Am Rande der Welt

Roland Berbig im Gespräch mit Michael Braun über den Briefwechsel von Günter Eich mit Rainer Brambach

Online seit: 10. September 2021
Günter Eich © Nimbus, Kunst und Bücher
Günter Eich, Schluchsee, Mai 1950. Foto: Nimbus, Kunst und Bücher

Der Dichter Günter Eich (1907–1972) steht seit einiger Zeit nicht mehr auf der Agenda des Literaturbetriebs. Er firmiert heute in Lexika als „Kahlschlag“-Literat und erfolgreicher Hörspielautor der Nachkriegszeit, der sich im Spätwerk hinter immer kürzeren Gedichten und kryptischen „Maulwürfen“ verbarrikadierte. Das literaturgeschichtliche Nachleben des schwermütigen Skeptikers Eich schien sich zu verdunkeln, als es 1993 zu einem Zerwürfnis zwischen dem Suhrkamp Verlag und dem designierten Herausgeber der Eich-Briefausgabe, dem im September 2020 verstorbenen Literaturwissenschaftler Axel Vieregg kam. Vieregg hatte bei seiner Archiv­arbeit den Antrag auf Eintritt in die ­NSDAP entdeckt, den Eich am 1. Mai 1933 gestellt hatte, am gleichen Tag übrigens wie Herbert von Karajan und Martin Heidegger. Eich wurde damals aber nicht in die Nazi-Partei aufgenommen, möglicherweise weil der Andrang so groß war. Bei seinen weiteren Forschungen kam Vieregg zu einem sehr kritischen Befund, die geplante Briefausgabe wurde auf Eis gelegt. Der Berliner Emeritus Hans Dieter Zimmermann hat im Heft 3/2021 von Sinn und Form an diesen Fall erinnert.

Nach dreißig Jahren wird nun endlich die Blockade um die Briefe Eichs aufgehoben. Der kleine Schweizer Nimbus Verlag, der von Bernhard Echte, dem ehemaligen Leiter des Robert Walser-Archivs geführt wird, hat die Tür zu den verschlossenen Briefschaften Eichs geöffnet. Der wohl umfangreichste Briefwechsel Eichs, nämlich der mit seinem Schweizer Dichterfreund Rainer Brambach (1917–1983), liegt jetzt in einer akribisch kommentierten Ausgabe vor. Als Herausgeber fungiert der Literaturwissenschaftler Roland Berbig, dem wir bereits eine profunde Eich-Biographie (Am Rande der Welt) verdanken, die 2013 bei Wallstein erschienen ist.

MICHAEL BRAUN Drei Jahrzehnte lang konnten die Briefe des großen Dichters und Hörspielautors Günter Eich wegen eines Zerwürfnisses zwischen dem Suhrkamp Verlag und dem designierten Herausgeber der geplanten Brief­ausgabe nicht erscheinen. Jetzt wird die Tür zu den verschlossenen Briefschaften Eichs geöffnet, aber nicht bei Suhrkamp, sondern im Schweizer Nimbus Verlag. Wie ist es zu dieser Ausgabe gekommen?

Günter Eich wollte ursprünglich im Grab des Anarchisten Michail Bakunin bestattet werden.

