Wenn ein Stück Land von Starkregen, der Flüsse überlaufen lässt, geflutet wird, tragen beide, Erde und Wasser, keinen Konflikt miteinander aus. Eine Überschwemmung ist keine Fehde, nur eine Katastrophe. Ein Konflikt aber kann sich auch dort erweisen, wo sich gerade keine Katastrophe ergibt.
Mirjam Wittig lotet diese schlummernden Konflikte in ihrem unaufgeregt erzählten Debütroman An der Grasnarbe auf mehrerlei Ebenen aus. Vage parallelisiert sie das Gegensätzliche menschlichen In-der-Welt-Seins, ohne es auf der Handlungsebene kollidieren zu lassen. Noa, die überwiegend anschaulich und genau erzählende Hauptfigur, verfällt dem arkadischen Trugbild des französischen Landlebens und sommert sich ein halbes Jahr weg vom aufreibenden Alltag. Unterkunft und Arbeit, ohne die, nach Martin Walser, keine Romanfigur auskommt („Figuren brauchen einen Beruf“), findet sie auf dem Bauernhof einer deutschen Auswandererfamilie. Nur zögerlich bindet sie sich in die eingeschworene Trias von Mutter, Vater, Kind und wankt je zwischen Nähe und Distanz.
Die Nähe des Fremden
Sie kommt den Menschen dort nah, wo sie allein mit ihnen ist; auf dem Feld, in einer Hütte, im Auto oder an einem Marktstand, leicht abseits des Tumults. Dort also, wo die letzte zivilisierte Interaktion das Gespräch ist. Und in der zutraulichen Bezugnahme, die immer auch Anverwandlung ist, heben sich Gegensätze für Augenblicke auf. Das ist mehr als Trost, es ist die Bedingung der Möglichkeit lukrativer Gemeinschaft, nur in dieser Bezugnahme hebt sich auch das Individuum (als das Unteilbare) auf, ohne sich selbst verloren zu gehen. Doch diese Momente sind flüchtige Oasen, aus denen sich kaum Haltbares vererbt. Noa, da sie in der Fremde nicht wie von Geisterhand aufgeht, bleibt ihr bedrückend ausgesetzt. Denn das Fremde, wenn es auch dauert, wird zwar vertrauter, aber nicht gleichso auch zum Eigenen.
Im Haus wie auf dem Hof, wo Noa von der Last der Entscheidungsfindung erlöst ist, folgt sie mehr stupid als bereitwillig den Anweisungen der Familie, denen der Eltern nicht gehorsamer als jenen des wunderlichen Kindes. In der beständigen Assistenz aber verbleibt sie, in nahezu allen sozialen Bezügen, in einem Zwiespalt, der sie erschöpft zugleich und belebt. Ihre Existenznische ist das Dazwischen, strapaziert vom Druck fremder Ansprüche, insbesondere an ihre Verfügbarkeit. Im Haus wird sie als Küchenhilfe benötigt, auf dem Feld als Arbeiterin, fürs Kind als große Schwester und in der Heimat, mit der sie immer brüchiger verbunden bleibt, als Kollegin, als Freundin, als soziale Stütze. In diesem Gemenge fremder Ambitionen, von dem sie nicht genügend getragen und dennoch beinah zermalmt wird, sammelt sie sich nurmehr in der privaten Vergewisserung des Erzählens.
Im Erzählen erst fasst sich alles Gegensätzliche. Der Drang ins Heile wie die Gedrängtheit ins Kaputte, in den Verschleiß, in die Mühseligkeit einer Existenz, für die nichts selbstverständlich ist und die, von Panikattacken erschüttert, anrührend nach dem Selbstverständlichen fahndet. Oder, um Adornos Wort zu kehren, nach der Suprematie des Ursprungs über das Abgeleitete. „Selbst etwas in der Hand halten, an etwas ankern“ wolle sie, „dass nicht immer jemand anders nach mir greifen musste.“ Was an Menschen um sie ist, sind ihr nur Bojen, keine Anker – wovon sie gehalten wird, worin ihr das Abgeleitete näherungsweise zum Ursprünglichen wird, ist das Erzählen, als lautlose Selbstermächtigung. Auch in der Feldarbeit, in der trostlosen wie tröstlichen Stille abgelegener Natur, ahnt sie etwas vom Ursprünglichen und scheut noch dort die Spuren fremder Ursprünge: „Die Erde war festgedrückt an den Stellen, an denen Anja vorher gekniet hatte. Es war unangenehm, die Knie wieder in dieselben vorgeformten Kuhlen zu legen.“
An der Grasnarbe
So fasst sich im Erzählen, neben dem Gegensätzlichen, von dem Wittig manches antönt – das Autochthone im Kontrast zum Allochthonen, das Ferne zum Hiesigen, das Weite zum Engen, ferner generationale Widerstände, die innerfamiliär unscheinbar aufragen – auch das Individuum. Der Titel wird hierfür zur bildlichen Andeutung: Grasnarben, der dichte Bewuchs von Gräsern, binden sich durch Verwurzelung. Derweil Noa in der Gemeinschaft kaum Wurzeln schlägt und selbst der finale Aufbruch, wie alles vorige, einen wesentlichen Halt nur verheißt, sichert sie sich selbst im Akt des Erzählens. Sie sagt sich das Geschaute noch einmal her. Und da sie von außen schaut, ist sie nicht in, sondern an der Grasnarbe. Ihr Blick ist der Saum des Geschauten, der als erzählter wiederum zarte Wurzeln schlagen kann für Lesende, für noch Äußere, als Mittler zwischen medialen Sphären.
Diese mittige Existenzform, dies Ausweilen im Zwischenraum von Gegensätzen, reflektiert sich auch im Gespräch über Transhumanz, dem halb sesshaften, halb nomadischen Treiben auf der Alm. Noa assoziiert den Begriff mit dem des Transhumanismus, einer Mischexistenz von Mensch und Maschine, die nirgends fremder sein könnte als in der kargen französischen Provence. Dieser sphärische Kontrast bindet sich in der poetischen Dialektik von Bild und Gegenbild, von Gefühl und Gegengefühl, von Form und Gegenform.
Noa muss bei sich sein, um inmitten des Fremden zu bestehen. Noch den sexuellen Höhepunkt verschafft sie sich selbst, auf einer einsamen Wanderung in der Natur, fern jeder Gemeinschaft. Der libidinöse Rausch, ohne Geschlechtsverkehr, bezeugt im Roman die Isolation des Gegensätzlichen, das nicht in die Katastrophe, gleichwohl auch nicht in Assimilation münden muss.
Das spiegelt sich auch in den disparaten Erzählweisen dieses ungewöhnlichen Erstlings, die einander kaum umfassen noch verdrängen. Wo der Konflikt aber nur schwelt und nicht ausbricht, wo die stete Andeutung die Eruption sabotiert oder letztere sich, als sprachlicher Entwurf von Panik, in wenigen fragmentarischen Passagen an sich selbst erschöpft, erlahmt der rezeptive Intimitätseifer. So bleibt der Roman, auf anregende Weise, bei sich selbst. Als sein Komplize immerhin kann man den Wandel des Beständigen in gegenwärtig selten gelesener Genauigkeit ob- servieren.
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