Mirjam Wittigs Debütroman „An der Grasnarbe“

Von Katrin Diehl

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

Hat Literatur aufregender zu sein als das Leben? Und was bedeutet das: an einem Text „dranzubleiben“, auch wenn sich in dem nicht so viel tut? Verpassen wir da was im Leben, im Text? Geht es darum zu zeigen, dass da sehr wohl etwas passiert, dass eigentlich immer etwas passiert, ob im Leben oder im Text, dass wir uns als konsum- wie kapitalismusgeschädigte Wesen für Minimalismen aber längst und weitgehend entsensibilisiert haben, dass wir über kleine, wichtige Zeichen nur noch stolpern, sie aber nicht mehr deuten?

Solche Fragen sind ja immer beides: zu groß und zu klein. Vor allem schwer einschätzbar in ihrer Konsequenz. Und so ähnlich geht es einem auch mit Mirjam Wittigs Roman An der Grasnarbe. Er hat etwas schwer Fassbares. Auch etwas Unentschiedenes, von dem man sich nicht sicher ist, ob es zum (literarisch intendierten) Programm gehört. Und so dreht man sich im Kreis, und das will man nicht. Allerdings: Beim stetigen Kreisen lässt sich natürlich auch entdecken, aufspüren, einem geduldigen Greifvogel gleich, der sich dann plötzlich herabstürzt auf etwas, von dem wir ausgehen, dass es existiert.

Noa hat die große Stadt verlassen in der Hoffnung, damit ihre Angstattacken (haben die einen realen Hintergrund?) in den Griff zu bekommen. Sie quält sich phantasierend: „Ich musste die Bewegung ihrer Köpfe zwischen den Tanzenden fixieren, wie gegen meinen Willen, als könnte ich etwas verhindern, indem ich es sah.“

Noa geht aufs Land, nach Südfrankreich, dorthin, wo es ein paar Menschen, viel mehr Schafe, zu flickende Zäune, zu tiefhängende, feuchte Wolken und vor allem fordernde, widerspenstige Natur gibt. Hier lebt sie mit Ella, Gregor und deren halbwüchsiger Tochter Jade zusammen, ist eine helfende Kraft und bald Teil einer fein aufeinander wirkenden Personenkonstellation, ein wenig und zunehmend auch Teil der dortigen Hügelwelt („…, weil ich vom Hüten inzwischen die Farben der Ginsterbüsche angenommen hatte.“).

Was passiert, passiert in Noas Kopf, findet Entsprechungen in der Natur, im Für und Wider sie. Manchmal tauchen Menschen auf mit Namen, gehen wieder und immer knistert etwas zwischen ihnen. Breiter angelegt ist die Beziehung zwischen Noa und Jade, Freundinnen auf Abstand, was sich durch den Altersunterschied erklären lässt. Schafe müssen versorgt, getötet, geboren, geführt, dem Wetter und der Überlegenheit der Wildnis muss standgehalten werden. Am Ende legt sich Noa eine nächste Herausforderung auf, entfernt sich noch einmal mehr von dort, woher sie gekommen ist (und von wo sich immer mal wieder Namen über Telefon, Textnachrichten… nach ihr erkundigen). Sie geht noch weiter weg, mit noch mehr Schafen, ganz auf sich gestellt und in Erwartung.

Schon nach ein paar Seiten hat man sich eingehört in Wittigs Text, in die die Nichtereignisse begleitende Ich-Stimme, schwingt mit den leicht wogenden Sätzen, folgt den vage analysierenden Schilderungen aus einer nahen, sich sehr gegenwärtig anfühlenden Vergangenheit, tut dies zunächst noch mit einiger Erwartung, bis man nur noch folgt, ohne Erwartung und auf sich zurückgeworfen, auch weil ein nächster, veränderter Zustand der Ich-Sprecherin weder im Raum noch zur Debatte steht. Und sie unterliegt ja auch keinen nächsten Terminen, Verpflichtungen…, zirkuliert um den zentralen Satz „Alles ist bereits durcheinander“. Die Zeit scheint zauberbergisch und wie in einem eigenen Kosmos außer Kraft gesetzt und keiner drängt, zurückzukehren. Man kann sich lesend treiben lassen, nicht völlig entspannt und auch nicht völlig vertrauend. Irritierende Sätze, Sprachbrüche wie ungeschickte Formulierung („Ich hatte den ganzen Katzenkopf in der Hand wie etwas, über das ich entscheide.“) gehören ganz eindeutig zur Ich-Person, zeigen die Autorin Mirjam Willig souverän. „An der Grasnarbe“ ist der erste Roman der 26-Jährigen, die in Hildesheim Literarisches Schreiben studiert hat.

Der Boden hat Risse. Trockenheit macht sich breit. Auf dem Marktplatz im nächsten Örtchen wird einer rassistisch blöd angegangen, Traditionen beim Dorffest ungefragt weitergeführt. Und natürlich geht es im Text um mehr als nur das Aussteigerdasein. Unterschwellig wie demonstrativ. Das muss man ertragen. Manches Mal ein wenig überklar kündigt sich Bedrohliches an: „Dabei drückte ich zu fest oder zog zu schnell, der Grashalm schnitt in die Fingerkuppe, sofort trat Blut aus.“ Wir sind in unserem Leben, wie wir es heute zu bestehen haben, angekommen. Mit all den Dingen, mit denen wir uns nach Jahren der Nachlässigkeit, zu beschäftigen haben. Wittig liefert davon ein hermetisch geschlossenes Abbild. So einen Text braucht man zu allem anderen nicht auch noch. Außer man möchte sich auf etwas Einlassen, auch auf einen literarischen Versuch, eine Abbildung eines, unseres gegenwärtigen Zustands. Außer man hält das durch.

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