ROLAND BERBIG Wie so oft spielte der Zufall eine Rolle. Plötzlich ergeben sich, meist unerwartet, Möglichkeiten – und unversehens glückt, was lange Zeit ausgeschlossen schien. Dass ein in der Schweiz ansässiger Verlag sich für diesen Briefwechsel gewinnen ließ, hatte nicht zum Geringsten damit zu tun, dass einer der Korrespondenten, Rainer Brambach, in Basel lebte und ein Schweizer mit deutschen Wurzeln war. Dem Suhrkamp Verlag kommt das Verdienst zu, mit Günter Eich gleich zwei Werkausgaben veranstaltet zu haben: die erste kurz nach seinem Tod, die zweite, als sein Nachlass zugänglich gemacht wurde. Der Literaturwissenschaftler Axel Vieregg hat in den frühen Neunzigerjahren diese zweite, revidierte Eich-Ausgabe besorgt, das bleibt ein Glücksumstand. Bei dieser Arbeit war er auf zahlreiche Briefe Eichs gestoßen, er sammelte sie systematisch und plante einen Band mit etwa 350 bis 400 Briefen Eichs. Die Lektorin Elisabeth Borchers, die den Dichter außerordentlich schätzte, engagierte sich, der Verlag ebenfalls. Er hoffte, einen ihr wichtigen deutschen Schriftsteller mit dieser Ausgabe im literarischen Gespräch zu halten. Es gibt sehr viele wunderbare Eich-Briefe, sie verzaubern durch Klarheit und durch einen gänzlich anstrengungsfreien, gewissermaßen natürlichen Humor. Alles versprach eine Neuentdeckung des Dichters. Die Briefauswahl versprach, einen schriftstellerischen Werdegang voller Eigenarten nachzuzeichnen. Dabei musste auch die Zeit vor 1945 in den Blick geraten. Wer sich für Eich interessierte, wusste, dass er zwischen 1933 und 1939/40 für den Reichsrundfunk gearbeitet hat, war man sich über den Umfang auch eher im Unklaren. Als Vieregg 1993 einen Essay über diese Arbeitsphase Eichs veröffentlichte und als das Hörspiel Rebellion in der Goldstadt, eine Auftragsarbeit, im selben Jahr gefunden und wiederausgestrahlt wurde, gab es heftige Debatten über das ‚richtige‘ Eich-Bild in der feuilletonistischen Öffentlichkeit. Nicht ohne Häme spielte man den Rundfunkautor während der NS-Zeit gegen den radikalen Poeten der Fünfziger- und Sechzigerjahre aus. In dieses Konfliktfeld geriet Viereggs Briefband-Vorhaben. Soweit mir die Auseinandersetzung bekannt ist, deren Dokumente im Marbacher Archiv überliefert sind, erhob die Familie Eichs Einspruch gegen die biografische Konstruktion, die der Herausgeber mit der Auswahl und Anordnung der Briefe vorgenommen hatte. Wir neigen in unserem Beruf dazu, Autorinnen und Autoren wie ‚Figuren‘ zu behandeln, und glauben, aus den uns bekannten Überlieferungen ihr Leben in Erzählung zu verwandeln. Das ist riskant und birgt Unerlaubtes, ganz unabhängig davon, welcher Zweck verfolgt wird. Eich passt in keine „Erzählung“, so gut sie gemeint ist oder welch schlechte Absichten sie verfolgt. Dass die Familie Eichs mit einem Einspruch ihrer Irritation Ausdruck verliehen hat, ist nicht nur juristisch ihr gutes Recht. Ich hatte vor einigen Jahren eine schöne Begegnung mit Mirjam Eich im Kreis von Studierenden, die sich alle intensiv mit Günter Eich beschäftigt hatten. Wir bauten aus den Archiv-Fundstücken Deutungshäuser mit Fenster in alle Himmelsrichtungen. Und Mirjam Eich hörte sich das alles lächelnd an, um endlich in einer Art seelischer Vornehmheit zu sagen: „Für mich ist Günter Eich nicht der Dichter – er ist mein Vater.“ Das hat mich sehr berührt, und es berührt mich immer noch.

BRAUN Welchen Stellenwert hat jetzt dieser Briefwechsel mit Rainer Brambach innerhalb der überlieferten Korrespondenz Günter Eichs?

BERBIG Tagebücher und Briefschaften sind in Archiven immer heiß begehrt. Man vermutet, dort „Eigentliches“ zu finden. Als ich Eich für mich entdeckte, habe ich sein Werk in Seminaren angeboten, auch in Editionsveranstaltungen. So fuhr ich wiederholt mit Studierenden in das Deutsche Literaturarchiv nach Marbach. Dort wird der Eich-Nachlass aufbewahrt. Im Jubiläumsjahr 2007 (hundertster Geburtstag des Dichters) haben wir ein dickleibiges Heft herausgegeben, beinahe ausschließlich mit bis dahin unbekanntem Archivmaterial. Bei dieser Gelegenheit waren wir wieder und wieder auf diese Brambach-Korrespondenz gestoßen. Im doppelten Sinne. Eigentlich hatten wir gar nicht speziell danach gesucht, aber dann führte diese oder jene Spur direkt zum Konvolut. Sein besonderer Reiz war, dass nicht nur die Briefe Brambachs, was nahe gelegen hätte, dort lagerten, sondern auch die Eichs. Brambach hatte sie Jahre nach Eichs Tod (1972) dort selbst übergeben. Deshalb nimmt diese Korrespondenz innerhalb des Nachlasses eine Sonderstellung ein. Ihm zur Seite zu stellen – bei aller Unvergleichbarkeit – ist vielleicht nur der Briefwechsel zwischen Günter Eich und Ilse Aichinger. Er ist tief bewegend und von seltener Schönheit. Ob er einmal veröffentlicht wird, wer weiß. Die Korrespondenz mit Brambach brauchte lange Zeit, bis sie als Buch erscheinen konnte. Von Beginn an unterstützten die Erben das Vorhaben – aber sein Umfang und sein Kommentierungsbedarf bedeuteten eine Herausforderung. Aber es hat sich gelohnt: weil uns Eich hier auf eine ungewöhnliche Weise entgegentritt. Er öffnet gewissermaßen die Fenster zu seinem Briefpartner weit. Wir erleben, wie aus einer Bekanntschaft eine Befreundung und dann eine Freundschaft wird. Brambach, ein Jahrzehnt jünger, begegnet dem namhaften Eich in Bewunderung. Und der denkt nicht daran, den Baseler gönnerhaft auf Distanz zu halten. Er liest kritisch, was der ihm anvertraut – und steht nicht an, sogar selbst an dessen Verse Hand und Feder anzulegen. Er hat, so der Eindruck, den Willen, aus dem Brieffreund das zu machen, was dessen sehnlichster Wunsch ist: einen Dichter. Den aufzuspüren und freizulegen, schreibt Eich Briefe, die sich wie poetische Lehrstücke en miniature lesen.

