In Mirjam Wittigs Roman An der Grasnarbe (Suhrkamp, 2022) fährt die – wie die Autorin (Jahrgang 1996) – junge Protagonisten Noa in das Land, von dem sie sich Abstand zum Stadtleben und Heilung erhofft. Sie möchte von Gefühlen, die sich zu Angst-Attacken ausgewachsen haben, wegkommen, weg von der Beziehung-Job-WG-Kompliziertheit der Stadt.
Goethe ist in das Land, wo die Zitronen blühn, gereist. Hape Kerkeling war dann mal weg und ist den Jakobsweg gelaufen. Hoch im Kurs stehen in den Buchläden Reisen mit Superlativen: „Zu Fuß von Paris nach Berlin“, „Oma will zum Nordkap“, der Autor Martin Amanshauser ist in seinem „Logbuch“ rund um die Welt unterwegs.
Mirjam Wittigs Noa genügt, sich als Helferin auf einem Bergbauernhof in Südfrankreich gegen Kost und Logis zu verdingen. Ella und Gregor, ihre Gastgeber, wie Noa aus Deutschland und Aussteiger, haben einer schon lange nicht mehr bewirtschafteten Alm neues Leben eingehaucht. Sie betreiben Schafzucht, pflanzen Zwiebeln, stellen Marmeladen her und verkaufen in Läden der Region. Ein naturnahes, beschwerliches Leben, das, als Töchterchen Jade zur Welt kommt, nicht einfacher wird. Inzwischen ist Jade 11, hilft mit, das Zwiebelsetzen überlässt sie aber gern der neuen Helferin aus der Stadt.
Wie lange Ella und Gregor ihr auch nach 10 Jahren kräftezehrendes Projekt durchhalten, wissen sie nicht. Akkord-Erntehelfer aus Osteuropa wollen und können sie sich nicht leisten. Sie sind auf Goodwill-Menschen aus der Stadt angewiesen, die sich mit Handarbeit neu orientieren möchten.
Auch Noa wird wieder abreisen, das ist klar. Sie wird in der Stadt wieder Geld verdienen, als Restauratorin, verrät sie Jade. Und Noa will sich nicht vorstellen, wie das sein wird, wenn niemand mehr beim Gemüsepflanzen, beim Steine-von-den-Äckern-Schaffen und Zäune-Versetzen helfen wird.
Noa gelingt es, ihr bisheriges Leben allmählich zurückzulassen, die Telefonate mit ihren Freundinnen und Freunden in der Stadt werden seltener, nicht nur wegen der schlechten Netzanbindung. Aseel, Mejet und Merle rätseln, was jetzt mit Noa los ist. Hat sie ihre Angst-Attacken überwunden? Ist ihr Alm-Trip das Beziehungs-Aus?
Ihre beste Freundin Merle macht sich schließlich auf den Weg, um selbst einige Wochen zu helfen. Sie zieht in Noas Wohnwagen. Aber auch die Nähe zu ihrer Freundin bringt keine Klärung. Eine Liebesbeziehung? Freundschaft? Merle reist wieder ab. Und Noa will noch höher die Berge hinauf und den legendären transhumance meistern.
Mirjam Wittigs Blick auf Land und Leute ist ein vorsichtiges Staunen über das Fremde, das so nah und gleichzeitig so unbekannt und weit entfernt ist. Kein „negativer Heimatroman“, keine idyllische Verklärung der ländlichen Region.
Die Autorin ist damit nicht allein. Ihre Berliner Kollegin Juli Zeh, die von der Großstadt ins Brandenburger Land gezogen ist, entwirft in Über Menschen (Luchterhand, 2021) ein ebenso vielstimmiges Bild der ländlichen Welt wie der Österreicher Reinhard Kaiser-Mühlecker, der dem bäuerlichen Leben mit detaillierten Agrikultur-Kenntnissen eine Stimme geben will, zuletzt Wilderer (Fischer, 2022). Die Literatur-Kommentatoren sind dankbar.
In Mirja Wittigs Roman passiert auf 190 Seiten wenig Spektakuläres: ein Sommerfest findet statt, ein Starkregen reißt Humus von den Hängen, Klimawandel oder doch nicht? Helfer kommen und gehen. Die Autorin interessiert sich für den Alltag, die Veränderung der Natur mit den Jahreszeiten, und da kann schon mal vorkommen, dass sich eine Giftnatter als Gartenschlauch entpuppt. Gerüche sind wichtig, die Feinstruktur der Beziehungen, etwa zwischen Noa und dem Kind Jade.
Es ist spannend, von Noa beim Kennenlernen der bäuerlichen Arbeit mitgenommen zu werden. Der Autorin gelingen überraschende Bilder und intensive Beschreibungen: Die Notschlachtung eines Schafes, das bei der Geburt zu verenden droht, ist einer der Höhepunkte von Wittigs Beschreibungskunst. Auch die Frage, was die Natur mit ihr, der Stadtfrau, macht, stellt sich: In einer Szene überwältigt Noa das Grün und die Wärme, Schauer der Lust überfluten sie.
Die Autorin hat literarisches Schreiben studiert, verrät der Klappentext. Die Kapitelgliederung ist leserfreundlich. Ich hätte mir manchmal mehr Vogelperspektive gewünscht, die Autorin hat ihre Kamera aber konsequent auf Nahaufnahme eingestellt. Ich werde mit viel genau Gesehenem entschädigt. Und es ist ohnedies bald klar, dass Noa noch nicht finden wird, was sie sucht. Nicht einmal so recht weiß, was sie sucht. Goethe war 50, als er von den Zitronen schrieb.
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