Michael Stavarič: Die Schattenfängerin

Aus dem neuen Roman // Kapitel 1

Online seit: 30. September 2025


Prolog

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass es in den Ozeanen der Erde fliegende Fische gab, die sich in die Lüfte erheben konnten. Sie flogen bis in den Weltraum, und ihre Schuppen reflektierten das Sonnenlicht; sie glitzerten, funkelten, erstrahlten und waren nicht mehr von Sternen zu unterscheiden. Er erzählte mir, dass tief unter uns im Boden eine Sonne wohnte, mitten im Erdkern, wo es fast so heiß war wie auf der Oberfläche des Sterns über uns. Und wenn diese Sonne unter uns mit der Sonne über uns sprechen wollte, dann brach sie als Vulkan aus. Er erzählte mir, dass das Wasser, das sich auf der Erde befand, von Kometen stammte, die es aus dem All zu uns gebracht hatten. Ich solle ruhig daran denken, wenn ich mal schwimmen gehe, dass ich gleichsam in den Kosmos eintauche, dass ich mich mit Kometen wasche und Kometen trinke.


Kapitel 1 – Leseproben aus neuen Büchern
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Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass der Mond durch eine Kollision der Erde mit einem anderen Himmelskörper entstanden war, und dass er sich aus Bruchstücken unseres Planeten und etwas völlig Fremden zusammenfügte; er stieg in den Himmel auf, um der Sonne ein kleines Stück näher zu sein. Er erzählte mir, dass sich der Boden unter uns ständig in Bewegung befand, dass wir auf Inseln über die Welt trieben, die über eine solche Größe verfügten, dass wir sie Kontinente nannten. Wenn ich nur lange genug warte, sagte Vater, dann käme ich praktisch überall auf der Erde hin, ohne mich auch nur einen Millimeter rühren zu müssen. Er erzählte mir, dass alle Bausteine des Lebens aus den Tiefen des Alls zur Erde kamen, wo sie sich zu dem vereinigten, was wir sind, und dass diese Stoffe von längst vergangenen Sternen stammten. Wir waren gerade dabei gewesen, etwas zu kochen, und warfen daraufhin alle Zutaten, die wir im Haus hatten, in einem Topf zusammen, um uns die Entstehung des Lebens besser vorstellen zu können (geschmacklich war das nicht die beste Idee).

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass ich mir Schmerz wie hellstes Licht vorstellen könne, wie bei einer Supernova, und dass die Lichtstrahlen alles in ihrer Nähe durchdringen und verknüpfen. Genau, Stella, wie Schmerzensschreie! Und dass man nicht alles am eigenen Körper verspüren müsse, um zu wissen, dass es existiert. Er erzählte mir, dass man auf einem Hügel den Sternen ein Stück näher kam, und ich wollte daraufhin von ihm wissen, warum wir nicht auf einem Berg wohnten. Er erzählte mir, dass der Wind die Sprache der Pflanzen und Bäume war, dass sie sich wie wir Geschichten darüber erzählten, wer ihnen begegnete, was sie erlebten und worüber sie grübelten. Mich überkam daraufhin der Gedanke, dass ich nie wieder einen Zweig im Garten würde abschneiden können, weil ich mich nicht daran schuldig machen wollte, die Sprache der Pflanzen und Bäume verstümmelt zu haben.

