(…) which was truth and which was illusion?
Virginia Woolf, A Room of One’s Own
So ein Luftballon, der im Himmel verschwinden konnte, vor seinen und meinen Augen, wo ich schon das Fliegen als ein Wunder, als eine Art Himmelfahrt empfand, als Beweis dafür, dass oben mehr als unten war und nichts weniger als etwas und ja mehr als nein, eine erste Metaphysik. Das war das Kind in mir, das nichts verstand und über alles staunte, und weiter kam ich eigentlich nie.
Arnold Stadler, Rauschzeit
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Rückblickend ist es, als hätte alles so kommen müssen. Als wäre zumindest dieses eine Leben vorgezeichnet gewesen. Man nennt das Karma, oder?
Hatte es nicht immer schon einen Knall gehabt, dieses dicke Mädchen, dem jede Strumpfhose zu eng war? Das mit fünf Jahren „Über den Wolken“ trällerte und sich in dem einen Sommer Ende der Achtziger die immergleichen Szenen aus Dirty Dancing auf Video ansah? Während die anderen Mädchen ins Freibad gingen und sich von echten Buben ins Wasser werfen ließen, hockte Melanie daheim, mit Limonade und Chips, sang „Hungry Eyes“ und war Hals über Kopf verliebt in Patrick Swayze, über den sie auch später nichts kommen ließ. Dass er doch keine so gute Partie gewesen wäre, dämmerte Melanie erst vor ein paar Jahren, als Swayze an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Da hatte sie aber selbst nicht mehr lange zu leben.
Am Tag von Melanies Beerdigung war es sehr heiß. Die Buben wollten ins Freibad gehen und Caro versuchte erst gar nicht, sie zum Mitkommen auf den Friedhof zu überreden. Als alles gepackt war und sie mit ihrer Mutter endlich losfuhren, versperrte Caro die Haustür, ging in die Küche und goss sich den Rest Filterkaffe vom Frühstück in die Keramiktasse. Wie jeden Morgen trank Caro ihren Kaffee im Stehen. Sie überflog die Fernsehzeitschrift, die auf der Arbeitsfläche lag, nahm den letzten lauwarmen Schluck und ging hinauf in den ersten Stock, wo sich ihr Jugendzimmer befand.
Kapitel 1 – Leseproben aus neuen Büchern
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Es war nur noch an wenigen Tagen im Jahr bewohnt und hatte nach und nach den Charakter eines Abstellraums angenommen. Mit verschränkten Armen blickte sich Caro um. In einer Ecke stapelten sich Bananenschachteln, obenauf ein vergilbter Lampenschirm, den niemand mehr je benutzen würde. Tote Fliegen auf der Fensterbank. Und obwohl sie erst am Vorabend angekommen waren, hatten ihre beiden Kinder schon alle Kisten umgekippt und das alte Spielzeug im Zimmer verstreut. Caro wusste nicht, was sie tun sollte, jeder Handgriff wäre banal gewesen. Sie hätte aufräumen können oder ihre E-Mails checken. Aber sie tat nichts dergleichen. Jeder Gegenstand, ihr Körper, ihre Bewegungen – es war ihr, als hätte sie nichts damit zu tun. Von draußen hörte sie den Hahn der Nachbarn krähen. Umziehen, sie musste sich umziehen.
Caro nahm ihr langes schwarzes Sommerkleid aus dem Schrank und las den mit rotem Lack quer über die Türen aufgepinselten Schriftzug Man zieht sich an, um irgendwann ganz nackt zu sein. Sie senkte den Kopf und griff sich an die Stirn, die Erinnerungen an ihre Jugend beschämten sie immer noch. Weil Caros Vater damals ungefragt einen Schrank in Birkenfurnier um 890 Schilling für sie gekauft und ihre Freundin Melanie beim Betreten von Caros Zimmer „Gott, ist der hässlich!“ gerufen hatte, hatten die Mädchen beschlossen, den Schrank zu bemalen. Melanie – gerade am Beginn ihrer unglücklichen Lehrlingslaufbahn als Friseurin im örtlichen „Salon Ulli“ – war schon immer die Modebewusstere von beiden und hatte sofort dieses Vivienne-Westwood-Zitat parat. Das sie, wie alles von Westwood, extrem cool fand und doch perfekt auf einen Kleiderschrank passen würde: Man zieht sich an, um irgendwann ganz nackt zu sein. Darunter hatten sie Hungry Eyes und Summer of Love. 1994. geschrieben. Summer of Love, meine Güte. Was hat Vivienne Westwood denn mit dieser Schnulze und dem Summer of Love zu tun? Wie bescheuert, murmelte Caro, die sich ihrer häufiger werdenden Selbstgespräche nicht bewusst war.
