Verdammte Scheiße, wo ist Inga?

Nobert Gstreins Kolumne „Writer at Large“.

Online seit: 29. Januar 2018

Über Deutschland ist wieder einmal der Sturm einer Literaturdebatte hinweggegangen. Und jetzt? Das passiert alle paar Jahre und ist nichts Besonderes. Wer erinnert sich noch an das Manifest von Matthias Politycki, Martin R. Dean, Thomas Hettche und Wer-war-der-Vierte? Worum ging es da eigentlich, wenn nicht um ein schlichtes „Jetzt sind endlich wir dran, Günter Grass und Martin Walser ab in die Rente?“ War es Relevanz? Und wo sind die Romane, die sie beglaubigen würden? Spätestens mit dem Auftritt von Maxim Biller ist dann immer Ruhe im Wasserglas, weil der den Deutschen wieder einmal die ewige Wahrheit hineingeigt, dass sie Deutsche sind und immer Deutsche bleiben werden, sprich Nazis, Kinder und Enkel von Nazis, also Nazis zum Quadrat, die sich immer noch untereinander die Beute aufteilen. Dafür will er als „aufrührerischer Jude“ geliebt und gehasst werden, und natürlich tut man ihm auch den Gefallen, ich vermute, er bekommt beides in reichlichem Maß. Dabei hat das Daniel Goldhagen einst auch nicht viel schlechter gesagt. Wir Österreicher sind in der Nach-Thomas-Bernhard-Zeit in dieser Bezichtigung und Selbstbezichtigung gründlich geschult und brauchen schon andere Bandagen, um davon noch beeindruckt zu werden. Das Deutsche – um sein Lieblingsschimpfwort zu verwenden – an Maxim Biller ist, dass er keine Gefangenen macht und das Gelände gründlich planiert. Ohne Zweifel ist wieder einmal ein neuer Roman von ihm im Anzug, und er schafft sich Raum dafür. Mein Gott, warum nicht? Man kann so und anders agieren. So hat er es schon im Jahr 2000 gehalten, als er Schriftstellerfreunde und -feinde nach Tutzing einbestellt hat, um ihnen dort vom Katheder ganz schön deutsch die Leviten zu lesen, was für Schwächlinge und Versager sie doch seien: „Auch du, mein Freund Rainald!“ Das Vorbild für diese Art Auftritt ist der junge Peter Handke in Princeton 1966, der dort den versammelten „Gruppe-47-Granden“ sehr leise und sehr schüchtern Beschreibungsimpotenz vorgeworfen hat. Neben ihm nimmt sich Maxim Biller allerdings wie ein Trieb- und Serien-Besserwisser aus, und man wird bei ihm den Eindruck nicht los, er habe wenig Ahnung von dem, was er da wieder einmal pauschal kurz und klein schlägt.Zitat Norbert GstreinEhrlich gesagt, habe ich aber schon Schlimmeres erlebt. Ich habe mit dem „bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller in Frankreich“ viele Abende in Paris verbracht und mit dem „bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller in Italien“ viele Nachmittage auf seinem Hof in der italienischen Provinz Alto Adige und kann Lieder davon singen, wie es ist, wenn es unsereinen überkommt. Einerseits tragisch natürlich, die ewige Verkanntheit im viel zu großen Rest der Welt, andererseits aber meistens auch lustig nach der vierten oder fünften Flasche Wein, meistens eine benigne Ausprägung des Wahns, dessen lange grassierende Form die gute alte „Weltberühmtheit in Wien“ war. Maxim Biller, glaube ich im Klappentext von einem seiner Bücher gelesen zu haben, ist der „einzige deutschsprachige Schriftsteller, dessen Geschichten im New Yorker erschienen sind“. Ich bestreite das nicht, aber man kann das Ausmaß des Abgrunds, der sich da auftut, erst ermessen, wenn man das in die Ich-Perspektive überträgt und sich dazu die schreckgeweiteten Augen einer Frau vorstellt, die das nicht nur hundertmal oder tausendmal, sondern ihr ganzes Leben lang zu hören bekommt: „Ich bin der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller in Frankreich. Ich bin der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller in Italien. Ich bin der einzige deutschsprachige Schriftsteller, dessen Geschichten im New Yorker erschienen sind.“

