Die Zukunft, die wir erleben wollen

Über Kämpfe an der ideologischen Front und die Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen, die nie „normal“ waren. Natalka Sniadankos Eröffnungsrede bei den Europäischen Literaturtagen.

Online seit: 23. Februar 2023
Natalka Sniadanko © Kateryna Slipchenko
Natalka Sniadanko: Den Tag überleben, bis zum Ende des Jahres kommen, das Ende des Krieges erleben.

Meine Tochter hatte vor Kurzem einen Traum, in dem sie mit ihrer Großmutter in Lwiw lebte. Eines Abends kamen zwei russische Soldaten zu ihnen nach Hause. Einer war streng und befahl ihnen, die Wohnung zu verlassen, der andere erlaubte ihnen, noch eine Nacht zu bleiben. Dann sah meine Tochter, dass ihr Handy-Akku fast leer war und fragte, ob sie ihr Telefon aufladen dürfe. Unwillig nickte der Russe. „Was für ein guter Mensch, er hat es mir erlaubt“, dachte meine Tochter im Traum.

Seit Mitte März lebe ich mit meinen Kindern in Deutschland. Was die Geografie und physische Sicherheit betrifft, ist das fernes Hinterland, was die Ideologie und Informationsarbeit betrifft, ist es die vorderste Front, die Hölle schlechthin. Ich verwende absichtlich militärische Metaphern, die im deutschen Kontext unangebracht sind, denn ihre Inadäquatheit ist ebenso illusorisch wie die hartnäckige Überzeugung vieler hiesiger Bürger, dass die militärische Bedrohung nie zu einer deutschen Realität werden, sondern immer nur eine Meldung in der Nachrichtenflut bleiben wird, weit an der Peripherie. Noch vor wenigen Monaten bereitete dieser Krieg fast allen hier Angst und Sorgen, nun aber verwandelt er sich langsam in eine Vielzahl humanitärer Probleme: Wohin mit den Flüchtlingen? Woher Gas nehmen? Wie die Folgen der Sanktionen mindern? Immer seltener fragen Bekannte und auch Fremde, wie die Lage an der Front sei, und immer öfter wundern sie sich, warum wir diesen Sommer nicht auf Urlaub gefahren sind. Immer öfter sagen sie, wie gut es nicht sei, einfach so aus der täglichen Routine auszubrechen und weit weg zu gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen, neue Erfahrungen zu sammeln. Das sei eine überaus wichtige und ungewöhnliche Erfahrung. Ich antworte, dass die Erfahrung tatsächlich interessant sei, und bald wären es vielleicht nicht nur die Ukrainer, die sie machen müssten, das liege absolut im Bereich des Möglichen. Daraufhin besinnen sich die Bekannten und auch die Fremden plötzlich, entschuldigen sich für die Unangebrachtheit ihrer Worte und wechseln zu einem neutralen Thema. Eigentlich müssen sie sich nicht entschuldigen, sie sind nicht schuld an den aktuellen Ereignissen, sie führen ihr normales Leben weiter, sehen darin nur Negatives und leidige Routinen, sie haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass jemand in diesem Augenblick von so einem unbefriedigenden, gewöhnlichen Leben träumt, voll von Routinen und ohne täglichen Heroismus. Ein Leben, das eine Zukunft hat. Zumindest sollte es, den Gesetzen der Logik folgend, eine haben. Auch wir hatten irgendwann so ein Leben. Aber es ist plötzlich zu Ende gegangen, ist in der Nacht abgerissen, und jetzt denkt niemand mehr an die Zukunft, macht niemand mehr weitreichende Pläne. Der Planungshorizont hat sich einerseits fürchterlich eingeengt: den Tag überleben, bis zum Ende des Jahres kommen. Andererseits hat er sich ins Unbestimmte erweitert: das Ende des Krieges erleben, Pläne für die Zeit nach dem Krieg machen. Besonders schmerzhaft ist das im Kontext von Familien, die durch den Krieg auseinandergerissen wurden.

„Nach dem Krieg gehen wir zusammen essen“, sagt mein Mann von Zeit zu Zeit zu mir, und es klingt so, als sei es greifbar, als müssten wir nur einen Tisch reservieren und schon sei es so weit. Aber es fühlt sich so an, als würde es nie stattfinden.

Mein Mann kämpft an der echten Front. Meine Kinder und ich kämpfen hier, an der ideologischen, kulturellen und Informationsfront.

Mein Mann kämpft an der echten Front. Meine Kinder und ich kämpfen hier, an der ideologischen, kulturellen und Informationsfront. Natürlich müssen wir längst nicht mit allen kämpfen. Meistens haben wir das Glück, es mit Gleichgesinnten zu tun zu haben, mit Menschen, denen dieser Krieg nicht egal ist, die bereit sind zu helfen, die bereits geholfen haben und es weiterhin tun. Aber oft haben wir auch mit Leuten zu tun, die eine schwierige Beziehung zur Realität haben und von einem magischen Denken gelenkt werden.

Gute und böse Russen

Das magische Denken zwingt diese Leute häufig zu glauben, dass es nicht notwendig sei, Waffen an die Ukraine zu liefern, denn Waffen brächten Krieg. Gibt es keine Waffen, kommt Frieden. „Keine Mutter soll ihre Söhne beweinen müssen!“, wiederholen solche Leute beharrlich und vergeblich versucht man ihnen zu erklären, dass die Abwesenheit von Waffen dazu führen würde, dass noch mehr Mütter ihre Söhne beweinen müssten. Diese Menschen sind normalerweise davon überzeugt, dass der Krieg umgehend beendet werden muss, aber auf die Frage, wie das zu bewerkstelligen sei, zucken sie nur mit den Schultern und meinen, man müsse verhandeln. Manche werden sogar konkret: „Wenn die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, müsst ihr eben alle sterben.“

1930 wurden in der Ukraine 259 ukrainische Schriftsteller verlegt, 1938 waren es nur mehr 36. Der Rest war deportiert, erschossen oder zu langen Haftstrafen verurteilt worden.

Aber am schwierigsten ist es, mit denen zu sprechen, die weniger die Waffen oder Friedensverhandlungen beschäftigen, sondern vielmehr der Wunsch, die bösen von den guten Russen unterscheiden zu lernen. Gegen erstere müssen ihrer Meinung nach zweifelsohne Sanktionen verhängt werden, damit sie aufhören, den Krieg und die Diktatur zu unterstützen. Zweitere, die gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Putin sind, muss man zu verschiedenen kulturellen und Diskussionsveranstaltungen in Europa einladen, um mit ihnen Dialoge zu führen und sich mit ihnen über die Zukunft zu beraten. Solche Menschen haben zusätzlich zu ihrem magischen Denken eine posttotalitäre Weltsicht. Für sie ist die Ukraine weiterhin ein Teil des Russischen Imperiums, wie vor der Sowjetzeit, oder aber ein Teil der UdSSR, auch wenn seit deren Zerfall bereits mehrere Jahrzehnte vergangen sind.

Solche Menschen befinden sich bei jeder Lesung oder Diskussionsveranstaltung hier in Deutschland im Publikum. Zuerst nicken sie höflich, während sie den Erzählungen über die Schrecken des Krieges lauschen, und dann