Im Nachhinein könnte man sagen: postmodern, voll am Puls der Zeit. Aber was wussten sie damals schon, 1994? In dem Jahr hatte Caro zum ersten Mal Sex, ihre Katze war gestorben und Kurt Cobain hat sich erschossen, genau an Caros Geburtstag. Zu ihrer Garagen-Party kamen ein paar von der Schule mit schwarzer Trauerbinde um den Arm und Melanie lachte sie aus. Trotzdem schwor sie an dem Abend, ihren Sohn, sollte sie je einen haben, Kurt zu nennen. Aber Melanie hat nie Kinder bekommen.
Nach dem Tod von Kurt Cobain saßen noch mehr Jugendliche mit fettigen, halblangen Haaren, Karo-Hemden und Chucks auf den Granitblöcken, schauten den matchboxgroßen Autos im Tal hinterher, tranken Bier und rauchten Thujen. Dabei spielten sie, auch wenn das nie jemand ausgesprochen hätte, sie wären in einer Vorstadt von London, New York oder Seattle. Der Cobain-Style war der Dorfjugend sehr entgegengekommen. Den Buben, weil sie nichts falsch machen konnten, und den Mädchen, weil sie ihren weiblichen Formen noch misstrauten. Finanziell gese- hen waren sogar die Eltern glücklich mit dem Outfit. Nur Melanie, die auch optisch ihren Achtziger-Jahre-Fimmel nie wirklich abgelegt hatte, fiel aus der Reihe. Sie tat nicht nur so, als wäre sie woanders, sie war woanders. Sie hatte Ahnung vom richtigen Leben, und das richtige Leben, es spielte im Film.
Caro zog sich ihr Kleid an und fragte sich, wie irgendwann dann alles so anders, so uncool kommen konnte. Sie ging ins Badezimmer, drehte ihre Haare zu einem Knoten und trug getönte Tagescreme und Lippenstift auf, die Sonnenbrille sollte den Rest erledigen. Um das kleine Loch am Ausschnitt des Kleides zu verdecken, wollte sie eine Brosche ihrer Mutter tragen. Darüber hatte sich Caro letzte Nacht Gedanken gemacht: über das Loch in ihrem Kleid und wie man es kaschieren konnte. Sie ging ins verdunkelte Elternschlafzimmer, holte die Schmuckschatulle aus dem Nachtkästchen und steckte die silberne Brosche mit dem keltischen Ornament an. Der Radiowecker zeigte 9:38. Gleich würde Sara kommen, um sie abzuholen.
Melanies Verwandte standen vor der Kirche, daneben der Leichenwagen. Ein heller Holzsarg – Birkenfurnier? – wurde soeben in die Kirche gebracht. Natürlich einen der billigsten, dachte Caro, und dass man ihn hätte vollschmieren müssen, mit irgendwann … ganz nackt … Doch Melanies Mutter hatte dafür gesorgt, das Begräbnis allein, ohne Beteiligung der Freunde zu organisieren. Caro kondolierte ihr und den Geschwistern, Neffen und Nichten. Wie aufgefädelt standen sie da mit ihren blassen Gesichtern, den rötlichen Haaren und dunklen Augen, Augen wie Knöpfe. Betty, Melanies jüngste Schwester, weinte und fiel Caro als einzige um den Hals. Die anderen waren nicht gut auf Caro zu sprechen. Aber es wäre zu umständlich, zu schildern, warum das so war.
Sara und Caro setzten sich in eine der hinteren Reihen. Vor ihnen ein paar ältere Leute aus dem Dorf, ehemalige Schulkollegen und die wenigen Freunde, die hiergeblieben waren. Im Seitenschiff zwei dieser Bartträger mit Dutt, die Caro noch nie gesehen hatte. Bestimmt Melanies Kunden. Verstohlen drehte sich Caro um, Rudi saß hinter ihr. Sie kannte ihn nur von Fotos, die Melanie ihr gezeigt hatte, wusste aber einiges über ihn. Dass er auf der Bezirkshauptmannschaft arbeitete und nebenberuflich als Energetiker. Er trug einen grauen Anzug und war überhaupt ganz grau, auch im Gesicht. Vielleicht wegen dem Dreitagebart. Verwegen, hätte Melanie gesagt. Und Caro hätte sich geärgert über Melanies Dummheit. Rudi war einer ihrer Fehlgriffe gewesen.
