Mirjam Wittig: „An der Grasnarbe“

Eine Besprechung von Kumari Hammer

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

Kaum zwei Monate nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine stand der oben abgebildete Wagon des österreichischen Heers am Garmischer Bahnhof. Niemand hat sich daran gestoßen. An dieses Gesicht der Zeitenwende haben wir uns gewöhnt, noch bevor es Gewohnheit geworden ist, und Mirjam Wittigs Roman An der Grasnarbe könnte einer der frühen Kollateralschäden sein.

Die ehemalige Zukunft: „Es kommt einem vor wie zu lange her“

Unser Heute verlangt uns Positionierung ab, Aussteigen war gestern. Es geht um Bekenntnisse, die zu leisten sind, um Treueschwüre und Aufstellung. Die ganze Kälte kriecht zurück: Du musst wissen, wo du hingehörst, sonst geh doch. Ja, blafften wir zurück, damals – eines Tages werden wir gehen.

Noa, die Restauratorin, geht. In der Stadt, in der die Protagonistin des Buchs und ihr Umfeld sich mit Restauration beschäftigen, spielt sich die Gegenwart ab, und sie ist außer Kontrolle geraten. Der Tod ist sichtbar geworden und es sind nicht mehr nur die Geflüchteten, die das Leid bezeugen können. Heldenreisenmäßig bricht Noa auf und versucht es mit der anderen Chiffre, dem Landleben, von der Autorin mit viel Liebe zu Irritation, zu Paradoxa und Brüchen im Text bebildert.

Schnell zeigen sich zwei mögliche Entwicklungswege: Die Beziehung zu dem unverdorbenen Kind Jade, die systemimmanente Lösung gewissermaßen – und der darüber hinausweisende Zug der Schafe auf die Bergweiden, die Transhumance, die gerne doppeldeutig falsch verstanden werden darf: Über den Boden hinaus, und über das Humane, ohne dass hier schon geklärt wäre, was damit gemeint sei. Über Jade erfahren wir sogleich, dass es um sie „schade“ ist, und dass weiters „mit fünfzig Tieren auf der Landstraße zu gehen“, Noa „unlogisch“ vorkommt, „wie zu lange her“. Die Zukunft wird hier wohl eher nicht liegen, während die Transhumance enigmatisch bleibt.

Mit den Monaten auf dem Hof gewöhnt sie sich ein, und, klar: Dieser Ausstieg ändert nichts. Die politischen Gespräche der Protagonisten könnten aus 1970er-Jahre-Filmen stammen, und die vorgestellten Lebensentwürfe von Stadt und Land sind zwei Seiten derselben Medaille und lediglich eine Frage persönlicher Präferenzen. Noas Initiation, ein mystisches Erlebnis, markiert das Zentrum, bei der sie die Arbeitshose, (Metapher für die Selbstentfremdung auch der anderen Frauen: Ella, Anja, Merle, …), endlich abstreift und in einem Orgasmus eins wird mit der umgebenden Natur.

Paradoxa – Noa wird die Realität nicht durch ihr Beobachten verhindern – provozieren Einsicht: Sie übernimmt die Zuständigkeit für eigene Unzulänglichkeit: „Es ist mein Fehler, dass ihr nicht für euch steht“. Wie alle unsere Instrumente versagt die Sprache, wenn es eng wird, hier brechen Anakoluthe Gefälligkeit, schaffen Gestimmtheit, lassen Bedrohung und Irritationen sichtbar werden. Sofern sie wie die Wegmarken vom Alpenverein im Text auftauchen, erweisen sie der Sache einen schlechten Dienst. Auch die unaufmerksamsten Lesenden wissen nach „Augen, die derart grün auffielen“, worum es ab jetzt zu gehen hat.

Beeindruckend gelungen wiederum ist die Umsetzung der Panikattacken, wenn anfangs nur stotternd die Wörter ausbleiben, gegen Ende jedoch im Staccato des letzten Anfalls ein fulminanter rhythmischer Höhepunkt erreicht wird, fast schon im Fünfachtel-Takt:

Wenn ich wirklich die Letzte,
wenn das Wasser längst
über alles gestiegen war,
mea culpa vor die Stirn,
aus,
vor die Brust,
ich spürte die Hände nicht,
wenn da nichts mehr blieb,
meine Füße im Strom,
ein,
langsam,
das Flackern griff über,
die Taubheit kam auch hier,
der Tunnel lichtete,
da unten würde die Weide,
der Talweg sich,
da würde eine Öffnung,
da –
ich konnte mich setzen.
Ich fühlte den Stein unter mir,
der Stein war fest, und ich atmete aus,
presste,
die Lunge,
den ganzen Atem,
ausatmen.

Nun endlich kann es in Befreiung münden: „Darüber wurde mein Schluchzen … ein fremdes Geräusch“.

Noa ist also gereift. Sie wird die Grenze überschreiten, die Transhumance gehen. Dafür muss man zugelassen sein und eigene Schafe zu besitzen, wäre die Eintrittskarte, doch sie erhält eine Ausnahmegenehmigung. Nach dem Abschied von Jade macht sie sich auf den Weg. Das ist endgültig. So wie sie auseinandergehen, werden sie nicht mehr zusammenkommen.

Wir gehen, weil wir gehen.

Zu den Almweiden, über die Grasnarbe, über das Menschelnde hinaus. Ein Schaf schließt zu ihr auf und weist den Weg, was trödelst du denn, geh mal weiter.

Wir Heutigen haben die beste Epoche der geschriebenen Menschheitsgeschichte gesehen – aber wir sind Genießer, keine Bewahrer. In anderen Zeiten wäre Wittigs meditative Heldenreise gut dafür gewesen, eine (weiße Mittelschichts-) Migrationsbewegung auszulösen, hin zu südeuropäischen Einödhöfen: Lasst uns gehen, ins einfache Leben, in eine neue Innerlichkeit, zu Tiefe und Langsamkeit … Jetzt aber stehen Militärwagons in den Bahnhöfen und der Krieg verstellt den Blick auf den Kampf, der uns eigentlich umtreiben sollte – den Kampf gegen die Abwicklung des Planeten.

Wir sind längst dabei, unser Gepäck zu sortieren. An der Grasnarbe, der Roman mit all seinen Fundstellen, magischen und weniger geglückten, gehört zu den Dingen, die ich zurücklassen werde, weil sie hinter uns liegen. Er wird sich verlieren im Nirvana der übersehenen Bücher – Aussteigen ist gerade nicht mehr so wichtig.

Wir gehen. Wir marschieren. Und oberhalb der Grasnarbe können nur drei überwintern.

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