren, wie entsteht aus Wirklichkeit, selbst wenn die identifizierbaren Anteile manchmal klein sind, wie entsteht aus Wirklichkeit Fiktion und wie nah ist oder bleibt sie an der Wirklichkeit? Merkwürdig, aber wenn man von einem Roman sagt, er sei romanhaft, dann würde ich das nicht als Kompliment empfinden. Auch wenn man sagt, er sei wie das Leben, oder das Leben selbst habe ihn geschrieben, dann möchte ich ihn eher nicht lesen. Er ist also irgendwo nah an der Wirklichkeit und weit von der Wirklichkeit weg und definiert einen ganz eigenen Raum, in dem ganz eigene Gesetze gelten. Häufig auch ganz und gar paradoxe Gesetze. Man erreicht in einem Roman wie auch in anderen Fiktionen beispielsweise Nähe durch Distanz. Man kann durch die Wahl von unmoralischen Figuren, durch die Wahl eines nicht sehr moralischen Erzählers sehr moralische Romane schreiben. Und es gibt noch eine ganze Reihe solcher Paradoxa, an denen man sehen kann, dass ein Roman natürlich ganz anders funktioniert als die Wirklichkeit.

Matz Die Frage ist vielleicht auch etwas zu kategorisch gestellt. Ich frage aber auch deshalb, weil ich oft den Eindruck habe, dass als Roman sozusagen alles bezeichnet wird, jede Form von Text, in dem irgendjemand sagt, dass die Figuren A, B und C dies und das tun oder lassen oder dies und das sagen: „Oh, sagte Fritz und erbleichte.“ Fragmente von sogenannter Handlung, um irgendwie einen narrativen Faden herzustellen. Das allein ist vermutlich nicht die Kunst des Romans.

Ich habe den Eindruck, dass wir allzu selbstverständlich immer mehr Einschränkungen hinnehmen, wie man überhaupt noch „Ich“ in einem Roman sagen kann.

Gstrein Man kann ja im Feuilleton manchmal sehen, wenn nachlässig über Bücher geschrieben wird, dann ist Roman inzwischen ein Ersatzbegriff fast für Buch geworden. Gewissermaßen alles, was nicht deutlich ein wissenschaftliches Werk ist, was nicht