Der Bedeutendste und doch nicht bedeutend – in Zeiten wie diesen –, vielleicht ist das der Ausgang vieler dieser Debatten, kleine Männer mit großen Egos, und, na ja, wenn die Küchenpsychologie recht hat, besonders kleinen oder besonders großen … – aber worum geht es eigentlich? Am Ende ist es wieder einmal eine Realismusdebatte gewesen, in die in diesem Durchgang eine unselige Herkunftsdebatte verwoben war: Die richtigen Leute mit der richtigen Herkunft sollten die dann natürlich auch richtigen Bücher schreiben, und das klingt gleich furchtbar wie die Aufzählung „mehr Migranten, mehr Juden, weniger Deutsch-Deutsche“. Mich erinnert es an eine Zuschreibung, die ich Paul Jandl verdanke und nach der mich mein inneralpiner Ehrgeiz einst zu Suhrkamp gebracht habe. Zwar bestreitet er, es genau so gesagt zu haben, aber er hat es fast genau so geschrieben, mit genau dieser Wendung, und genau so gemeint. Mir treibt das nach Jahren immer noch – meinetwegen und seinetwegen – die tiefste Schamesröte ins Gesicht, und mein einziger Trost ist da ein mitten in New York aufgenommenes Bild von William Faulkner, auf dem er einen Tirolerhut trägt und sehr weltmännisch aussieht: grand old man. Inneralpiner Ehrgeiz, um die Folklore zu verdeutlichen, versus – sagen wir – ostjüdisches Talent. Da könnte Thilo Sarrazin nahtlos übernehmen und die ganze Chose in seinem Sinn gründlich weiter und zugrunde denken. Aber was machen wir dann, Wahl der Kopfbedeckung hin oder her, mit einem Hinterwäldler aus einer Kleinstadt in Mississippi, der gleich ein paar der größten Romane überhaupt geschrieben hat? Ich weiß, Amerika ist anders.

Sexy soll der Realismus laut Maxim Biller sein. Fragt sich nur, warum das, was dabei herauskommt, dann immer so besonders bieder, besonders altbacken ist und diesen besonders unangenehmen Geruch nach Männerschweiß hat, richtigem Schweiß von richtigen Männern, versteht sich, im Gegensatz zum existenziellen Nichts dieser nur mit Luft und Verblasenheit parfürmierten Schreibschul-Schlappis aus Hildesheim und Leipzig: „Wenn ich sagen will, dass ein Mann in eine Bar geht, dann sage ich das, nicht weniger und nicht mehr. Wenn das Meer blau ist, ist es blau, wenn eine Frau hässlich ist, ist sie hässlich …“ Ja, genau so ist es, Maxim Biller, auf den ersten, etwas stumpfen Blick, aber wenn, auf den zweiten Blick und mit Peter Handke und also naturgemäß unter Tränen gefragt, das Meer anders-blau wäre, die Frau anders-hässlich oder vielleicht in Wirklichkeit sogar schön oder wenn es von einem Mann, der in eine Bar geht, viel Interessanteres zu sagen gäbe als genau das? Was dann, ja, was dann, Máximo?Zitat Norbert GstreinMich beschäftigt die Realismusfrage übrigens schon seit dem Karl-May-Lesen mit zehn, elf, zwölf Jahren. Da wird geritten, geschossen, angeschlichen, da werden Tomahawks und Speere geworfen, da wird ums Lagerfeuer gesessen und gegessen, da wird gelebt und gestorben – ja, auch geliebt –, und mir wollte nie in den Sinn, dass keine von den vielen Figuren jemals pinkeln musste: „Wenn ich sagen will, dass ein Mann pinkeln muss, dann sage ich das, nicht weniger und nicht mehr …“ Deshalb habe ich mit großem Vergnügen das Buch eines österreichischen Büchnerpreisträgers gelesen, das im amerikanischen Südwesten und also gewissermaßen in Indianerland spielt und mir in dieser Frage späte Genugtuung verschafft. Im nur knapp über achtzig Seiten umfassenden Mittelteil wird das Thema erfreuliche neun Mal angesprochen, obwohl der Erzähler gleich zu Anfang versichert, er habe in der ausgetrockneten Gegend trotz pausenlosen Wassertrinkens nur selten Harndrang verspürt. Dann ist allerdings vom Pinkeln und von Pinkelpausen und vom Sich-für-zwei-Minuten-Entschuldigen die Rede, dass es nur so eine Freude ist. Und obwohl sich der Erzähler bei seinem Führer früh schon die Erlaubnis einholt, überall pinkeln zu dürfen, ist man gegen Ende doch dankbar für die Belehrung, „dass die Amerikaner das Wort loo oder toilet kaum verwenden, man benutzt einen rest room“. Es ist dies alles sehr lustig und in virtuoser Weise haarfein unter der Schwelle angesiedelt, über der man nach dem Lektor – Where are you in this Valley of the Shadows? – oder gleich nach einem Urologen rufen würde. Dazu findet sich in der FAZ-Besprechung des Buches Die Kunst des Ehebruchs von Wolfgang Matz in anderem Zusammenhang der abgründig schöne Satz, den erst eine zukünftige Philologie – so es dann noch eine gibt – in seiner vollen Bedeutung erfassen wird können: „MATZ, SELBST EIN LEKTOR, RUFT HIER NACH DEMSELBEN.“ Der Satz ruft auch. Wir alle rufen!
„Hagen glaubt schier verrückt zu werden“, heißt es andererseits in dem dankenswerterweise vom ZEIT-Magazin zur Verfügung gestellten (leider gekürzten und von mir jetzt noch einmal ÄUSSERST BEHUTSAM nachgekürzten) Vorabdruck von Frank Schätzings Mega-Kracher Breaking News. „Über ihm brüllt der Himmel. Ein Dröhnen lässt die Luft erzittern. Wo ist Inga? ‚Verdammte Scheiße!‘“ Wer würde da noch nach einem Lektor rufen? Das ist „enorm nah am Leben“, und dagegen ist auch ein Maxim Biller in Höchstform ein weinerliches deutsches Muttersöhnchen und ein knieweicher Schwächling: „Verdammte Scheiße, Frank!“

