Neulich

Eine Kolumne von Andreas Maier.
„Ich war ja anfänglich so etwas wie Thomas Bernhard für geistig Arme (Tilmann Krause).“

Online seit: 23. Juni 2015

Neulich erhielt ich mal wieder eine Einladung nach Freiburg. Ich fahre immer wieder gern nach Freiburg, auch wenn die Stadt bekanntlich durch den Sänger der Hamburger-Schule-Band Tocotronic übel beleumundet ist. Aber jede Stadt ist durch irgendwen übel beleumundet. Göttingen etwa durch Heine. Oder Augsburg durch Thomas Bernhard. Ich habe neulich nicht ganz freiwillig einen Song von der neuen Tocotronicplatte gehört, es ging um Jugend. Es war, als sängen sie noch einmal über sich selbst vor 20 oder 25 Jahren. Sie beschreiben das, was sie damals waren, als eine fremde, irgendwie unterentwickelte, einigermaßen quengelige, bemitleidenswerte und nicht wirklich ernst zu nehmende Spezies. Mich hat das an Günter Grass erinnert. Der beschreibt sich ja auch als fremd und irgendwie unterentwickelt, als er der SS beigetreten war. Das war ja ein ganz anderer, sagte Grass sinngemäß, das war ja noch gar nicht ich! Den Reifegrad des späten Grass hat nun also auch Tocotronic erreicht, aber ich habe den Song, wie gesagt, nur zufällig gehört.

Der Sänger hat in Freiburg studiert. Danach zog er nach Hamburg. Das habe ich neulich auch gemacht, nach Hamburg ziehen. Aber da war ich schon ich.

Nach Freiburg ging auch unsere Hochzeitsreise, das war im Jahr 2009. Eben hatten wir im Frankfurter Römer geheiratet, dann hatten wir noch Schlachtplatten im Gemalten Haus verschlungen und dann fuhren wir schon nach Freiburg. Das erste, was in Freiburg geschah, war, dass es regnete. Meine Frau, die am Morgen noch meine Freundin gewesen war, ging daraufhin in einen Billigkleidungsladen (HM oder so etwas) und kaufte sich einen grünen Billigmantel. Diesen Mantel wiederum lieh sich die Wirtin des Gemalten Hauses nach unserer Hochzeitsreise aus, um damit stilecht aufs Grüne-Soße-Festival zu gehen, welches jedes Jahr kurz nach unserem Hochzeitstag in Frankfurt am Main stattfindet. Ich glaube, die Wirtin trug sogar grüne Schuhe zum Freiburger Mantel.

Unsere Hochzeitsreise dauerte zwei Tage bzw. Nächte. D.h. auch die Hochzeitsnacht verbrachten wir in Freiburg. Das wird mir eben in diesem Moment erst klar: Ich hatte Hochzeitsnacht in Freiburg! Das machen andere irgendwo im Pazifik. Wir aber im Hotel Oberkirch, Münsterplatz, mit Kirchturmblick.

In Freiburg gehe ich immer ins Oberkirch, das werde ich auch diesmal machen. Freiburg läuft eigentlich immer gleich ab, seitdem ich Schriftsteller bin. Ich bin jetzt seit 15 Jahren Schriftsteller, und seit meinem ersten Buch fahre ich nach Freiburg. Ursache ist Michael Schwarz, der dortige Buchhändler. Er führt deutschlandweit die einzige Buchhandlung, die mich, quasi wie in einem Abonnement, bei ausnahmslos allen meinen Büchern zu Lesungen einlädt (abgesehen von meiner Heimatbuchhandlung in der Wetterau). Eigentlich würde ich ja lieber schreiben, er „ist“ die Buchhandlung, statt er „führt“. So wie ich die Tochter des Buchhändlers der Bindernagelschen Buchhandlung in Friedberg auf der Kaiserstraße (meine Wetterauer Heimatbuchhandlung) gern „Tochter der Bindernagelschen Buchhandlung“ nennen würde, aber die Tochter der Bindernagelschen Buchhandlung ist immer dagegen, dass ich sie in meinen Büchern so nenne, und zwar mit dem Einwand, sie sei nicht die Tochter einer Buchhandlung.

In die Tochter des Buchhändlers der BB auf der KS in FB in der Wetterau war ich früher verliebt, das unterscheidet sie von Michael Schwarz in Freiburg. Allerdings habe ich in meinem letzten Roman, den ich nächsten Mittwoch in der BB auf der KS in FB in der Wetterau und zwei Tage später bei MS in FB im Breisgau lesen werde, über die Buchhandlungstochter geschrieben, dass ich, als ich achtzehn war, gedacht hatte, sie möge später meine Trauzeugin werden. Wurde sie nicht. Dafür aber ging dann meine Hochzeitsreise (inkl. Hochzeitsnacht) zu MS nach FB in den Br.

Mein Freiburger Buchhändler organisierte auch noch die komplette Reise. Am zweiten Tag unserer Hochzeitsreise saßen wir irgendwo vor Freiburg mitten in irgendeinem Tal zwischen Kühen und betrachteten die Gänseblümchen. So hatten wir uns unser Leben immer vorgestellt.

Als er seine Buchhandlung vor 15 Jahren eröffnete, bestand seine erste Schaufensterauslage ausschließlich aus Thomas Bernhards Auslöschung. Damit wollte er in Freiburg ein Zeichen setzen, vermute ich. Immerhin heißt der Mann ja nach der Thomas-Bernhard-Farbe Schwarz. So hat er auch seine Buchhandlung genannt: Schwarz.

Die erste Lesung, die er machte, war dann mit mir. Ich war ja anfänglich so etwas wie Thomas Bernhard für geistig Arme (Tilmann Krause). Obgleich ich auch da schon ich war. Jetzt bin ich 47 und immer noch ich. Immer noch warte ich darauf, dass endlich passiert, was bei Günter Grass und Tocotronic passiert ist, nämlich dass ich nicht mehr ich bin, sondern endlich ich, also ein anderer. Ich habe diese Ich-Wechselei übrigens zum ersten Mal begriffen, als ich die Sekretärin von Hitler im Interview gesehen habe, die war früher, bei Hitler, auch nicht sie gewesen, und später war sie dann nicht mehr die von früher und konnte sich das alles gar nicht mehr vorstellen.

Bei M. Schwarz bin ich jetzt seit 15 Jahren ich. Die Lesungen fanden an den seltsamsten Orten statt. Mal irgendwo an einem Bächlein, dann auf einer Art Parkplatz mit Würstchenbude, aber meistens lese ich in einem Weingut um die Ecke der Buchhandlung, und nicht selten bringe ich Apfelwein mit, den der Wirt dann verkauft, was ihn freut – ich habe keine Gewinnbeteiligung.

Dieses Jahr haben wir beide Jubiläum, Michael Schwarz und ich. Beide werden wir fünfzehn. Zusammen sind wir schon dreißig. Ich bin die Jubiläumslesung. Wahrscheinlich werde ich irgendwann auch seine letzte Lesung sein. Einmal lud er Herta Müller zu Gast, da war sie noch keine Literaturnobelpreisträgerin. Als der Lese-Termin kam, war sie Literaturnobelpreisträgerin. Seitdem gilt Michael Schwarz als Großveranstalter. Ich habe sogar schon eine Neulich-Kolumne für ihn geschrieben, die wurde hier auch abgedruckt, aber ich weiß nicht mehr welche.

So viel zu Freiburg.

Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus (2012), Die Straße (2013) und Der Ort (2015).

Dieser Beitrag ist ursprünglich in VOLLTEXT 2/2015 erschienen.