Franz Josef in Redipuglia

Von Norbert Gstrein

Online seit: 2. August 2024

Die Geschichte mit Leira und ihrem Namen in Osijek, die eigentlich keine Geschichte ist, erzähle ich nur, weil mir in diesem Juli, mitten in der größten Sommerhitze, genau einen Tag davor in dem italienischen Ort Redipuglia unweit von Gorizia eine vergleichbare Geschichte zugefallen ist, in der es auch um einen Namen geht.

Dass entweder mit mir oder der Wirklichkeit oder den Namen so manches nicht stimmt, weiß ich seit dem 24. Dezember 2003, als ich nach einer langen Autofahrt von Tirol aus im Hotel Palace in Zagreb auf einen Portier namens I. Radiš gestoßen bin. Für sich ist das keine große Sache, in Kroatien ein Name wie viele andere, aber weil just in jener Woche Iris Radisch in der Zeit mit meinem Roman Das Handwerk des Tötens sehr ungnädig verfahren war und ich auf der ganzen Fahrt nichts Besseres zu tun gewusst hatte, als auf Iris Radisch zu schimpfen (was ich selbstverständlich seither bereue), starrte ich auf das Namensschild des Portiers und musste mich fragen, welchen Streich mir die Wirklichkeit da spielte. Ich bat ihn, mir das Schild zu kopieren, was einiges an Überredungskunst brauchte, weil ich ihm nur schwer klarzumachen vermochte, warum mich sein Name so sehr erschütterte, und die Kopie des Schildes findet sich jetzt als „Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens“ am Ende meines Essays Wem gehört eine Geschichte?.

So etwas hätte vielleicht in einem Roman von Aleksandar Tišma vorkommen können, aber es war die Wirklichkeit.

Ich bin sonst nicht jemand, der die Empfangsleute in Hotels auf ihre Namen anspricht, aber bei der jungen Frau im Hotel Waldinger in Osijek hatte ich es doch wieder getan, weil ich den Namen Leira auf ihrem Schild noch nie gesehen und noch nie gehört hatte. Keine drei Stunden davor, am Spätnachmittag, hatte ich in Jasenovac noch vergeblich nach Namen gesucht. Es war eine Zeit her, seit ich das letzte Mal in der Gegend gewesen war, und die Erinnerung hatte mich getrogen. An dem in der slawonischen Ebene schon von weitem sichtbaren Denkmal für die in dem dortigen Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg Ermordeten fanden sich keine Namen, und das nahe gelegene Museum, in dem sich sicher welche gefunden hätten, hatte schon geschlossen gehabt. Viele Zehntausende waren an diesem Ort von den Henkern der kroatischen Ustascha umgebracht worden, vor allem Serben, Juden und Roma, und ich hatte mir von meinem letzten Besuch eingebildet, die ganze Innenseite des Denkmals sei mit Namen beschriftet, aber nichts als der in die Form einer steinernen Blume gegossene rohe Beton, viele Meter hoch, der aus der Ferne auch eine riesige, in den Himmel gereckte Faust oder eine in der Gluthitze erstarrte lodernde Flamme sein könnte, und die erschreckende Schönheit und Friedlichkeit der Fluss- und Wiesenlandschaft an der Save mit ihren ausgehobenen Kratern, die einer neben dem anderen die Orte der ehemaligen Lagergebäude markieren. Zu behaupten, ich hätte die junge Frau in Osijek deswegen nach ihrem Namen gefragt, geht viel zu weit, aber jedenfalls fragte ich sie, woher ihr Name komme, und sie sagte, Leira sei die Umkehrung von Ariel, sagte, der Hintergrund sei jüdisch, sagte, ihr Vater, der sie so genannt habe, sei ein Verrückter gewesen, erzählte, auf der anderen Seite der Grenze in Bosnien gebe es den Namen Leila häufig, mit einem „l“ statt ihrem „r“, und sagte, wie um nur kein Missverständnis aufkommen zu lassen, ihr zweiter Name sei Baruch, nach dem jüdischen Philosophen Baruch Spinoza.