Da nimmt sich auch das kleine Realismus-Geplänkel um Martin Mosebachs Roman Das Blutbuchenfest, das im vergangenen Frühjahr das Feuilletion ein paar Ewigkeitsaugenblicke lang den Atem anhalten ließ, wie unnötige Sophisterei aus. Darf ein Autor den Bosniern in ihrem Krieg Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts einfach mir nichts, dir nichts Handys in die Hand drücken, obwohl es die damals in Wirklichkeit noch gar nicht gegeben hat? Ist das in diesem Fall ein Fehler (allem Anschein nach ja), der gleich den ganzen Roman zu Fall bringt (nein), oder ein bewusster Anachronismus (nein), der das Buch vielleicht sogar adelt (nein) und nur die Souveränität des Autors bezeugt (nein)? Die richtige Gegenfrage dazu lautet nicht, was wir sagen würden, wenn jemand in seinem Roman ohne Not 1944 oder 1945 ein Münztelefon in eine Lagerbaracke von Auschwitz hängen würde, vielleicht doch ein allzu schauriger und geschmackloser Anachronismus? Sie lautet eher, welches Gerät ein richtiger Mann braucht (denn dass ein richtiger Mann Geräte braucht, steht außer Zweifel, nicht nur im Krieg), und da sind ein paar falsch plazierte Handys verglichen mit dem, was Frank Schätzing so alles in mehrfacher Militärparadenstärke auffährt, allemal eine lässliche Sünde. Wissen Sie, was RPGs sind? Rocket-propelled grenades, verdammte Scheiße!

