Martin Prinz: Die unsichtbaren Seiten

„In die Fuchsbauten des nächtlichen Lesens reichte nichts, was untertags in der Schule mit ihm geschah …“

Online seit: 27. April 2018

Ich bin der König. In der Mitte der Pausenhalle ein Bub, der drehte sich im Kreis. Die Rauledersohlen seiner Hausschuhe setzten tappend am geschliffenen Steinboden auf. Ich bin der König von Lilienfeld. Sonst war es still.
Der König von Lilienfeld trug ein Hemd mit großen blau-weißen Karos, darüber einen Pullunder sowie Cordhosen. Hinter seinen dicken Brillen wirkten seine Augen viel größer als in Wirklichkeit. Er glotzte, hatte die Lehrerin im Jahr davor am zweiten oder dritten Schultag verkündet und ihn auf die hinterste Bank versetzt, die sie Eselsbank nannte.
Der König von Lilienfeld sah stolz über den Marmorboden der Pausenhalle. Er war acht Jahre alt und musste in die Klasse zurück.

Zu meiner Kinderzeit waren in Lilienfeld noch vom Weltkrieg zerschossene Hausfassaden zu sehen. Dafür fiel im Winter genügend Schnee, um an Sonn-, Feier- oder Ferientagen unzählige Wiener oder St. Pöltner auf den kleinen Skiberg Muckenkogel zu locken. In Lilienfeld gab es ein Modegeschäft, eine Glaserei, sieben Greißler, neun Wirtshäuser, ein Spital, ein Sägewerk, drei Fleischer, einen Optiker, ein eigenes Obst- und Gemüsegeschäft, fünf Fischteiche, einen Schneider, einen Kohlenhändler, zwei Schmiede, einen Bestattungsunternehmer, eine Fahrschule, eine Apotheke, ein Fotogeschäft, die Arbeiterkammer und die Wirtschaftskammer, die Bezirkshauptmannschaft, das Arbeitsamt, ein Spital, drei Kindergärten, eine Volksschule, eine Hauptschule, die Landwirtschaftsschule, die Berufsschule, ein Gymnasium, einen Puff, vier Schlepplifte und einen Sessellift, das Kaffeehaus, einen Konditor, einen Holzschneider und ein Gemeindeamt. Hier war mein Großvater im Jahr 1981 seit über dreißig Jahren Bürgermeister.

Der König von Lilienfeld hielt den Schalter der Bettlampe jede Nacht zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger, den hellen Lichtkreis möglichst eng um das Buch vor ihm. Glühbirne und Lampenschirm erwärmten die Seiten und die Finger manchmal derart stark, dass das Papier einen Geruch nach Alleskleber, Leim und etwas undefinierbar Breiigem ausströmte. Sein Reich erstreckte sich bis zu jener Grenze, ab der seine Schwester, deren Bett in Längsrichtung an seines anschloss, genügend Dunkelheit für sich und ihren Schlaf hatte. Solange das gewährleistet war, hielt sie still. Während die Eltern, wenn sie unten in Küche oder Wohnzimmer nicht stritten, stets aufs Neue versuchten, die knarrende Holzstiege sowie den im Kinderzimmer des Lesens Verdächtigten auszutricksen, was ihnen all die Jahre nicht gelang.
Bis heute spüre ich selbst als Erwachsener die Rillen des Schalters an der Fingerkuppe. Wenn der Lesende damals schwitzte, wischte er sich den Fingerballen ab, um nur ja nicht abzurutschen, und fühlte stets Schwindel angesichts des Sogs, mit dem ihn die Geschichten wie in Höhlen hineinzogen. So sehnsüchtig war er, so glücklich darin und bedürftig danach.
In die Fuchsbauten des nächtlichen Lesens reichte nichts, was untertags in der Schule mit ihm geschah, wie weggeblasen waren Mühe und Qual der nachmittäglichen Hausaufgaben, die Forderungen nach geraden, gleichmäßigen Strichen und Zeichen in den Heften, die Konzentration, sowie das Verbot aller Träumereien und Abschweifungen. Der unbewusste Reflex, sich zu verlieren, verließ ihn auch am hellichten Tag nie. Das Narrenkastl, wie seine Eltern diesen Ort liebevoll, manchmal allerdings sorgenvoll nannten, blieb jederzeit erreichbar. Auf Sicherheitsabstand hingegen, wie im Lesen, die Querelen der Eltern, ihre Vorwürfe, Stummheiten sowie all die Gegensätzlichkeiten ihrer unterschiedlichen Herkünfte.