So etwas hätte vielleicht in einem Roman von Aleksandar Tišma vorkommen können, aber es war die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit war es auch am Tag davor in Redipuglia gewesen, wo ich auf meiner Fahrt in den Süden zuerst haltgemacht hatte, und der für diese Wirklichkeit zuständige Autor am ehesten Joseph Roth. Auf dem dortigen österreichisch-ungarischen Militärfriedhof, der sich nicht weit von dem faschistischen Monumentaldenkmal für über 100.000 italienische Tote aus dem Ersten Weltkrieg befindet, liegen Tote der Doppelmonarchie von den zwölf Isonzo-Schlachten, Reihen und Reihen von in den Boden eingelassene Steine. 2.550 sollen es sein, und erinnert wird auch an weitere 12.000 unbekannte Gefallene, 14.550 also alles in allem in Summe die schreckliche Zahl.

Auf Metallplatten stehen die Namen, Nachname, Vorname, in dieser Reihenfolge, dazu das Todesdatum, soweit es bekannt ist, und bei vielen ist es nicht bekannt, was nichts Gutes bedeutet. Keine Geburtsdaten, als sollte verschämt verschwiegen werden, was sonst nur offensichtlich geworden wäre, nämlich wie jung die meisten von ihnen gewesen sein müssen. Denn sonst hätten sich die ganzen 1890er-Jahrgänge auf den Grabsteinen gefunden, auch welche von davor natürlich, und auf dem einen oder anderen Grab wäre sicher auch 1900 als Geburtsjahr gestanden, vielleicht sogar 1901, wenn sich einer älter gemacht und durch die Musterung geschwindelt hätte und dann nach seinem Tod doch noch von der Bürokratie eingeholt worden wäre, die er im Leben überlistet hatte. Soldaten aus der ganzen Monarchie, wenn es nach den Namen ging, von Galizien bis Südtirol, aus Wien, Budapest und Prag, egal ob sie sich angesprochen fühlten oder nicht, wenn eine Verlautbarung des Kasisers mit „An meine Völker“ begann.

Wenn man nichts anderes zu tun weiß an diesem Ort, den man sich aus irgendwelchen Gründen selbst ausgesucht hat, kann man zwischen den Grabsteinen auf und ab gehen und irgendwann die Sinnlosigkeit dieser Reihen und Reihen von Gräbern mit der sinnlosen Frage zu parieren versuchen, wie viele von den Toten Franz geheißen haben, weil einem der Name schon so oft begegnet ist. Sinnlos, vielleicht pietätlos, aber wenn man sich die Frage einmal gestellt hat, wird man sie nicht mehr los, kommt man allein mit den Franzen auf eine traurige Zahl und kann dann plötzlich an dem direkt dem Haupteingang gegenüberliegenden Ende des Friedhofs in der hintersten oder in einer der hintersten Reihen ein Grab entdecken, auf dem „Franz Josef“ steht und das Todesdatum 16. 10. 1918, keine vier Wochen vor Kriegsende und knapp zwei Jahre nach dem Tod des gleichnamigen Kaisers, Franz Joseph I., der seinen „Joseph“ allerdings mit „ph“ geschrieben hat.

„Obwohl ich damals noch so jung war, schien es mir, daß es beinahe unschicklich sei, später zu sterben als der Kaiser, dessen Glanz meine Jugend erleuchtet hatte.“

Ein zufälliger Fund, versteht sich, der nichts bedeutet, Franz Josef, der nach der Diktion der Grabsteine in Wirklichkeit Josef Franz geheißen hat, aber die Gedanken haben sich längst verselbstständigt und sind bei der Beschreibung, die Joseph Roth vom Begräbnis des Kaisers gegeben hat. Er stand an jenem Tag, dem 30. November 1916, in Wien als einer seiner Soldaten im Glied mit anderen Soldaten ganz in der Nähe der Kapuzinergruft, nur wenige Wochen bevor er selbst ins Feld gehen sollte, wie er es formuliert, und erweist später dem toten Kaiser in sentimentaler Weise die Ehre, und wenn man ihm glauben darf, muss es zu diesem Anlass geregnet haben, wie es auf der Welt noch nie und wie es auch in der Literatur noch nie geregnet hat.