BRAUN Vielleicht noch einmal eine kurze Rückblende zum Briefschreiber Eich. Es gibt den erwähnten spektakulären, damals kontrovers diskutierten Essay von Axel Vieregg Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933–1945 (Edition Isele, Eggingen 1993). Kennen Sie Eich-Briefe aus der Zeit des Nationalsozialismus?

BERBIG Ja, vor allem die an seine beiden Freunde Martin Raschke und Adolf Artur Kuhnert, mit denen er persönlich wie beruflich verbunden war. Er ist dort immer ein ironischer Mensch, der Distanz benötigt und früh seine Gabe zur pointierten Ironie erkennt und nutzt. Da findet sich in der deutschen Briefkultur jener Zeit nicht viel Konkurrenz. Wer nach pro-nationalsozialistischen Äußerungen fahndet, wird nicht viel Glück haben. Der Gestus, sich in die beruflichen Gegebenheiten zu schicken, überwiegt – immer gekoppelt mit der Klage, zum eigentlichen Dichten nicht zu kommen. Sie finden eine Haltung: Wir lassen uns auf den Betrieb ein, wir halten uns den Betrieb aber auch vom Leib. Man ist Schreibender, man lebt von diesem Schreiben. Wer Erfahrung mit Diktaturen hat, hält sich im Ab­urteilen zurück. Das hat Verführerisches, es schafft auch ein Publikum. Aber zu diesem Publikum möchte ich nicht gehören.

BRAUN Okay, das ist ein prägnantes Statement. Bei diesem faszinierenden Briefwechsel zwischen Brambach und Eich fällt auf, in welchen geistigen Gegensätzen sich die beiden Dichter bewegen. Ich habe in Ihrem Kommentar mit großem Interesse gelesen, dass Armin Mohler, ein großer Reaktionär und Apologet der „Konservativen Revolution“ im Grunde der erste Mentor von Rainer Brambach war. Wie hat das auf die Freundschaft von Eich und Brambach zurückgewirkt? Welchen Einfluss hat Armin Mohler die ersten fünf, zehn Jahre dieses Briefwechsels gehabt?

Eich, dem nach der Rede eisiger Wind aus der gehobenen Gesellschaft entgegenblies, hat das bereits überwiesene Honorar zurückgezahlt.

BERBIG Mohler war ein Grenzgänger (und Deserteur), allerdings ein anderer Deserteur und Grenzgänger als Brambach, der in den frühen Jahren auch zwischen der Schweiz und Deutschland – notgedrungenermaßen – zu pendeln gezwungen war. Brambach hatte Vorfahren in Deutschland, ist aber in der Schweiz, in Basel geboren. Es war für ihn ausgesprochen schwierig gewesen, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu bekommen. Da gab es eine lange Prozessgeschichte. In meiner Einleitung skizziere ich sie kurz. Isabelle Schürch und Isabel Koellreuter haben im Diogenes Verlag eine wunderbare kleine Brambach-Biografie veröffentlicht, dort lässt sich das detailliert nachlesen. Zurück zu Armin Mohler: Er ging, bevor das Dritte Reich zerschlagen wurde, aus der Schweiz nach Deutschland, wurde sogar SS-Mitglied und nahm