Essere Draganović

Von Norbert Gstrein

Online seit: 14. Oktober 2020

Am 4. Juli dieses Jahres war ich nicht mehr in Rom, wo ein großes Ereignis bevorstand. In der Villa Massimo sollte eine Künstlerin Einzug halten, die zuvor mit dem Fahrrad von Berlin aus dorthin gefahren war. Die Rede war von einer verkörperten Präsenz, die in Zeiten von Corona besonders wichtig sei und die mich abwechselnd an eine fleischfressende Pflanze und die Dreifaltigkeit denken ließ, schließlich war ich katholisch aufgewachsen, und schließlich war das Rom. Wenn man ein bisschen googelte, stieß man schnell auf Fotos von einer patenten deutschen Urlauberin mit Warnweste und Helm, wie es Tausende gab, aber kein Mensch konnte wissen, ob sie am Ende nicht doch als Gott Vater, als Sohn oder als Heiliger Geist erscheinen würde, selbstverständlich in einer weiblichen Emanation. Ich hatte jedenfalls Bilder vom Einzug Jesu in Jerusalem im Kopf, und auch wenn es kein wirklicher Esel war, auf dem die verkörperte Präsenz erwartet wurde, stellte ich mir vor, wie die Stipendiaten der Villa palmwedelschwingend im Park Aufstellung nehmen und Madame Draganović, die Direktorin, die Ankommende in der Toga eines römischen Senators triumphal in Empfang nehmen würde. Allein davon bekam ich Angstzustände, ich hatte Schweißausbrüche und ein stolperndes Herz, ich betete auf einmal wieder viel in diesen Tagen, und es waren Dankgebete, dass mir das erspart geblieben war. Denn die Rede war auch von einer Neuerkundung der Nord-Süd-Achse zwischen Berlin und Rom, die diese verkörperte Präsenz auf ihrer heldenhaften Fahrt nicht bloß als Künstlerin, wie es hieß, sondern auch als unabhängige Forscherin unternehmen wollte, und es ist vielleicht nicht nur Spielverderberei, darauf hinzuweisen, dass das Reden von einer Nord-Süd-Achse zwischen Berlin und Rom auf zwei andere Herrschaften zurückgeht, die in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts unter diesem Begriff ihre grandiose Allianz geschmiedet haben, Herr Adolf Hitler und Signor Benito Mussolini, um sie doch einmal mit Vornamen und Nachnamen zu nennen.

Ich war seit Anfang Juni als Stipendiat gewissermaßen in den Stallungen der Villa Massimo, aber dennoch fürstlich untergebracht, in einem Haus in Olevano Romano, in den Hügeln eine Autostunde außerhalb von Rom, und nach einem Telefonat mit der Direktorin nur wenige Wochen davor in anhaltend labiler Verfassung. Sie hatte mich zu einer Videokonferenz eingeladen, und als ich ihre Einladung ausgeschlagen hatte, war schnell deutlich geworden, was sie von einem Geldempfänger hielt, der sich erlaubte, nein zu sagen. Ich hatte nicht gedacht, dass ich es in meinem Leben noch einmal mit einer Institution zu tun bekommen würde, die mir gegenüber als Obrigkeit auftrat, und ich hatte nicht gedacht, dass ich für das Wort „unbotmäßig“ jemals noch Verwendung haben könnte, aber für Madame Draganović gab es keine anderen Worte, sie trat in unserem Verhältnis als Obrigkeit auf, und ich war ihr gegenüber unbotmäßig gewesen, weil ich mich ihrem Wunsch widersetzt hatte. Sie hatte nicht die Macht, mir das Stipendiengeld zu entziehen, aber im Lauf unseres Telefonats signalisierte sie mir unmissverständlich, dass sie das am liebsten tun würde, und legte dabei eine Haltung an den Tag, die man eher mit dem sogenannten Mann auf der Straße und dem sogenannten gesunden Menschenverstand zusammenbringen würde als mit einer Direktorin der Villa Massimo.

Ich hatte Schweißausbrüche und ein stolperndes Herz, ich betete auf einmal wieder viel in diesen Tagen, und es waren Dankgebete, dass mir das erspart geblieben war.

Ich saß trotzdem bereits am Morgen nach meiner Ankunft in Olevano Romano am Schreibtisch und versuchte wie auch sonst immer und wie auch sonst überall, durch tägliche Arbeit meine Stabilität zu erhalten oder wiederherzustellen. Auch die