Aus den Boxen erklang „Ave Maria“.
„Das kann schon was, das ‚Ave Maria'“, flüsterte sie Sara zu, und dann dachte Caro daran, dass sie zum Glück keine Wimperntusche aufgetragen hatte, und begann zu weinen. Um sich wieder einzukriegen, kramte sie in ihrer Handtasche nach dem stummgeschalteten Handy. Ihre Kinder, mit ihrer Mutter im Freibad, hoffentlich war alles in Ordnung. Auf dem rechten Seitenaltar, nicht weit weg, eine Statue des einzigen Heiligen, den Caro kannte, der Hl. Florian mit dem Wasserkübel in der Hand. Nur kraft seiner Gebete konnte er Feuer löschen, hieß es. Melanie hatte doch auch geglaubt. Nicht an Gott, aber an alles Mögliche. An die Liebe etwa. Sie hatte immer irgendjemanden innig geliebt. Oft jahrelang, ohne dass etwas passiert wäre. Sogar ein Hexenkochbuch für Liebeszauber hatte sie sich gekauft, Feuer sprühe – Kessel glühe, wobei die Rezepte für Suppen und Tinkturen nicht einfach herzustellen waren. Man brauchte dafür Fledermausflügel, Fliegenpilze, Einhornhaare, Hühnerkrallen … und viele Vollmondnächte. Einmal hatte Melanie Caro gefragt: „Meinst du, der Zauber funktioniert statt mit einer Hühnerkralle auch mit einer Vogelkralle? Im Garten liegt ein toter Vogel.“ Caro hatte früher immer gedacht, das wäre alles ein Schmäh, ein Riesenspaß. Dass Melanie wirklich daran geglaubt hatte, dämmerte ihr erst nach und nach. Und auch, dass sie längst nicht mehr wusste, was Melanie eigentlich so alles getrieben hatte.
Es wurden keine Witze erzählt bei diesem Begräbnis. Keiner sagte etwas, als sie hinter dem Sarg her zum Friedhof gingen, niemand tuschelte. Tom hatte sich dem Trauerzug angeschlossen. Die Ärmel seines Sakkos waren zu kurz. „Ich konnte nicht früher“, flüsterte er Caro zu, ein Alpaka sei ihm ausgekommen, jemand habe den Weidezaun offen stehen lassen. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Caro trat als eine der Letzten ans Grab, warf eine Rose und das rote Päckchen Parisienne, das sie am Hauptbahnhof gekauft hatte, hinterher und dachte: Wie schnell und lieblos es da runterfällt. Alles stand still und die Sonne brannte herunter. Auf dem Weg zum Gasthaus, in dem die Zehrung stattfand, spürte Caro ihr Handy vibrieren. Ihre Mutter. Sie war aufgeregt und sagte, dass Karolin, wie sie sie nannte und wie sie laut Taufschein eigentlich hieß, schnell kommen müsse. Pausenlos entschuldigte sie sich.
„Was ist denn passiert? Sag doch einfach, was passiert ist!“, rief Caro, die stehen blieb und Blickkontakt zu Sara suchte. Vincent sei im Babybecken ausgerutscht, sagte ihre Mutter, und dass er zum Arzt müsse, er habe sich das Kinn aufgeschlagen – „nicht schlimm, aber schon viel Blut“.
Caro lieh sich Saras Auto und fuhr zum Freibad. Ihre Mutter saß mit Vincent auf der Bank neben dem Eingang, er hatte ein blutverschmiertes, nasses Handtuch auf dem Kinn, rief „Mama!“, als er Caro sah, streckte seine Arme, die noch in den Schwimmflügeln steckten, nach ihr aus und weinte. Caro hob ihn zu sich hoch, küsste vorsichtig seine Wange und streichelte ihm über die hellen Haare. Während Vincents Wunde am Kinn geklebt wurde, rollten Tränen über Caros Wangen.
„Aber es ist doch gar nicht schlimm“, tröstete sie der Arzt und deutete auf eine Packung Kleenex.
