Schon im Prolog zu Mirjam Wittigs Roman An der Grasnarbe wird gezeigt, was die Hauptfigur Noa bewegt: Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden, die Scham davor, einen bestimmten Männertypus aus rassistischen Motiven zu Unrecht zu verdächtigen und eine mögliche Erlösung dieses Alpdrucks durch ein Leben als freiwillige Helferin auf einem Gut einer deutschen Aussteigerfamilie in der französischen Provinz. Sie kehrt der deutschen Großstadt den Rücken und bei der Kleinfamilie um Ella, Gregor und deren elfjähriger Tochter Jade ein. Über die Zeit von mehreren Monaten wird Noa zu einem festen Bestandteil des Hausstands: Sie hütet Schafe, pflanzt Salat an und hilft dabei, Äcker zu bestellen. Der Weg der jungen Ich-Erzählerin zur möglichen Heilung ihrer Angststörung endet nicht mit dem Roman; sie wird die große Herdenwanderung über die Alpen, die Transhumance, mitgehen.
Das sind die Eckpunkte von Mirjam Wittigs Debütroman. Die frühere Mitherausgeberin des Literaturmagazins BELLA triste wurde für die Vorarbeiten zu diesem Roman für ihre schnörkellose und transparente Sprache gelobt. Zurecht?
Wittig schafft es mit ihrer verdichteten, klaren Sprache in wenigen Sätzen lebendige Bewegtbilder entstehen zu lassen, die mitunter die stärksten Passagen dieses Romans bilden. Beispielsweise mit der Beschreibung, wie sich Noa in die Familie integriert, gelingt es Wittig innerhalb von drei kurzen Sätzen die Erkenntnis über diese Entwicklung anhand von ins Selbstverständliche getretenen Beobachtungen festzumachen: „Einmal schloss ich die Augen für mehrere Minuten, ohne an Merle zu denken. Trotz dieses Windes fror ich mit jedem Tag weniger. Beim Mittagessen wurden wir uns nicht einig, ob das längst Frühling war oder Zufall.“ Fast unmerklich vollzieht sich diese Verwandlung und auf einmal ist da ein „Wir“ und das Jetzt überlagert das Heimweh.
Vielen Passagen jedoch vermag die Autorin nicht in ähnlicher Weise Leben einzuhauchen. Das mag an der Handlungsarmut liegen, denn hauptsächlich steht der Arbeitsalltag auf dem Hof im Mittelpunkt. Gerade die Figuren und vor allem die Dialoge bleiben blass und wirken, als stünden sie den eindrücklichen Naturbeschreibungen entgegen. Übrig bleibt, dass in den schwächeren Teilen oftmals nur gesagt wird, was ist. Alle möglichen Themen werden in dem Roman zwar aufgeworfen; Rassismus, Angststörungen, Stadt-Land-Gegensatz, Aussteiger, Klimawandel, richtiger Lebensentwurf. In den erwähnten, starken Teilen, sind all diese Diskurse und Rahmenerzählungen implizit vorhanden. Sie kommen jedoch, wie etwa beim großen Nachbarschaftsfest gegen Ende noch einmal auf den Tisch. Wie Fremdkörper werden sie in den Raum gestellt, als ob man beim Lesen nun erzählt bekommt, welche Themen im Roman verhandelt werden. Das ist schade, denn in Wittigs Text blitzt immer wieder ihre erzählerische und experimentelle Kraft auf. Zum Beispiel, wenn es um Noas Begehren geht. Zwischen unerwiderter Liebe und aufregendem Urlaubsflirt erlebt sie ihren sexuellen Höhepunkt auf einer Wanderung. Im Gras liegend verstärken sich die Eindrücke der sie umgebenden Naturerscheinungen und erwecken die Lust in ihr. Sie masturbiert berauscht an der Vorstellung vom Geschlechtsakt mit der auf sinnliche Weise in sie dringenden Natur. Dieser kurzen, Eindruck machenden Episode eines beinahe mythischen Erlebnisses folgen wiederum lange Passagen, die im Gegensatz dazu wie graue Stillleben anmuten. Es entsteht sohin an vielen Stellen ein Graben zwischen dem eindrucksvollen Sprachstil und dem Material, das die Autorin bearbeiten möchte. Letzteres bleibt oftmals brach liegen, wie ein staubiger Acker voll von Steinen und Dornengestrüpp.
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