Es sind zwei kleine Prosastücke, in denen er auf das Begräbnis des Kaisers zu sprechen kommt, „Seine k. und k. apostolische Majestät“ das eine, Stefan Zweig gewidmet, „In der Kapuzinergruft“ das andere. „Die Sinnlosigkeit seiner letzten Jahre erkannte ich klar, aber nicht zu leugnen war, daß eben diese Sinnlosigkeit ein Stück meiner Kindheit bedeutete“, schreibt er in dem einen über den Kaiser. „Die kalte Sonne der Habsburger erlosch, aber es war eine Sonne gewesen.“ Und in dem anderen kann man lesen: „Und obwohl ich in jener Stunde wußte, daß ich bald, bald für den toten Kaiser und für seinen Nachfolger zu sterben befohlen und bestimmt war, und obwohl ich damals noch so jung war, schien es mir, daß es beinahe unschicklich sei, später zu sterben als der Kaiser, dessen Glanz meine Jugend erleuchtet und dessen Leid meine Jugend verdüstert hatten.“

„Ich stand reglos in der ‚Habt acht‘-Stellung“, um noch eine Kostprobe zu geben, Joseph Roth, Jahrgang 1894. „Aber mein Herz war schwer, und meine Augen, befehlsgemäß und soldatisch dem Kondukt zugewandt, füllten sich mit Tränen, so daß ich zwar blickte, aber gar nichts sah.“

Dass entweder mit mir oder der Wirklichkeit oder den Namen so manches nicht stimmt, weiß ich seit dem
24. Dezember 2003.

Zitieren lässt sich das leicht, doch es ist immer noch keine Geschichte, und es soll auch keine sein. Ein Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg mit Tausenden von Toten und ein Konzentrationslager aus dem Zweiten Weltkrieg mit noch viel mehr Tausenden, ja, Zehntausenden von Toten. Wie hängt das alles zusammen? Joseph Roth und der absurde, aber glückliche Gedanke, dass er beidem entgangen ist, Redipuglia und Jasenovac, nimmt man die Namen nur stellvertretend für die Namen von anderen Friedhöfen und anderen Lagern, über halb Europa verstreut. Dabei hätte es jeweils bloß eine kleine Wendung der Geschichte zum Schrecklicheren bedurft, und es wäre anders gekommen. Joseph Roth, der am 27. Mai 1939 in Paris sicher am Alkohol und an seiner Traurigkeit, aber in Wirklichkeit wohl auch am Ersten Weltkrieg und am heraufziehenden Zweiten Weltkrieg gestorben ist, ein vielleicht kitschiger Gedanke, aber nichts als die Wahrheit. Der Beweis dafür steht in seinen Büchern, und ich würde für diese Behauptung vor jedem Gericht auf dieser Welt und in jeder anderen Welt einstehen.

Fehlt ein letzter Satz zu Leira, der jungen Frau im Hotel Waldinger in Osijek, die in einer Geschichte Ariel oder wenn nicht Ariel, dann Baruch nach dem jüdischen Philosophen Baruch Spinoza heißen könnte. Auch das Kitsch, Notizen für einen Roman, den hoffentlich nie jemand schreibt? Mag sein, und selbst wenn Aleksandar Tišma sich daran versucht hätte … aber wie gesagt, es ist keine Geschichte, und ich werde mich hüten, eine daraus zu machen.

 

Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er den Roman Vier Tage, drei Nächte (Hanser, 2022) sowie den Band Mehr als nur ein Fremder (Hanser, 2023).

Quelle: VOLLTEXT 3/2023

Online seit: 2. August 2023