Proust stirbt

Die Haushälterin Céleste Albaret berichtet von der letzten Nacht im Leben Marcel Prousts. Ein Fundstück aus dem Jahr 1929. Entdeckt von Reinhard Pabst.

Online seit: 20. Februar 2022
Marcel Proust © Bibliothèque André Schück
Prousts Leichnam, fotografiert von Emmanuel Sougez. Prousts Beisetzung nach katholischem Ritus fand am Nachmittag des 21. November 1922 statt, nicht am 22., wie häufig angegeben wird. In den Tagen und Stunden zuvor gaben sich Freunde und Verehrer in dem Trauerhaus im 16. Arrondissement die Klinke in die Hand. Zu dem schier endlosen Defilee gehörten auch zwei Fotografen auf Einladung oder im Auftrag des Bruders: Man Ray und, erst kürzlich identifiziert, ein gewisser Emmanuel Sougez. Dessen Aufnahme entstand am Montag, dem 20. November 1922 um 18 Uhr, die bekanntere von Man Ray, aus einem ähnlichen Blickwinkel, vermutlich am 19. November. Foto: Versteigerungskatalog Bibliothèque André Schück

Als der Mann, der sich Georges Belmont nannte, 1973 im Vorwort zu dem Buch Monsieur Proust behauptete, Céleste Albaret, die berühmteste Haushälterin der Literaturgeschichte, habe „fünfzig Jahre lang“ über ihren früheren Arbeitgeber „nichts sagen“ wollen, war dies nicht seine erste öffentliche Lüge.

Seiner exponierten Stellung im Propaganda-Apparat des Vichy-Regimes wegen trug Georges Pelorson (1909–2008), wie er eigentlich hieß, den Bei​namen „Baldur von Pelorson“, in Anspielung auf Hitlers „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach. 1944, im selben Jahr, in dem Marcel Prousts Cousine Adèle, ihr Mann Maxime Weil und ihre gemeinsame Tochter Annette in deutsche KZs deportiert wurden – nur Annette (1921–2020) überlebte –, tauchte der Nazi-Kollaborateur Pelorson unter. Nach der Befreiung Frankreichs wurde er zusammen mit Gesinnungskameraden – den antisemitischen Schreibtisch-Tätern Céline, Brasillach, Drieu La Rochelle, Paul Morand und Charles Maurras – auf einer schwarzen Liste als faschistischer Agitator und Kopflanger gebrandmarkt. Unter seinem neuen Nachnamen Belmont machte er seit 1947 journalistisch Karriere in der Vierten, später in der Fünften Republik. 1973 wurde das Buch Monsieur Proust, für das er Céleste Albaret angeblich in fünf Monaten siebzig Stunden lang interviewte, mit dem französischen Grand Prix Vérité ausgezeichnet.

Wohl aus marketingstrategischen Gründen – und zweifellos wider besseres Wissen – hat Belmont frei erfunden, dass Céleste Albaret ein halbes Jahrhundert lang über ihre Zeit mit Proust geschwiegen habe. Ganz im Gegenteil begann die treue Seele spätestens 1924, also nur zwei Jahre nach seinem Tod, damit, jedem von Proust zu erzählen, der sie nach ihm fragte. Sie tat das immer wieder – und immer ausführlicher. Der unaufhörliche Redefluss der „Geisel Marcel Prousts“ (Laure Hillerin, 2021) auch vor Rundfunkmikrofonen und Fernsehkameras ist vielfach dokumentiert. Er endete erst 1984, als Prousts dienstälteste Witwe mit fast 93 starb.

Jahrzehnte vor Belmonts Coup fand bereits ein Gespräch internationale Verbreitung, das Prousts enge Freundin Marie Scheikévitch (1882–1964) am 18. November 1928, seinem sechsten Todestag, mit Céleste Albaret führte. Unter dem Titel „The death of Marcel Proust“ wurde im Juni 1929 eine englische Version in Harper’s Monthly Magazine veröffentlicht; im Dezember 1929 folgte eine leicht veränderte deutsche Fassung, übersetzt von Rosie Fuchs, in der Berliner Zeitschrift Der Querschnitt (Heft 12, S. 840–846). Die wichtigsten Auszüge aus diesem von der Forschung kaum je beachteten Text über Die letzten Tage Marcel Prousts sind im Folgenden zum ersten Mal seit 93 Jahren wieder (in der originalen Rechtschreibung) abgedruckt.

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Die letzten Tage Marcel Prousts

Von Marie Scheikévitch

Mit Trauer gedenke ich des 18. November 1922. Ich selbst war leidend und seit Wochen ans Bett gefesselt, als ich die Todesnachricht bekam. Sie überwältigte mich. Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, daß Marcel dauernd kränkelte; doch ihn stumm und leblos zu denken, dagegen wehrte sich mein Geist. […]

„Céleste, was ich Ihnen da diktiere, ist, glaube ich, sehr gut. Vergessen Sie nicht, es an die richtige Stelle zu setzen.“

Ich faßte den Entschluß, Céleste aufzusuchen; ich glaubte mich jetzt stark genug, ihren Bericht über Marcels letzte Augenblicke anhören zu können. Ich hatte eine hochaufgeschossene, von langen Nachtwachen abgezehrte Céleste in Erinnerung, eine Céleste mit blassem Gesicht und langsamer, bedächtiger Sprechweise. In ihrem schwarzen Taftkleid glitt sie geräuschlos ins Zimmer, nur das Rauschen der Seide verriet ihren Eintritt. Ihre ruhige, schutzspendende Erscheinung versah das Amt eines Schutzengels vor Marcels Tür. Ich machte mich zu ihr auf den Weg. Ich fand Céleste als wohlgenährte, von Wirtschaftssorgen erfüllte Hausfrau wieder, ein entzückendes zweijähriges Mädchen hüpfte um sie herum. „Wir hätten sie niemals haben können“, sagte Céleste, indem sie mir das blonde, rosige Kind vorstellte, „wenn der arme Herr Proust gelebt hätte. Unsere ganze Zeit hat ihm gehört. Ich glaube, ich habe alles für ihn getan, was in meinen Kräften stand. Es schmerzt mich nur, daß ich nicht tausendmal mehr tun konnte.“ Sie weinte still vor sich hin; ihr Schmerz ist so tief, daß sie die ersten Worte nur mühsam über die Lippen bringt. „Ich wußte ja, daß er sehr krank war, gnädige Frau, aber ich glaubte nicht, daß er sterben würde. Niemals werde ich darüber hinwegkommen.“ […]

Ich frage Céleste nach Marcels letzten Augenblicken.