Vermutlich nur mit einem Aufnahmegerät haben sich hingegen Durs Grünbein und Aris Fioretos über Jahre an verschiedenen Orten der Welt zu Gesprächen getroffen, die man jetzt in dem mit kleinen Einschränkungen schönen Band Verabredungen nachlesen kann. Sie sprechen über die Wüste, über Literatur, über die Medien, über den 11. September, über das Leben und die Liebe und über vieles andere mehr und bewegen sich dabei durchaus immer auf olympischen Höhen, manchmal gar in den Wolken. Nur selten, oft erst nach vielen Seiten wieder, wird das Gespräch durch einen winzigen Kommentar unterbrochen. Er könnte – eine Herausgeberfiktion – von einem schweigenden Eckermann stammen, der die beiden auf ihren Ausflügen in die luftigsten Höhen begleitet hat und dem nichts zu sagen und fast nichts zu erklären bleibt, weil sie in ihren Aussagen alles erschöpfend abdecken. Je nach Situation könnte er ihnen zu Füßen sitzen oder hinter ihnen her laufen und ihnen manchmal einen Spickzettel zustecken, wenn sie in ihren gelehrten Ausführungen doch nicht so souverän über jedes Faktum verfügen, wie sie in jeder Lebenslage den Anschein erwecken. Einmal raunt er von einem älteren Kollegen, ohne seinen Namen zu nennen, und man weiß aus dem Zusammenhang, er meint Kafka. Er nennt Aris Fioretos ehrfürchtig den „Schweden“ und Durs Grünbein den „Deutschen“ – der „Sachse“ wäre natürlich noch schöner gewesen – und zeichnet tapfer auf, wenn einer von ihnen ein Glas hebt. In Äonen oder über die Zeit hinaus denkend bleibt dem Armen, vom eigentlichen Gespräch und seinem Glanz ausgeschlossen, die undankbare Rolle nicht einmal des Stichwortgebers, aber er füllt sie wunderbar aus.

Es ist ein sehr ernstes, sehr ernsthaftes Buch, das auch seine komischen, manchmal ungewollt komischen Stellen hat. Zwischendurch ertappt man sich unwillkürlich bei dem Gedanken, dass da nicht Durs Grünbein und Aris Fioretos sprechen, sondern zwei Hochstapler, die sich als Grünbein und Fioretos ausgeben und sich einen Scherz mit den beiden erlauben. Dann weiß man, dass das auch eine Komödie ist und dass der Text erst auf der Bühne seine ganzen Möglichkeiten entfalten kann. Es hat schon Größe, wie Grünbein beispielsweise antwortet, als Fioretos ihm auf einer Elbdampferfahrt in Dresden von seinem ersten Kuss erzählt und über das küssende bzw. geküsste Mädchen sagt: „Sie war das Groß-Groß-Enkelkind eines russischen Romanfürsten, weißt du, Lew Nikolajewitsch Tolstoj selbst.“ Er, Grünbein, geht mit keinem Wort darauf ein, als hätte Fioretos etwas besonders Peinliches von sich gegeben, und fährt mit seinen an dieser Stelle doch etwas baedekerhaft klingenden Belehrungen fort. „Der Fluss reiht die Highlights wie eine Perlenkette auf“, sagt er übergangslos mit wahrscheinlich grimmiger Miene. „Ursprünglich war das nur eine Furt, als die ersten slawischen Siedler sich hier niederließen. Daher der Name der Stadt, er kommt aus dem Altsorbischen und hat etwas mit Wald zu tun, Dickicht.“

Diese Probleme möchten unsere bewunderten Freunde von der journalistischen Zunft gern haben, wie man so sagt. Sie stemmen naturgemäß ganz andere Gewichte und sind nicht mit solchen Hirngespinsten beschäftigt, sondern üben sich in tätiger Moral. In Hamburg, und wahrscheinlich nicht nur dort, kann man in der Kinowerbung eine junge Frau sehen, die, im Taxi durch die Welt fahrend, von ihrem Leben und ihrer Arbeit erzählt, sehr sympathisch, könnte auch für ein Waschmittel oder ein Deo werben, ehemalige Klassensprecherin vielleicht, Tochter von Eltern, die sicher stolz auf sie sind, Kind mit einer Zukunft im Licht. Sie sagt, eines der für sie wichtigsten Themen sei Gerechtigkeit und sie schäme sich manchmal für ihre Privilegien. Schöner hätte sie es auch in einem Leistungskurs in der Schule nicht ausdrücken können, vielleicht „Moral und Bessere Welt 2020“, deutsche Nie-Wieder-Fassung. Dann kommt ein Insert, aus dem man erfährt, dass sie für DIE ZEIT schreibt.