Zu Hause legte Caro Vincent auf das Sofa, brachte ihm sein Kuschelschaf und deckte ihn zu. Noch während sie ihm eines ihrer alten Kinderbücher vorlas, schlief er ein.
Caros Mutter, die mit dem Älteren im Bad geblieben war, hatte schon mehrmals versucht anzurufen. Nachdem Caro ihr mitteilte, dass alles in Ordnung war, suchte sie unter ihren Telefonkontakten nach Melanie. Melanie Blum, ihr Name und ihre Nummer existierten noch, Melanie selbst war einfach weg. Ihr Profilbild: eine Wassermelone, das letzte Gemälde von Frida Kahlo. Und unter Info: Viva la Vida! Wieder einmal scrollte Caro durch ihre letzten Nachrichten, an einer blieb sie hängen.
„Beiderseits Antipathie auf den ersten Blick. Und: Ganz dicht ist der nicht ;)“
Das war noch gar nicht so lange her, nachdem sich Melanie mit Patrick, einem Bekannten von Caro, getroffen hatte. Caro hatte das Date arrangiert. Danach waren beide völlig entsetzt gewesen, wie Caro auf die Idee hatte kommen können, sie würden eventuell zusammenpassen.
„Was hältst du eigentlich von mir?“, hatte Melanie sie gefragt. „So ein Affe. Mit seinem getrimmten Bärtchen, und sein T-Shirt – die Ärmel so kurz, nur damit man sein Tattoo sehen kann. Außerdem hat er mich nicht mal eingeladen, der hat mich alles selber zahlen lassen. Er mag sich ja mit Filmen auskennen, aber mit Frauen kennt der sich nicht aus. Kein Wunder, dass er keine abkriegt. Filmausstatter, irgendwie schwul.“
„Du wolltest doch mal zum Film. Die brauchen immer wieder eine Visagistin, der wär ein guter Kontakt. Also ich find ihn nett.“
„Nett! Ich brauch einen Mann, verstehst du? Wir reden da nicht über irgendeinen Job. Außerdem: Bist du sicher, dass der nicht schwul ist? Weißt du, was er mir voller Stolz erzählt hat? Dass er gerade den kleinen Waffenschein gemacht hat. Den kleinen Waffenschein!“
Dann hatte sie hysterisch gelacht, und als Caro sagte, dass Melanie doch schon immer einen Patrick haben wollte und man ab einem gewissen Alter eben Abstriche machen müsse, Patrick Swayze sei nun mal tot, hatte Melanie verächtlich gesagt: „Abstriche? Meinst du das ernst? Nein, oder?“
Im Elternhaus war es ungewöhnlich still. Caro bewachte den Schlaf ihres Sohnes, dann und wann folgte ihr Blick den tanzenden Farbflecken an der Wand, die ein am Fenster baumelnder geschliffener Glastropfen warf. Das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch, sie würde es später wegräumen. Als ein Wagen vor dem Haus hielt, lief Caro zur Tür, um zu vermeiden, dass jemand klingelte. Niemand sollte Vincent wecken. Bevor Caro öffnete, betrachtete sie sich im Garderobenspiegel und erschrak. An ihrem Hals klebte noch eingetrocknetes Blut. Sie warf sich das cremefarbene Seidentuch um, das in der Kirche ihre Schultern bedeckt hatte.
Sara war gekommen, um ihr Auto abzuholen, Tom hatte sie hergefahren. „Alles okay?“, fragte er durch das offene Fenster, den Ellbogen etwas zu lässig abgewinkelt, und war es die Frage oder sein Blick, dieses „Alles okay?“ trieb Caro die Tränen in die Augen. Sie nickte.
