Mirjam Wittig: „An der Grasnarbe“

Von Ursula Engel

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

„An der Grasnarbe“ ist ein Roman über ein Zurück zur Natur, nicht gerade ein seltenes Thema in der deutschen Literatur, aber angesichts der Klimakrise erneut von hohem Interesse. Noa, die Protagonistin des Romans, leidet in der Großstadt unter Angstattacken, ausgelöst meistens durch jede Begegnung mit jungen, dunkelhaarigen Männern, die die Fantasie eines Anschlags hervorrufen. Weil sie sich deswegen selbst des Rassismus beschuldigt, werden auch noch Schuldgefühle hervorgerufen. Wittig zeigt die verstörende Panik durch Verwendung einer verwirrenden Syntaktik, indem Sätze abgebrochen und als Halbsätze aneinandergereiht werden. Über die psychischen Dimensionen und biographischen Zusammenhänge wird nichts Ausführliches erzählt. Eine fade Erklärung in alltagssprachlicher Plattheit ist alles, was man darüber erfährt: „Ich habe eine Zeit lang die Stadt nicht gut ausgehalten.“

Zur Besserung ihres Zustandes zieht sich Noa auf einen Bauernhof in Südfrankreich zurück, eine „Versehrtenstelle“. Dort leben die Öko-Aussteiger Ella und Gregor mit ihrer elfjährigen Tochter Jade. Sie ernähren sich von Schafzucht und Gemüseanbau. Der Roman besteht in der detailreichen, ruhigen und breiten Beschreibung des Landlebens, die Schafe und das Gemüse werden gründlich beschrieben, weniger die Menschen und ihre Beziehungen. Der Kontakt zu der halbwüchsigen Jade wird lebendig geschildert, aber ihre Unsicherheit und eventuelle Problematik wird nicht ausgeführt. Noa – und mit ihr der Leser – lernt viel über die Aufzucht, das Sterben und Schlachten der Schafe, auch über das Ziehen von Pflanzen, das Einkochen von Gemüse und erkennt auch die Bedrohungen durch die Klimakatastrophe. Das alles wird einfühlsam und in atmosphärischer Dichte beschrieben, was durchaus Neugier hervorrufen kann, eine Spannung durch Handlung entwickelt sich eher nicht.

Nach einer Zeit der bäuerlichen Arbeit ist Noa zwar befreit von ihren Panikattacken, sie erkennt aber, dass das Landleben sie keineswegs vom Stress befreit: Es gibt Schwierigkeiten, genügend Weide für die Schafe zu finden, das Gemüse auf den vertrockneten Feldern zu pflanzen. Ella hat einen Auto-Unfall, was sie zu der paranoiden Vorstellung bringt, die Nachbarin habe das Auto manipuliert. Die Knappheit des Flusswassers, die sich mit Überschwemmungen abwechselt, macht die Klimakatastrophe deutlich. Es gibt kein Entkommen. Allerdings tauchen klimapolitische Fragen und Kontroversen nicht auf.

Trotzdem endet der Roman mit so etwas wie einem Hoffnungsschimmer, oder vielleicht besser einem „Trotz alledem!“: Noa entscheidet sich, an der „Transhumance“ teilzunehmen, am Almauftrieb mit den Schafen. Es ist unklar, warum dafür der französische Originalausdruck gebraucht wird, den wahrscheinlich die wenigsten Leser ohne Weiteres kennen. So bleibt auch die Frage nach dem Sinn des Vergil-Mottos für den Roman. Auf welche Eloge bezieht es sich eigentlich? Um welchen Frevel geht es da? Soll mit dem Zitat eine Parallelität von Ackerbau und Panikattacke angedeutet werden?

Eine derart geruhsame Beschreibung von Natur mag Leser gerade angesichts der Naturkatastrophe fesseln. Sie stellt ihn aber nicht zufrieden, wenn er über deren Verarbeitung nachdenken will oder eine spannende Handlung erhofft.

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