Kunst ist Scheitern. Literatur, wie jede Kunst, ist Erzählung davon. Ohne Fallhöhe, ohne Aufprall, Nullpunkt und Wiedergängertum gibt es keinen Blick auf das eigene Leben. Angst, Scham, Trauer, Verdrängung, Lust, Entsetzen, Glauben, Enttäuschung, Stummheit und Erschöpfung. Alle Gesichter des Todes sind der Kunst eingeschrieben wie dem Leben. Alle sind sie darin Fluchtpunkte wie Horizonte des Weiterlebens – und eines Neuanfangs.
Ob in Ilse Aichingers Spiegelgeschichte, ob in Boves Meine Freunde, in Bachmanns Malina, in Camus Der Fremde oder Hemingways Der alte Mann und das Meer – jeder Erzählung, die ihren Gegenstand selbst überdauert, ist jener Nullpunkt eingeschrieben, ab dem alles Erzählte zum bedingungslos Überlebenden wird. Oder – wie bei Beckett – zu einem Streik gegen die Zumutungen des Realen.
Literatur, wenn sie gut ist, kann daher niemals harmlos sein, oder wie es Sloterdijk im Essay Stress und Freiheit formuliert: Die Träumerei des einen provoziert die Träumerei des andern. Die Freiheit des einen spricht unwillkürlich das Freiheitspotenzial des anderen an. Das Scheitern des einen wirft in seinem Gegenüber Fragen auf, die jenseits des nur Persönlichen liegen.
Jedoch: Im Zeitalter der Selbstoptimierung und Flexibilität, der Einpersonenunternehmen und eines in sämtliche Lebensbereiche diffundierten Nützlichkeits- und Transaktionsdenkens ist für Beschädigungen kein Platz. Schließlich hat man sich als Ich-Marke zu bewähren auf dem Markt der Meinungen, Arbeitsplätze und Körper. Tiefschläge müssen weggesteckt, am besten wegretuschiert werden. Ob digital oder real, sie dürfen am Ende keine Spuren hinterlassen. Das Nichtgelungene, Brüchige gilt als unsexy – nicht nur auf Instagram, Facebook oder in Influencer-Videos.
Scheitern macht einsam, oft spielt es sich im Versteckten ab, daran ändern auch die in der Ratgeberliteratur ausgegebenen Durchhalteparolen wenig, die Resilienz, Frustrationsresistenz und eine Work-Life-Balance fordern. Man braucht indes nur Houellebecqs 1994 erschienene Ausweitung der Kampfzone zu lesen, um zu ahnen, wie lange unsere Generation bereits damit konfrontiert ist, dass die Grenzen zwischen beruflich und privat gefallen sind. Der Mensch ist unter den vorherrschenden ökonomischen Prämissen angehalten, vieles gleichzeitig zu sein. Achtsam und organisiert in Gefühlen ebenso wie in Arbeitsfeldern, vorausschauend wie nachsichtig in Bedürfnissen, Betroffenheiten und Erreichbarkeiten. Nach außen versuchen wir alles zu sein – und sind gleichzeitig doch nur unser eigener Kokon, in dem wir verschwinden, je mehr uns die Sehnsucht nach Freiheit antreibt.
Das Berufliche und das Private, in unserer Zeit verschränkt es sich so deckungsgleich, dass Erlebnisse, Träume, Wünschen oder Wunder als logisches Ergebnis eines Nullsummenspiels verschwinden. Scheitern, schreibt Marlene Streeruwitz in Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen über diese Fehlkalkulation, ist als Perpetuum mobile in das System eingebaut.
Doch Scheitern ist wie ein Schatten. Als Horizont jeder Existenz gehört es zu uns wie die Schwerkraft. So gern uns die Grenzen- wie Ortlosigkeit der digitalen Wirklichkeit von Neoliberalismus und Postmoderne das Gegenteil glauben machen und dies überall dort auch beweisen, wo die Arbeit des Geldes der finanziellen Wertschöpfung jeder anderen Tätigkeit längst den Rang abgelaufen hat. Keine noch so große Wirtschafts- oder Finanzkrise hebelte die faktische Bedeutung fiktiver Wetten, Werte und Steigerungskurven je aus. Bis sich die Viruskrise vor die Truman-Show-Kulissen unserer Welt 2.0 schob, und der abrupte Abbremsvorgang so gut wie alle zu Crash Test Dummies ihrer selbst macht.
Wo wir aufschlagen, und was davon bleibt, Trümmer oder bloßes Verschwimmen – das Journal des Scheiterns liest die Spuren der Nullsummenspiele unserer Zeit. Es ist weder Bühne noch Veranstaltung. Vielmehr versteht es sich als Jour fix eines Vermessungsinstituts oder Geheimdienstes für Unebenheiten, Grundlosigkeiten, Eigentore und transzendentale Obdachlosigkeiten. Sein Forschungsgebiet ist die Welt, der Forschungsgegenstand jegliche Erzählung von ihr als Spiegel – und als Lebensbeweis.
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