Dass ihn die Lehrerin in die letzte Reihe versetzt habe, sei der Politik wegen passiert, sagte die Mutter. Sie war schon pessimistisch gewesen, als sie im Jahr vor der sogenannten Einschulung zur Anmeldung mussten. Der Bub nahm es vielleicht nicht ernst, denn pessimistisch war sie oft. Vielleicht nahm er es aber ernst, fürchtete sich jedoch nicht, da das Wort Politik eines der selbstverständlichsten für ihn war.
Politik war das, worüber die Großmutter schimpfte, wenn sie von den unzähligen Sitzungen des Großvaters redete. Gleichzeitig war dem Kind, lange vor jeder Kenntnis von politischen Parteien, Ideologien und den Katastrophen der jüngeren Geschichte, klar, dass es immer um Politik ging, wenn die Familie abends in größerer Runde zusammensaß. Ebenso wie er unmittelbar, doch dementsprechend schwer begreifbar erlebte, dass es um nichts als Politik ging, wenn seine Lilienfelder Familie auf seine Traisner Familie stieß, wenn die Bürgermeisterstochter auf den Arbeitersohn aus dem kaum fünf Kilometer flussabwärts gelegenen Industrieort traf.
Politik verfolgte er, ohne sich dagegen wehren zu können. Selbst wenn er es gewollt hätte, es hätte sich nicht verdrängen lassen. Politik gehörte zu seiner Familie, sie war im tiefsten, dunkelsten Privaten seiner Eltern zu Hause. Gerade dort, wo sie selbst nichts davon wussten, während er als kleiner Junge ein solches Nichtwissen in keiner Weise von sich behaupten konnte. Auch wenn es nur ein vages Spüren war. Tatsächlich wusste er als angehendes Schulkind, dass seine Lehrerin, die in der Musikschule Flöte unterrichtete, wenige Jahre davor nicht zur Musikschuldirektorin bestellt worden war, da ein Hauptschullehrer noch zig andere Instrumente lehrte sowie als Dirigent der Blaskapelle renommierte. Ebenso war ihm klar, dass sie ihr falsches Parteibuch und die Entscheidung seines Großvaters dafür verantwortlich machte. Vermutlich aber hätte er ohne sie nie so schnell lesen gelernt, jedenfalls nicht so wie einer, dessen zu große Augen bald von dem bleichen, verschatteten Gesicht desjenigen umrandet wurden, dessen Nächte bereits in der zweiten Klasse oft länger aus Lesen denn aus Schlafen bestanden.

Als der damalige Bub komme ich mir heute wie eine Sonde vor. Tief im Fleisch des Nachkriegsösterreich, dessen Welt, Ordnung, Wohlstand und Sicherheit mir trotz der Weltkriegseinschusslöcher an bestimmten Fassaden damals in jeder Faser als zeitlos und ewig erschien. Für mich begann Politik mit dem Großvater. Die deutlichste Erinnerung rührt von einem Frühlingsnachmittag in den späten Siebzigerjahren her. Ich umwickelte mit meiner Mutter im Wohnzimmer einen Luftballon mit Toilettenpapier, der mit Kleister bestrichen wurde, um daraus nach  dem Eintrocknen einen Maske zu schneiden. Irgendwann kam der Großvater, vielleicht brachte er Eier, die ihm ein Bauer jede Woche auch für uns lieferte. Unversehens waren die beiden danach in einer Diskussion über das Atomkraftwerk Zwentendorf. Demnach musste es vor der Volksabstimmung im November 1978 gewesen sein. Ich war fünf Jahre alt, verstand nicht alles, manches gar nicht, doch ich merkte, wie mein Großvater als Befürworter des AKW sich am Ende seiner Sache nicht mehr hundertprozentig sicher war. Ich verfolgte, von wie vielen Seiten meine Mutter ein und dasselbe Argument immer wieder vorzubringen versuchte, bis er allmählich darauf einging. Ich lernte, wie weit es vom Verstehen zum Glauben war, wie blind man in seiner Meinung manchmal sein konnte.
Politik war aber auch der cremefarbene Mercedes meines Großvaters, den er bis auf den Sparkassendirektor als Einziger der Stadt fuhr. Dass es zumeist die Gebrauchtwagen des Sparkassendirektors selbst waren, wusste ich damals nicht.

