Mirjam Wittigs Debütroman An der Grasnarbe erzählt von Noa, einer jungen Restauratorin, die für Kost und Logis auf einem einsamen Schafhof in Südfrankreich arbeitet. Fern der Großstadt hofft sie, ihrer Panikattacken Herr zu werden. Doch das ersehnte Landleben bei dem deutschen Aussteigerpaar Georg und Ella löst Noas Probleme nicht.
Mirjam Wittig erzählt präzise, bildhaft und gebetsmühlenartig vom mühsamen Hofleben in der Gebirgseinöde, vom Treiben der Schafherde in den Pferch, dem Füttern der Flaschenlämmer, dem Anpflanzen von Zwiebeln und Zucchini, dem Umtopfen der Paprikazöglinge, dem Ausreißen des Unkrauts zwischen den Bohnen, dem Sammeln der Kartoffelkäfer, dem Ausgeizen der Tomatentriebe, vom Einkochen der Früchte und dem Verkauf auf dem kleinen Markt im nächstgelegenen Dorf. Allerspätestens nach der 50. Buchseite versteht auch der großstädtischste Leser, was sich auf einem abgelegenen Hof Tag für Tag, jahraus, jahrein abspielt. Er braucht es nicht in allen Facetten vorgeführt zu bekommen, dass das geschilderte Landleben nichts für Warmduscher und Flaneure ist.
Wenn Hofbesitzer Gregor im Gespräch mit Protagonistin Noa über sein Landleben räsoniert, fühlt man, dass es für den Aussteiger karg, aber erfüllend ist:
„… Die Abläufe hier sind komplex, das stimmt, und dazu kommen noch das Wetter und Wildschweine und die Trockenheit. Dadurch wird es auch nach all den Jahren nicht langweilig. Aber ich kenne die Abläufe und meine Arbeit. Die Arbeit bleibt in Bewegung, und ich muss mich mitbewegen, das ist schön. Das ist mein Eigenes geworden. Das ist ganz meins, es gibt nichts anderes, was mir so gehört. Kann man das verstehen?« Er setzte den Eimer ab und kratzte sich am Kopf, knetete wieder die Schulter und holte aus seiner Gesäßtasche eine Mütze gegen die Sonne. Dabei sah er mich nicht an, er sah dorthin, wo der Acker sich zur Gegend öffnete.“
Und doch gelingen der 26-jährigen Schriftstellerin in nur wenigen Dialogen tiefe Gespräche, allzu oft bleiben sie an der Oberfläche hängen, wie in der folgenden Passage, in der Ella nach den Gründen für Noas Auszeit fragt und nichts erfährt:
»Sag mal«, Ella sah mich an, und in diesem Moment ragte sie hoch über mir auf, »du hast doch diesen Job in Deutschland. Warum hast du damals nach Höfen gesucht? Ich will das schon lange fragen. War es das, von dem du mir erzählt hast?« Ich richtete mich auf und trat einmal mit dem Fuß auf den Metallhaken. Ich hob die Schultern und nickte halbherzig. »Das Übliche, denke ich, ich wollte eine Auszeit. Ich habe eine Zeit lang die Stadt nicht gut ausgehalten.« Es hatte nur den Anschein, als würde ich Ella offen ins Gesicht sehen, bis zu den Augen reichte mein Blick nicht, nur etwa auf Wangenhöhe. Ich konnte spüren, dass sie auf mehr wartete.
Neben der nicht in die Gänge kommenden Handlung, zeigt sich ein weiterer Schwachpunkt in Mirjam Wittigs Erstlingswerk: viel zu viele schräge Bilder. Sie sind als vielzeigende Metaphern gedacht, wirken jedoch unbeabsichtigt komisch. Hauptfigur Noa schildert ihre Angstzustände:
„… Ich atme rechtzeitig tief ein und aus, falte die Lunge auf, die Lunge wieder ein wie eine Papiertüte entlang ihrer Knicke. …“
oder hier:
„… Die Abendkühle kroch mir in den Kragen. Es roch hier anders, auch der Geruch dunkler, aber das bildete ich mir vielleicht nur ein. Auf einer Wiese standen Obstbäume, dort durften wir nicht zäunen. Flechten und Moos überzogen die Stämme wie Vogeldreck …“
„… Ich wischte mir über die Augen, sah nicht hoch zur Stimme, die weiterging. Ich legte auf, das Atmen machte Wölkchen in der kalten Luft, ich sah nicht auf, nicht von den Wölkchen hoch, steckte das Handy ein. Atmen half …“
Mirjam Wittig hätte sich mehr auf ihre detailreiche Erzählkunst verlassen und das Schwergewicht auf die Handlung legen sollen, die bis zum Ende des Romans nicht in Fahrt kommt, weil die Figuren im Dunklen bleiben und keine Spuren hinterlassen. Sie kommen und gehen, reißen neue Themen an, über Klimawandel oder Fremdenfeindlichkeit, um später weiter über das Rauchen einer Zigarette zu plaudern, die „eher nach einem Joint aussah, und so rauchte ich eben mit“. So wabert Unwesentliches zwischen den Zeilen, während Substantielles im Verborgenen bleibt. Das ist schade.
Kein Leser erwartet sich, mit einem Ferrari durch einen Roman gefahren zu werden, aber auch nicht mit einem Strudelteig beladenen Ochsengespann.
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