Wenn man das sieht, kann man fast nicht anders, als an zwei ihrer ehemaligen Kollegen bei derselben Zeitung zu denken. Die eine hat im vergangenen Jahr nach einer Fehlentscheidung und dem hochgradig unprofessionellen Umgang damit als Oberbürgermeisterin von Kiel zurücktreten müssen. Ursprünglich in die Politik gegangen, um sie – nach eigenem Verständnis – besser, menschlicher, gerechter zu machen, bleibt am Ende ihre einzige Erklärung für das, was ihr widerfahren ist, sie selbst sei besser, menschlicher und gerechter als die Politik, alles in allem also zu gut dafür. Der andere ist der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber, der sich mit dem schönen und für deutsche Verhältnisse doch ein wenig, aber vielleicht auch nur angemessen hypertroph klingenden Titel „Editor at Large“ schmücken durfte. Er wurde unlängst wegen Steuerhinterziehung „im hohen sechsstelligen Bereich“ zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt und hat vor Gericht eine sehr unglückliche Figur abgegeben. Neben den in solchen Fällen üblichen Herausredereien, die den Intellekt beleidigen, wird von ihm der Satz in Erinnerung bleiben, er sei nicht Uli Hoeneß. Umgekehrt hat sich Uli Hoeneß meines Wissens dazu nicht geäußert, aber er könnte natürlich immer noch von sich behaupten, er sei in Wirklichkeit der Editor at Large. Dann stünde Aussage gegen Aussage.

Es ist nicht ganz fair der jungen Frau aus der Kinowerbung gegenüber, aber ich sehe eine dünne, vielleicht nur sanft gestrichelte, ohne Zweifel jederzeit wieder ausradierbare Linie, die sie mit der ehemaligen Oberbürgermeisterin und dem nach seiner Steueraffäre leider auch nur mehr ehemaligen Editor at Large verbindet. Es ist nicht DIE ZEIT, nehme ich an, das mag Zufall sein, es ist die Haltung, es ist das Verständnis von Gerechtigkeit und die Selbstgerechtigkeit in verschiedenen Abstufungen, und seien es nur Spurenelemente. Andererseits gibt es da noch einen: Helmut Schmidt, auch DIE ZEIT, der in einem Interview sagt, wenn er auf sein Leben zurückblicke, habe er sich nichts vorzuwerfen, was nach über fünfundneunzig Jahren eine bewundernswerte Bilanz ist. Damit kein Missverständnis aufkommt: Es sind selbstverständlich alles gute Leute, diese Alt- und Neohanseaten* und manchmal ganz gegen ihr angebliches Naturell wild im Wind flackernden Nordlichter, aber wenn ich sie so reden höre, neige ich dazu, irgendwo in mir meine längst abgetötet geglaubte Erbsünde wieder zum Leben zu erwecken, mein „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“, und die Sehnsucht nach dem Süden ist groß wie der Sommer.

„Ich muss jetzt fünfzehn Jahre Gas geben und mich künstlerisch verwirklichen“, sagt neben mir im Café einer, der singt oder singen will und auch nicht mehr so jung ist. „Dann kann ich etwas anderes machen.“

Hoffentlich klappt’s. 

* Eine kleine Erwähnung verdient da natürlich nachgetragen auch Giovanni di Lorenzo, der augenblickliche Chefredakteur der ZEIT (und Was-ich-noch-zu-sagen-hätte-dauert-eine-Zigarette-Interviewpartner von Helmut Schmidt), der bei den Europa-Wahlen gleich zwei Mal gewählt hat, einmal als Italiener, einmal als Deutscher. Im Eiskunstlauf gibt es doppelte Sprünge mit wunderschönen Namen wie doppelter Lutz, doppelter Axel oder doppelter Rittberger. Irgendetwas Derartiges, mit wehendem Seidenschal in die Luft gedreht, muss Giovanni di Lorenzo wohl vorgeschwebt sein, als er seine doppelte Wahl auch noch öffentlich kundgetan hat … und selbstverständlich eine sanfte Landung auf dem weichen Eis unter dem tosenden Applaus des Publikums. Das Problem ist, dass bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen längst dreifache und vierfache Sprünge vorgeführt werden, wenngleich es für die Hamburger Meisterschaften ohne Zweifel auch so reichen dürfte. Ein doppelter Di Lorenzo sollte in Zukunft jedenfalls in keinem Pflicht- und in keinem Kür-Programm mehr fehlen. (Möge ihm das Eis weich sein!)

 

Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Hanser Verlag die Romane Die ganze Wahrheit (2010) und Eine Ahnung vom Anfang (2013).

Quelle: VOLLTEXT 2/2014 (20. Juni 2014)

Online seit: 29. Januar 2018