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Schon in der ersten Klasse trug der König von Lilienfeld eine viel zu dicke Schultasche. Kein Kopfschütteln seiner Mutter half dagegen, all das, was sie so dick und schwer machte, jeden Tag in die Schule und wieder nach Hause zu schleppen. Fünf Kilo und mehr wog sie, während der kleine Mann auch mit Brille und Gewand vor Schuleintritt noch nicht einmal die Zwanzig-Kilo-Grenze erreicht hatte. Die Schultasche am Rücken, gegen die man sich bei jedem Schritt eigens nach vorne lehnen musste, machte jede Bewegung schwerfällig. Sie kontrollierte einen durch ihre Unförmigkeit, indem der Schwerpunkt des Schultaschen- Buben-Körpers außerhalb der Kindergestalt und ihrer ohnedies dünnen Glieder lag. Richtig wehrlos wurde er jedoch, wenn ein anderer ihn daran packte. Ein Griff genügte, schon drehte es ihn herum und er war nur mehr Passagier seiner Tasche. Der andere musste gar nicht viel dazu tun, um den spindeldünnen Brillenträger aus der letzten Bank umzureißen.
Um solchen Zwischenfällen auszuweichen, verließ der König von Lilienfeld die Schule entweder als Erster oder als Letzter, schlug Umwege ein, ging möglichst ungesehen von allen anderen nach Hause. Lief er, schlug die Tasche an seinem Rücken auf und ab, dann schauten ihm die Leute verwundert zu, denn Verfolger waren weit und breit keine in Sicht. Sobald er andere bemerkte, fiel er wieder ins Schritttempo, fest davon überzeugt, das mache sie unnötig aufmerksam, begann erst wieder zu laufen, wenn niemand ihn sah, als ließe sich damit ein Vorsprung herausholen, der in Wirklichkeit nur ein fiktiver war. Neben ihm floss die Traisen und mit der Zeit gewöhnten sich die Spaziergänger an die kleine laufende Gestalt.

Einmal in der Woche fuhr der Großvater mit seinem Mercedes nach Wien zur Landesregierung. In dem sandfarbenen Wagen durfte der kleine Bub das erste Mal im Stehen das Lenkrad drehen oder in der Einfahrt zum Haus die erste Kurve fahren. Es war ein großes Haus, das erste mit Flachdach in Lilienfeld, damals das einzige nach Architektenplänen überhaupt. Die Einfahrt war leicht abschüssig und groß genug, um mehreren Besucherautos Ein- und Ausfahrt zu bieten. Obwohl er den Titel Regierungsrat trug, fuhr der Großvater nicht als Politiker der Landesregierung, sondern lediglich als Bürgermeister nach Wien. Anfang der Siebzigerjahre, als er noch jung genug war, hatte man in der Parteispitze daran gedacht, ihn in die Landesregierung zu holen. Kurz vor der Wahl, die ÖVP hatte schlechte Umfrageergebnisse, wurde ihm jedoch in seinem Wahlkreis die Siebenkampf-Olympiazweite Liese Prokop vorgezogen. Die ÖVP gewann die Wahl nach erfolgreichem Endspurt klar, Prokop wurde Landtagsabgeordnete, später Landesrätin und Landeshauptmann-Stellvertreterin. Ein paar Jahre vor dem Tod des Großvaters avancierte sie zur Innenministerin.
Rangordnungen fesselten mich bereits als Kind. Ganz genau wollte ich wissen, auf welche Weise und ob überhaupt der Bezirkshauptmann über dem Bürgermeister stand, wer von beiden im Falle eines Kriegs den Befehl habe – und wenn der Vater daraufhin antworte etc, es gehe zwischen den beiden keinesfalls um solche Aufgaben, war ich ebenso enttäuscht und ungläubig wie erstaunt darüber, dass der Großvater, dessen Porträt bei den Gemeinderatswahlen 1980 in ganz Lilienfeld groß plakatiert war, im Abzählreim Kaiser-König-Edelmann keineswegs in der ersten Hälfte auftauchte.

König von Lilienfeld, das war ich oder würde es jedenfalls einmal werden. Um welche Art von König es sich dabei handelte, war nicht weiter wichtig. Dass der unmittelbarste adelige Anklang just aus dem Familiennamen meines Vaters resultierte – aus der Traisner Arbeiterfamilie, während mein Lilienfelder Großvater nach dem Osttiroler Herkunftsnamen Ganner hieß, brachte meine Genealogie nur unwesentlich durcheinander. Ich war König,
nicht Prinz, und in keinem Fall Bürger-Bauer-Bettelmann.

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© Insel Verlag, Berlin 2018
Das Buch erscheint am 7. Mai 2018. Die Buchpremiere findet am 17. Mai in der Alten Schmiede in Wien statt.

 

Martin Prinz, geboren 1973 in Wien, wuchs im niederösterreichischen Lilienfeld auf und lebt heute als Schriftsteller in Wien. Er debütierte 2002 mit dem später von Benjamin Heisenberg verfilmten Roman Der Räuber. Zuletzt erschienen Über die Alpen (C. Bertelsmann, 2010) und Die letzte Prinzessin (Insel, 2016).

 

Martin Prinz: Die unsichtbaren Seiten

Martin Prinz: Die unsichtbaren Seiten
Insel Verlag, Berlin 2018.
221 Seiten, € 22 (D) / € 22,70 (A)