In Fünferschritten. Oder: Sich neue Bilder aus alten machen

Von Ludwig Laher. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXIII

Online seit: 1. Oktober 2021
Ludwig Laher © Reinhard Winkler
Ludwig Laher. Foto: Reinhard Winkler

Ich bin jetzt fünfundsechzig. Pensionsreif, heißt das in der Welt da draußen. In wenigen Wochen wird ein umfangreicher Band über mein Werk und – bis zu einem gewissen Grad – den Menschen dahinter erscheinen. Es mag ein Zufall sein, aber mir passt das ins Bild, das mir nicht so recht passen will: Bilanz wird gezogen. Zwischenbilanz, widerspricht man mir aufmunternd.

Sollten auch Sie bereits über eine erkleckliche Zahl an Jahresringen verfügen, kennen Sie das sicherlich: Dimensionen verändern sich, Zeitebenen schieben sich ineinander, manch ein biographischer Stein hat es satt, auf dem anderen zu bleiben. Die Wege der Kindheit, so noch vorhanden, sind viel kürzer als beharrlich gespeichert. Wenn ich länger zurückliegende Ereignisse spontan zeitlich einordnen soll, irre ich mich mittlerweile nicht selten um ein ganzes Jahrzehnt oder mehr. Mein vom Krebs ausgemergelter, grauhaariger Vater in seinen Vierzigern mit den gelbfaltigen Händen, ein Greis für sein kleines Kind, wird demnächst von meinem sportlichen, jugendlich aussehenden Sohn altersmäßig eingeholt werden. Ich war fassungslos, als mir das neulich in den Sinn kam, und ich glaube es immer noch nicht ganz.

Mit zehn war ich felsenfest davon überzeugt, dass im Prinzip alles erfunden sei. Gut, die Autos und die Fernseher sahen etwas eckiger aus als noch ein paar Jahre zuvor, die Astro- und die Kosmonauten würden sich bald weiter ins Weltall hinaustrauen, und der nahe Eiserne Vorhang dürfte technisch weiter aufgerüstet werden, um bis zum Sankt Nimmerleinstag gute Dienste zu leisten. Aber das alles gab es bereits, ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass da noch etwas fehlte. Die Grenzen schienen endgültig gezogen, auch in meinem kleinen Kopf.

Science fiction war nie mein Ding. In der schwer textlastigen Kinderzeitschrift Wunderwelt fand sich neben den reich bebilderten, betulich gereimten Abenteuern Zwerg Bumstis, der immerhin eine leibhaftige Maus zur Gattin genommen hatte, mit der er zufrieden in einem Pilzhaus wohnte, sogar ein Comicstrip. Der hatte einen Erfinder zum Gegenstand. Durch Dutzende Folgen werkte der gute Mann Mitte der Neunzehnsechziger mit vielen Rückschlägen an dem, was heute autonomes Fahren heißt. Ich sehe noch die Bilder vor mir: Seine Kinder hinten im Fahrzeug, niemand am Steuer. Erstens völlig irreal, zweitens: Wozu um alles in der Welt? So dachte der Zehnjährige.

Der Fünfzehnjährige besuchte mit Freude das Freifach Literaturpflege, in welchem uns ein kurz vor seiner Pensionierung stehender Gymnasiallehrer, der, wie ich viel später erst erfuhr, das KZ überlebt hatte, unter anderem mit Antikriegsliteratur bekanntmachte, auch mit Wolfgang Borcherts Lesebuchgeschichten. Von Borchert und diesen Texten hatte ich noch nie etwas gehört, aber eine seiner Kürzestgeschichten erst Wochen davor selbst geschrieben, zumindest was den Inhalt mit seiner Pointe anlangte. Der Weißhaarige mit dem auffällig roten Gesicht, von den Schülern als Glühbirne tituliert, meinte auf meine schüchterne Frage, wie das möglich sein konnte, entspannt, die Idee von den beiden verfeindeten Soldaten, durch deren benachbarte Gräber sich später derselbe Wurm frisst, ohne einen Unterschied zu bemerken, habe Borchert nicht für sich gepachtet, sie sei einem anderen sensiblen Gemüt durchaus ebenfalls zuzutrauen. Und der Professor wollte meine Texte lesen und er hielt sie für gut und er überredete mich, einige davon im Jahresbericht zu publizieren. Und er riet mir, andere für ein Anthologievorhaben junger Literatur an einen Verlag zu schicken, und ich wurde auch dort gedruckt, und vielleicht verdanke ich Glühbirne alles, ganz sicher aber den Mut, mich mit meinen Geschichten und Gedichten hinauszuwagen aus der Schreibtischlade.

