Sein wildestes Buch

Zu Thomas Manns Doktor Faustus. Von Norbert Gstrein

Online seit: 19.1.2022
Thomas Mann 1937 © C arl van Vechten
Thomas Mann, 1937

Er hat es selbst sein wildestes Buch genannt und die Überraschung kundgetan, wie einer denn in seinem Alter sein wildestes Buch schreiben könne, immerhin näherte er sich seinem neunundsechzigsten Jahr, als er damit begann. Das Prädikat könnte in mehrfacher Hinsicht zutreffen. Einerseits ist ein Buch, in dem der Teufel auftritt, per se ein wildes Buch, und vielleicht sogar noch mehr, wenn sich ein Gespräch mit dem Teufel am Ende als Selbstgespräch herausstellt, mit dem allerdings wahrhaftigen Teufelspakt und Verdikt gegen die eigene Person, keinen Menschen zu lieben.

Andererseits ist es ein wildes Buch, weil es vor dem Hintergrund von wilden Zeiten eine wilde Geschichte erzählt und dabei Ausblicke auf die schreckliche Realität in den Jahren seines Entstehens gibt mit der immer deutlicher sich abzeichnenden deutschen Niederlage im Krieg und den damit nur weiter einhergehenden Verheerungen und letzten sinnlosen Schlägen gegen alle Menschlichkeit. Ein wildes Buch ist es auch „als autobiographische Dichtung, als religiös tief aufgewühltes Bekenntniswerk, das mich beinahe das Leben gekostet hätte“, wie der Autor es selbst einschätzt, also als Selbstbefragung eines Künstlers, der abwägt, wie viel Kälte es braucht, um die für das Werk notwendige Hitze zu erzeugen. Aber für Thomas Mann muss der Doktor Faustus natürlich und wohl auch vor allem deshalb ein wildes Buch gewesen sein, weil dem hoch reflektierten Romancier in vorgerücktem Alter Möglichkeiten des Romans bewusst werden, die einmal mehr die Form erweitern und außerhalb des eigentlichen Kerngebiets des Genres zu liegen scheinen, irgendwo in dem nie wirklich genau definierten Grenz- und Überschneidungs- und Überlagerungsgebiet von Fakten und Fiktionen, das