Ich erinnere mich daran, wie mir Vater erzählte, dass sogar Steine über eine eigene Sprache verfügten, dass er aber nur ein Wort daraus kannte, weil dieses „Kauderwelsch“ zu schwer für uns Menschen war. Wie das Wort lautete, wollte ich daraufhin wissen, und er antwortete: „Dschblunjgk“. Das heiße „Danke schön“, und man könne es hören, wenn man einen Stein in einen Fluss werfe; Steine kämen gerne herum, und die Flüsse brächten sie an Orte, die sie immer schon hatten sehen wollen. Er erzählte mir, dass die Zeit ein Fluss war, der sich wie eine Schlange durchs bekannte und unbekannte Universum wand, manchmal schneller und dann wieder langsamer, und dass unsere Erinnerungen ebenso Steine repräsentierten, die selbst den Lauf gewaltigster Flüsse zu ändern vermochten. Er erzählte mir, dass Galaxien ihre Lieder hatten, dass sie sangen und man ihnen zuhören konnte, wenn man in den Weltraum flog. Und worüber sie sangen, wollte ich wissen, und er antwortete: Über Gravitationskräfte. Wenn sich etwas im Universum anzieht, dann ist das wie bei uns die Liebe.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass Wolken nur dann entstanden, wenn die Erde träumte, und dass sie dann aufstiegen und überall zu sehen waren, weil unser Planet seine Träume bis in die entferntesten Gegenden tragen wollte. Und warum das alles?, wollte ich wissen. Und er darauf: Damit niemand von uns das Träumen verlernt! Und dass Wolken sogar miteinander wetteiferten, wer die schönsten Träume enthielt, und sobald mir wo ungewöhnliche Wolkenformationen begegneten, sollte ich nicht vergessen zu würdigen, dass sie gerade ihr Bestes gaben. Er erzählte mir, dass einiges von dem Baumaterial für das Haus auf dem Hügel von einem Vogelschwarm herbeigeflogen worden war, so hatte es ihm sein Vater erzählt. Wir zeich- neten daraufhin einen Greif, der ein ganzes Haus anhob und mit ihm durch die Gegend flog; wir lachten und waren uns einig, dass der Vater meines Vaters ein ausgesprochener Lügner war. Er erzählte mir, dass seine Mutter, als sie mit ihm schwanger war, an dermaßen heftigem Schluckauf litt, dass er schließlich geboren wurde; echten SCHLUCKAUF bekomme man übrigens nur dann, wenn jemand innigst an einen denke.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass es, wenn es nur lang genug regnen würde, kein Haus auf dem Hügel mehr gäbe, aber wir es dann in ein „Haus am Grund des Sees“ umbenennen könnten. Ich sah uns schon mit Schwimmhäuten und Kiemen um die Wette schwimmen, ein unverzichtbarer Vorteil der Evolution. Er erzählte mir, dass in unserer Gegend früher eine Einsiedlerin lebte, und dass ihn die Mutter zu ihr brachte, um einen hartnäckigen Hautausschlag loszuwerden; er könne sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern, doch habe es gewirkt. Noch Jahre später hat man nach ihren sterblichen Überresten im Wald gesucht, doch blieb sie einfach verschwunden. Er erzählte mir, dass es Spinnen gab, die beim Abtauchen ins Wasser eine Luftblase um ihren Körper formten, die sie in Wasserlebewesen verwandelte; er nannte sie Astronauten, weil sie mit ihren „Luftblasenhelmen“ beinahe wie solche aussahen.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass für den Bau der Heilanstalt ein ganzes Sumpfgebiet trockengelegt werden musste, und dass man dort früher die prächtigsten Frösche und Salamander fand, die man sich nur vorstellen konnte. Er erzählte mir, dass es in der hiesigen Schule mal brannte und etliche Schüler mit einer Rauchgasvergiftung ins nächste Krankenhaus mussten; er hatte später im Keller des Gebäudes etwas gesehen, das ihn stark daran zweifeln ließ, dass alles ein Unfall war. Was hast du gesehen?, wollte ich wissen. Und er antwortete: Etwas Böses. Er schwor sich, dass niemand, den er liebte, jemals wieder einen Fuß in dieses Haus setzen würde. Er erzählte mir, dass er gerne im Inneren einer Glühbirne gewohnt hätte, denn das müsse sich anfühlen, als sei man der Sonne ganz nah – und in Sicherheit; ich hielt allerdings nicht viel davon, schließlich konnte einem dann jeder locker das Licht ausknipsen.

Ich erinnere mich, wie mir Vater erzählte, dass der Tod nur ein Punkt war, am Ende eines langen und nicht immer verständlichen Satzes; aber dass ich damit nichts am Hut habe, beeilte er sich zu versichern, weil ich ein perfekter und vollkommener Beistrich sei, für den sich das Universum ewig weiterdrehe, bis ans Ende aller Tage.

Ich musste lachen.

Ich erinnerte mich plötzlich, eine Eskapade auf der Oberfläche der Sonne gewesen zu sein.

* * * * *

 Der Tod

In den Morgenstunden eines mit Wolken verhangenen Himmels entschlief der Vater allen weiteren Begebenheiten.

Ich war an sein Bett gekommen, um ihn in die Küche zu scheuchen, das gemeinsame Frühstück stand schließlich an, getoastetes Brot mit Rühreiern und frischen Gartenkräutern. Schnittlauch und Dille, daran würde ich mich niemals satt essen können, und es war mir unbegreiflich, dass manche Menschen „Schnittlauchdillgeschmack“ nicht mochten. Gleich würde ich mit dem Vater geröstete Schnittlauchdillbrote schmausen, die Zeitung durchblättern, den Sportseiten hierbei mehr Beachtung schenken als eigentlich nötig. Ich wedelte wie eine Besessene mit einem druckfrischen Blatt vor seiner Nase herum, der Geruch von Druckerschwärze würde ihn schon wecken und in die Küche locken.

Wenn es etwas gab, das müde Menschen zum Aufstehen bewegen konnte, dann war das unzweifelhaft Druckerschwärze, deren Duft mich nahezu magisch anzog. Ich liebte es, eingeschweißte Bücher oder frische Zeitschriften auszupacken, meine Nase in sie zu stecken, ihren unverkennbaren Geruch einzuatmen, mit dem ich alles Mögliche assoziierte, bestimmt roch auch der Weltraum danach; ich meine, wie sollte Weltallschwärze sonst riechen? Möglicherweise dufteten finstere Moore recht ähnlich, oder der Atem von Krähenvögeln, oder die Tränen der Berggorillas, mir würde eine hübsche Liste* einfallen. Die Hemden der Schornsteinfeger sollten dort beispielsweise vermerkt werden, die zwar um Nuancen anders riechen, zweifellos jedoch artverwandt sind. Düfte waren für mich wie Spielgefährten, sie machten einem Lust auf die Welt, man konnte mit ihnen abheben und schweben, andere wiederum stellten einem auch schon mal das Bein.