Ladies of the Canyon hörte ich noch nicht mit fünfzehn, als Joni Mitchells grandioses Album erschien. Mit Big Yellow Taxi daraus machte mich etwas später vielmehr Bob Dylan bekannt, und die bitter-ironische Refrainzeile They paved paradise and put up a parking lot dieser frühen ökologischen Hymne mit dem sarkastischen privaten Anhängsel einer gescheiterten Beziehung gehörte zu den ersten nachhaltigen Eindrücken, die neben der stets dräuenden Gefahr des Atomkriegs mein Grundgefühl, an der Verbesserung der Welt werde trotz Vietnam an vielen Ecken und Enden mit Elan gearbeitet, ein wenig ins Wanken brachten. Aber, wie hieß es doch gleichzeitig aus dem Munde der Spontis optimistisch: Unter dem Pflaster liegt der Strand.

Heute stehe ich verloren auf diesem unsäglichen Parkplatz, der längst bis an den Horizont reicht, unter mir der glutheiße Asphalt und unter ihm das gestrandete Paradies, an das ich ohnehin nie glaubte. Von dort kam, als ich zwanzig war, ein vazierender Studiosus auf den Hof und um eine milde Gabe ein. Die Bäuerin, allein daheim, ließ er wissen, er käme von weit her, nämlich von Paris, was ihr nichts sagte, weswegen sie glaubte, das ihr vertraute Wort Paradies vernommen zu haben. Vorsichtig fragte sie nach, ob er dort zufällig ihren früh verstorbenen ersten Mann getroffen habe. Sie musste ihn nur sehr oberflächlich beschreiben, und der junge Mann war sich ganz sicher. Dem würde es dort leider elend gehen, er friste sein ewiges Leben im alten Leichenhemd, immer noch habe er es weder zu einer Hose noch zu Schuhen gebracht. Trotz der weiten Wanderung, die ihm bevorstünde, bevor er zurück ins Paradies käme, erklärte sich der Student bereit, sich mit tadelloser Kleidung vollpacken zu lassen und sie dem darbenden Verblichenen samt einem hübschen Sümmchen Bares auszuhändigen. Solchermaßen ausgestattet, zog er von dannen. Beglückt erzählte die Bäuerin ihrem heimgekehrten zweiten Mann die unglaubliche Geschichte, worauf der flugs aufs Pferd sprang und dem Kerl mit dem auffälligen gelben Halstuch und dem schweren Gepäck spornstreichs nachjagte. Der Studiosus sah ihn schon von weitem kommen, versteckte die Bündel samt Halstuch in einer Dornenhecke und schickte den Bauern ins Unterholz, wohin sich der Gesuchte mit Blasen an den Füßen und vom Gewicht des Mitgeschleppten außer Atem verzogen habe. Gerne wolle er derweil auf das Pferd schauen. Spät erreichte der ins Bockshorn gejagte Landmann auf Schusters Rappen den heimatlichen Hof. Seiner Frau erklärte er, dem Paradiesboten auch noch das beste Pferd überlassen zu haben, damit der schneller dorthin gelangen und seinen bettelarmen Vorgänger beliefern könne. Sie aber solle unbedingt Stillschweigen über die Geschichte bewahren. Doch das war der Bäuerin nicht mehr möglich, hatte sie doch bereits das ganze Dorf unterrichtet.

Ich las Hans Sachs‘ Fastnachtsspiel aus 1550 während meines Germanistikstudiums und fand es mäßig erheiternd. Als Autor mit der Schlichtheit von Menschen Schabernack treiben, das wollte sich mit meinen damaligen moralischen Ansprüchen nicht recht vereinbaren lassen, auch wenn das Geschehen im fernen sechzehnten Jahrhundert zu verorten war. Wenigstens war 1976 hoffentlich niemand mehr so grenzenlos dumm.

Und heute? Jeden Tag lassen sich im Netz Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in großen Stückzahlen nicht nur mit den hirnrissigsten Verschwörungstheorien anstecken, sondern auch auf die aberwitzigste Weise abzocken. Und das ganze globale Dorf weidet sich an einschlägigen Berichten, nicht selten von den exhibitionistischen Opfern selbst online gestellt, die zwar die digitalen Segnungen des Binärcodes virtuos anzuwenden wissen, aber eins und eins nicht zusammenzählen können. Der uralte, verstaubte Hans Sachs hat sich also gegen alle Wahrscheinlichkeit zum Propheten gemausert, zum hochaktuellen Kommentator einer gesellschaftlichen Dynamik, die unter anderem hunderttausende anspruchsfreie Kids dröge Influencerinnen anbeten lässt und selbständiges Denken de facto aus dem Bildungskanon eliminiert.

Dem Zwanzigjährigen wäre solch ein Blick in die Zukunft genauso unwirklich vorgekommen wie dem Fünfundzwanzigjährigen im ersten Moment die bittere Erfahrung der damaligen Gegenwart, dass ihn die geliebte Frau mir nichts dir nichts verlässt, unwirklich vorgekommen ist. Doch schon mit dreißig hatte ich ganz plötzlich zwei großartige Kinder im Haus, eines davon als elementarer Bestandteil des Doppelpacks, dessen anderer Teil mein Lebensmensch geworden ist, mein Kraftspender, und ich der ihre.