„Wir sehen uns. Ihr seid eh länger hier, oder?“, sagte er, hob die Hand und setzte zurück, ohne eine Antwort abzuwarten. Er hatte noch nie Zeit gehabt, das war so seine Art. Auch Sara schien es eilig zu haben, nur gekommen, um ihr Auto zu holen. Hektisch erkundigte sie sich, wie es Vincent gehe, und erzählte, dass das Rindfleisch und der Semmelkren im Gasthaus gut geschmeckt hätten, wer an ihrem Tisch gesessen war und dass sich Melanies Mutter „unmöglich“ verhalten habe. Und mit der aufgeregten Wichtigkeit einer rotwangigen Person, die gerne alles im Griff hat, fügte Sara hinzu, dass sie sich unbedingt bald treffen müssten. „Wenn es etwas ruhiger ist. Ich meine, das kann ja nicht alles gewesen sein, die Blum hat das total ausgebremst. Noch nicht mal eine Fürbitte durfte ich lesen. Was man alles hätte machen können! Luftballons stei- gen lassen und, bitte, um Himmels willen, andere Musik. ‚Imagine‘ meinetwegen oder ‚Hallelujah‘. Aber nein. Nicht erwünscht.“
Wieder begann Sara zu weinen und man wusste nicht, ob aus Wut, gekränkter Eitelkeit oder Traurigkeit. Alles hätte sie gemacht, um ein in ihren Augen würdiges Begräbnis abzuwickeln. Sie konnte das, immerhin war sie die Tochter eines Bestatters. Zudem wäre ein wenig Tamtam absolut in Melanies Sinn gewesen, wie sie meinte. Aber Caro wollte nicht an Luftballons, Leonard Cohen und angeheftete Wünsche ans Universum denken, übrig geblieben wäre ohnehin nur runzeliger Kunststoff auf irgendeiner Wiese. Und sie wollte nicht einstimmen in die Begräbnis-Litanei, die sie in ihren Augen bereits durchhatten. Sie wollte einfach nur wissen, was passiert war.
„War von euch schon jemand in Melanies Wohnung?“, fragte Caro. „Tom bestimmt, oder?“
„Ich weiß nicht, wir haben uns nur ganz kurz unterhalten. Wie lange seid ihr eigentlich hier?“
Etwas abwesend beobachtete Caro den alten Opel, der langsam in die Einfahrt bog. Ihre Mutter.
„Ich weiß noch nicht.“ So genau hatte sich Caro das noch nicht überlegt, die Dinge waren schwer zu planen in jenen Tagen. „Aber bis Himmelfahrt bestimmt.“
„Hallo, Mama. Es war so cool!“ Jakob hüpfte aus dem Auto, seine Augen vom Chlorwasser gerötet, die noch feuchten Haare standen in alle Richtungen. Vom Ein-Meter-Brett sei er gesprungen und bis zum Boden getaucht. Und obwohl sich Caro über ihr ungestümes Kind freute und es kurz anlächelte, musste sie sich wegdrehen, damit es nicht bemerkte, was sie eigentlich dachte. Dass der Bub mit seinen fünf Jahren in ihren Augen noch viel zu jung war für das Ein-Meter-Brett und dass ihm hoffentlich nie im Leben etwas passieren würde.
Mit je einer Badetasche links und rechts und einem Schwimmreifen um die Schulter kam Caros Mutter aus der Garage, sie sah geschafft aus.
„Wie geht’s ihm denn?“, fragte sie. „Das war ein Schreck.“
„Komm, gib her“, sagte Caro forscher als beabsichtigt und nahm ihr die Taschen ab. „Alles okay, er schläft jetzt unten, auf dem Sofa“, und zu Jakob: „Sei leise, wenn du reingehst, ja?“
Noch einmal schilderte ihre Mutter den Unfall, der an Jakob fast unbemerkt vorübergegangen war.
„Du kannst doch nichts dafür“, sagte Caro, die selbst ein schlechtes Gewissen hatte. Vielleicht mutete sie ihrer Mutter schon jetzt zu viel zu.
Saras Handy klingelte. „Ja, ich komm schon, zehn Minuten. Bin gleich da, mein Schatz.“ … „Ich stör euch auch nicht länger, Elena wartet auf mich. Ich ruf dich an!“
„Danke noch mal für alles. Komm die Tage mal vorbei, ja? Und nimm Elena mit.“ Dann hätten ihre Buben jemanden zum Spielen.
Als Sara weg war, räumte sie die Taschen aus und warf die nassen Badesachen über die ausgeblichene Wäscheleine, die zwischen rostigen Stangen gespannt war. Seit Caro denken konnte, war der Lack abgeblättert, im Herbst fügten sich die Stangen in die Landschaft, als schämten sie sich und wollten sich tarnen. Aber noch war nicht Herbst, es war Ende Juni. Ein paar Wochen hatten sie noch. Und ein paar Wochen, ohne Auftrag, waren eine verdammt lange Zeit. […]
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