Einen Moment lang stand ich unentschlossen beim Bett herum, legte die Zeitung auf dem Gesicht des Vaters ab, als müsste die Druckerschwärze spätestens jetzt aber ihren unwiderstehlichen Zauber entfalten, um ihn zu einem allerletzten Küchenausflug zu bewegen. Die Bemühungen blieben vergeblich. Ich nahm die Zeitung wieder an mich, schüttelte sie wie verrückt aus, als könnte ich auf diesem Weg ihre Magie hervorholen, das gesamte Weltall darin wie Bettfedern aufschütteln und durch den Raum schweben lassen. Meine Arme brannten bald wie Feuer, die Muskeln verkrampften, und ich knüllte das Zeitungspapier schlussendlich zornig zu einem unförmigen Ballen zusammen. Ich versuchte, alles so klein wie nur irgendwie möglich ineinander zu pressen, zu diesem einen winzigen Punkt im Raum, von dem aus sich ein Kosmos neu würde entfalten können; so hatte es mir Vater doch beigebracht.

Alles musste, bevor es zum Leben erweckt werden konnte, zu einem unendlich kleinen Punkt gebündelt werden, von wo aus es sich mit einem lauten Knall im Universum würde ausbreiten dürfen, alle Kräfte und Sterne und Lebewesen. Ich wiederholte den Vorgang zur Sicherheit mehrmals, faltete die Zeitung auseinander, glättete sie, so gut es ging, nur um die Seiten erneut zu einem möglichst winzigen Punkt zusammenzuknüllen, ein Papierknäuel zwischen den krampfhaft ineinander verschränkten und allmählich tauber werdenden Fingern.

Ich dachte daran, dass Gott möglicherweise vor einem ähnlichen Problem gestanden haben musste, demnach hatte auch er den Kosmos zu einer unendlichen Winzigkeit zusammengedrückt (der Vater nannte es Singularität), um danach alles ordentlich auszufalten und auszubreiten, einen Neubeginn herbeizuführen, damit Materie miteinander vermengt und dieser dabei Leben eingehaucht werden konnte. Vielleicht hat ihn sogar jemand dabei beobachtet (was absurd erscheint), wie er konzentriert ans Werk ging, mit seinen gefalteten und kraftvoll zupackenden Händen. Vermutlich hätte sich ein naiver Betrachter gedacht, er würde beten, was etliche Ungereimtheiten in der gesamten Glaubenslehre erklären würde. Der Glaube sei ein einziges großes Missverständnis, hatte Vater mal zu mir gesagt, womit er keinesfalls die Existenz einer höheren Ordnung anzweifeln wollte.

Fühlte ich mich in jenem Moment wie eine kleine Göttin, die alles in ihrer Umgebung wieder zum Leben erwecken wollte? O ja! Aber es wollte nicht klappen, was möglicherweise an meinen Mädchenfäusten lag. Ich ließ bald das Zeitungsknäuel entkräftet zu Boden fallen. Das „Knüllding“ lag zu meinen Füßen, als hätte jemand hastig ein Weizenfeld abgeerntet, schlampigste Heuballen geformt und diese für imaginäre (noch schlampigere) Viehherden zurückgelassen. In Wahrheit hatte ich vielleicht gerade mal die Buchstabenreihen durcheinandergebracht, die zwar eine Welt erklären können, es aber nur selten tun. Die Druckerschwärze klebte mir an den Fingern und Handflächen, was schön anzuschauen war, doch ließ sich mit dem Ergebnis nichts anfangen. […]

*) Dinge, die wie Druckerschwärze riechen: Menschen bei Begräbnissen? Definitiv Amselfedern aus dem Garten. Die Luft nach einem Blitzeinschlag. Reine Lakritzstangen, die immer schwarz sein müssen. Bremsspuren auf der Straße, wenn man die Nase nah genug ranhält. Streichholzschachteln. Rauchglas. Haare, die ins Feuer fallen. Schwarze Mambas (theoretisch). Ungewaschene Füße, wobei diese eher wie abgelaufene Druckerschwärze riechen (Haltbarkeit!). Alles, was lange genug der Sonne ausgesetzt war. Alles vor meiner Geburt.

© 2025 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Michael Stavarič, geboren 1972 in Brno, lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, darunter: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien bei Luchterhand der Roman Das Phantom.

Michael Stavarič: Die Schattenfängerin
Roman. Luchterhand, München 2025.
288 Seiten, € 24 (D) / € 24,70 (A).