„Würste haben absolute Priorität, denn sie sind identitätsstiftend“

Eine neue Zeit bricht sich Bahn in Laura Lichtblaus dystopischem Debütroman Schwarzpulver. Sie galoppiert heran auf Bocksfüßen und wirft Wunderkerzen. Das tönt abgedreht. Ist es auch. Alte Fragen werden virulent: Was kann Literatur? Und was darf sie? Von Matthias Fischli
Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

Zur Groteske zu greifen, jener Dichtung, die das Komische mit dem Grausigen verbindet und das Lächerliche mit dem Schrecklichen, galt lange Zeit als bewährtes Mittel zur angemessenen Darstellung der gegenwärtigen Welt. Im deutschsprachigen Literaturbetrieb ging dieser Arbeitsansatz in den vergangenen zwei Jahrzehnten etwas verloren. Gerade aber findet die Groteske zurück aufs literarische Parket: im Erstlingswerk der in München geborenen und in Berlin lebenden Laura Lichtblau.

Charlotte startet ihren Tag mit einer Mistelinjektion in die Bauchdecke. Das entspannt sie und erleichtert ihr den Arbeitsbeginn auf den Dächern über dem Anita-Augspurg-Platz. Später schüttet sie Cognac nach, um sich einen klaren Kopf zu verschaffen – den braucht sie, schliesslich hat sie als Präzisionsschützin in einer Berliner Bürgerwehr in der Stadt für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Bürgerwehr drückt die politischen Ziele der rassistisch-nationalistischen „Partei“ durch, macht Jagd auf Homosexuelle, psychisch Kranke, Migrant*innen. Gegessen wird Wurst, Grünkohl und Schlachtplatte, denn das ist identitätsstiftend. Ja, das Böse ist banal bei Lichtblau, und sehr grotesk. „Wenn sich die Menschen doch bloß auch an diese Zuchtgesetze hielten, sagte er und lachte dabei ganz gemütlich, und an die Trennung aller Rassen, dann würde sich die Volksgesundheit rasch verbessern.“

Lichtblaus Prosa ist nicht gefeit davor, zuweilen zur Pose zu verkommen, nämlich dann, wenn sie sich in der Stilhöhe vergreift („bärbeißige Straßen“), ein schiefes Bild projiziert (Wölfe stürmen „schreiend davon“) oder auszuschweifen beginnt (Charlotte über die Qualität ihrer Beziehung mit ihrem Ex-Mann). Die drei Erzählstimmen – die eingangs erwähnte Charlotte erhält Unterstützung von ihrem Sohn Charlie und von dessen Bekannten Burschi, die eigentlich Elisa heisst – sind zudem bis auf einige Anglizismen und versprenkelte Adjektive sprachlich wenig voneinander differenziert. Davon abgesehen aber ist Lichtblaus Sprache von einer eigensinnigen poetischen Kraft beseelt: „Bergseen schwappen ineinander, ich rase auf einem Schlitten einen steilen Hang hinab, im Schuss, immer schneller, und hinter mir sitzt der Teufel, er johlt und er spuckt in den Schnee und zündet Wunderkerzen an.“

Gegner*innen der Lichtblau’schen Prosa dürften diese geschickt zwischen Spott und Augenzwinkern changierende Sprache kritisieren. Sie könnten monieren, dass die Vertreter des repressiven Staatsapparats viel zu platt gezeichnet seien, lächerliche Schattenrisse. Ein illiberales Regime – und sei es noch so fiktiv – dürfe nicht derart verharmlosend dargestellt werden. Dagegen ist dreierlei einzuwenden: Erstens darf Literatur alles. Zweitens lässt dieses Argument einen wichtigen Kunstgriff der Autorin ausser Acht: Die Haupthandlung spielt während der Rauhnächte, die geprägt sind von überirdischen Mächten (dem Teufel), seltenen Naturphänomenen (Schnee, Sturmböen, Blitzeis) und flüchtigen Zwischenwesen (Burschis Freundin Johanna). Sie tun sich zusammen zu einer karnevalesken Résistance von nicht zu unterschätzendem subversivem Potential. Michail Bachtin hat an Rabelais ausgearbeitet, wie das Karnevaleske funktioniert: Spott und Lachen zielen nicht nur auf die Vernichtung der Verspotteten, sondern bereiten zugleich die Geburt von etwas Neuem vor. Lichtblaus Erzählung lässt hier die Genese eines Gegenentwurfs zu rechter Gewalt erahnen.

Und schliesslich: Lichtblaus Spott trifft nicht nur das „Amt für Staatsmoral“ oder das „Ministerium für Volksgesundheit“, sondern auch ihre drei Hauptfiguren. Sie missbraucht ihre Gestalten nicht als blosse Mundstücke ihrer eigenen Weltsicht. Dies gilt für Burschi, die kopflos verliebt ist, und für Charlie, der sich nicht von seiner Mutter und seinen ausbeuterischen Chefs lösen kann, am meisten aber für die ambivalente Charlotte, die auf dem Höhepunkt der Geschichte ihre Präzisionswaffe einmal zu oft einsetzt. Unter ihrer im Kampf- und Schiesstraining antrainierten harten Oberfläche leuchtet palimpsestartig die alte Welt vor der Machtergreifung der Rechten auf. Charlottes poröse Mehrschichtigkeit könnte für das Regime das Ende bedeuten. Bis es so weit ist, arbeitet sich Lichtblau gekonnt an bekannten Mechanismen der europäischen Geschichte ab. Und zeigt dabei einmal mehr: Das Totalitäre ist grotesk.

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