Nebenschauplätze der Frage „Macht Wohlstand dumm?“

Ein Essay von Clemens J. Setz

Online seit: 6. August 2020

Immer, wenn ich einen Aufsatz über eine bestimmte Fragestellung zu schreiben habe, mache ich mir das kleine Präliminarvergnügen, die allerschlechteste Publikation zu dem Thema zu suchen, die es gibt. In dem vorliegenden Fall war das Ergebnis dieser Negativ-Recherche geradezu spektakulär. Denn die Frage „Macht Wohlstand dumm?“ und die mit ihr verwandte Vermutung, dass die Literatur einer so genannten Wohlstandsgesellschaft „keine relevanten Probleme“ mehr behandle, beschäftigte im Jahr 1969 einen rechtsextremen deutschen Journalisten namens Gustav Sichelschmidt. Er schrieb ein ganzes Buch über diese Frage; sie bildet sogar dessen Untertitel. Das Buch ist, auch außerhalb dieses Themengebietes, eines der dümmsten Bücher, die mir je begegnet sind. Ich bin mir sicher, dass ich durch seine Lektüre deutlich dümmer geworden bin.

Hier ein Auszug: „Der Besitzende hat es in jedem Fall ungleich schwerer als der Habenichts, zu bemerkenswerten Leistungen zu gelangen. Er ist immer den Gefahren des schieren Genusses und der Passivität ausgesetzt. Aber gerade ungewöhnliche Leistungen bestätigen den Menschen erst vor sich selbst und bringen ihn zur Entfaltung seiner Persönlichkeit, die nach Goethe immer noch das höchste Glück der Erdenkinder ist. Das Erlöschen der Initiative aber kennzeichnet im Leben des einzelnen wie der Völker die erste Etappe auf dem Weg zur Auflösung. Wer auf seinen Lorbeeren ausruht, stagniert nicht nur, er wird auch von den Ereignissen nur zu schnell und hoffnungslos überrundet.“

Er brachte Kindern das Schwimmen bei, indem er sie einfach vom Rand des Beckens fallen ließ und sie dann verhöhnte.

Über den Zustand der deutschen Kultur und Literatur weiß Sichelschmidt zu berichten: „Angesichts des völligen Mangels an geistiger Autonomie und Originalität ist ein Versiegen der schöpferischen Kräfte unausweichlich. In der Tat hat sich der Ausverkauf des Geistes bei uns in bestürzender Eile vollzogen. Das entstandene Vakuum wird notdürftig mit äußeren Reizen gefüllt. Die derzeitige Sexwelle ist nur einer von vielen Beweisen dafür, dass auch der letzte Rest für menschliche Würde vor die Hunde zu gehen scheint.“

Und:

„Trotzdem redet die Literatur unserer Tage ebenso wortreich wie beziehungslos und langweilig an den entscheidenden Fragen vorbei und erschöpft sich im unverbindlichen Spiel der Formen.“

Und außerdem:

„[Es ist] unseren Literaten noch keineswegs gelungen, ein nennenswertes Publikum für sich zu interessieren. Während etwa in Frankreich die Schriftsteller recht achtbare Positionen in der Öffentlichkeit beziehen, nimmt man deren Existenz bei uns zulande kaum zur Kenntnis. Auch in den USA zeigt sich eine immer größere Zahl von Interessenten neuerdings an literarischen Fragen erstaunlich beteiligt. Spätestens seit dem Sputnik-Schock hat man in jenem Lande begriffen, welche Rolle Bücher bei der unumgänglichen geistigen Aufrüstung einer Nation spielen.“

Soweit die Früchte meiner Anti-Recherche, die ich