Als ich dann fünfunddreißig war, raunte man mir von allerlei Seiten das Wort vom Ende der Geschichte zu. Mit der unerwarteten Implosion des real existierenden Sozialismus in Europa würde das Paradies ausbrechen. Schon wieder das Paradies. Ich war mir gleich sicher, das gelte einzig und allein für den Raubtierkapitalismus, der die Asphaltierungsarbeiten des Parkplatzes ab sofort massiv beschleunigen würde, und sollte wenig überraschend Recht behalten. Inzwischen war ich mir auch längst bewusst geworden, dass doch noch nicht alles erfunden war. Mit fünfunddreißig leistete ich mir den ersten PC, schleppte die Kugelkopfschreibmaschine in den Keller, lediglich einer ihrer Köpfe durfte es sich auf dem Schreibtisch unter dem Bildschirm zum Andenken bequem machen.

Ach ja, natürlich, ich schrieb. Schrieb, seit ich sieben war. Vorerst immer noch neben dem anstrengenden Brotberuf als Lehrer, aber mit vierzig war mir klar, jetzt war es höchste Zeit umzusatteln, wenn ich denn noch das eine oder andere Buch vorlegen wollte, das ich mir nicht neben allem anderen mühselig abgerungen, sondern mit voller Konzentration und aufwendiger Recherche zu Papier gebracht haben würde.

Ich nahm Verbindung mit unterschiedlichen Vergangenheiten auf und fand bestätigt, was ich schon eine Zeitlang vermutet hatte: So vergangen war das alles nicht, dass sich keine tragfähigen Brücken dahin schlagen ließen. Heute würde ich unter anderem auch den Kollegen Hans Sachs dafür in den Zeugenstand bitten. Die Vergangenen, sogar die Vergessenen hinterließen oft erstaunliche Spuren, und ich bildete mir ein, für mich waren sie sogar manchmal bereit, wieder lebendig zu werden.

Fünfundvierzig, Mitte des Lebens, wenn’s gut geht. Für meinen Vater war dieses Alter schon fast der Endpunkt gewesen. Jetzt war ich hauptberuflich Schriftsteller, jedes neue Buch verkaufte sich vorläufig entschieden besser als das vorherige. Ich hatte mich im frühen neunzehnten Jahrhundert umgetan und in der Zeitgeschichte bis unmittelbar vor meiner Geburt. Jetzt, da ich Vaters kurze Lebensspanne bald hinter mir lassen würde, wollte ich jene ersten fünfzehn Jahre meines eigenen Lebens, an denen ich lange zu kiefeln hatte, in einem Roman besichtigen und wählte trotz des Umstands, dass er nur die ersten sechs davon da gewesen war, den Vater als Ansprechpartner dafür. Und siehe da, was beim jüngsten Sohn Mozarts funktionierte und bei den Strukturen der Barbarei im NS-Staat, gelang auch auf der privaten Ebene. Der Vater ließ sich tatsächlich überreden, wir durchstreiften gemeinsam wieder die Spazierwege meiner frühen Kindheit, die ich in Teilen sogar umschreiben musste, denn manches verhielt sich in Wirklichkeit ganz anders, als er und die Mutter mir zu ihren Lebzeiten weisgemacht hatten. Zornig machte mich das gar nicht, es war ja alles so lange her und gleichzeitig so gegenwärtig, dass ich stattdessen bloß ins Staunen geriet.

Mit dem Älterwerden wurden in mir also nicht nur die Linearität und Eindeutigkeit chronologischer Abläufe ordentlich durchgerüttelt. Auch einiges von dem, was ich als meine persönliche Geschichte gespeichert hatte, wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Außerdem lagen, als ich fünfundvierzig war, die Eltern und die Schwiegereltern bereits vollzählig auf dem Friedhof, meine Frau und ich fanden uns allzu früh an die Spitze der familiären Alterspyramide gestellt. Manchmal hatte ich das Gefühl, dieser Umstand machte uns ein wenig älter, als wir waren.
Mein Vertrauen in einen steten gesellschaftlichen Wandel zum Besseren hin war gründlich ausgehöhlt, und doch begannen für mich – auch jenen grimmigen morgenländischen Männern zum Trotz, die soeben eine praktische Abkürzung ins jungfrauengesättigte Paradies ihrer Einbildung über bislang geheime Eingänge in den New Yorker Twin Towers und im Pentagon fanden – nun die beiden stabilsten Dezennien, Voraussetzung für kontinuierliche Arbeit mit reichlich Ertrag auf einem Fundament persönlichen Glücks. Glück: ein Wort, das ich immer noch nicht leicht über die Lippen bringe.

Der Fünfzigjährige schlug einem Dutzend Menschen, die ihm viel bedeuteten oder zumindest einmal bedeutet hatten, vor, ihn je eine Etappe einer anspruchsvollen Weitwanderung zu begleiten. Täglich um etwa achtzehn Uhr fand der Wechsel statt. Ich wollte es nach einigem Zögern riskieren, auch aus den Augen verlorene ehemals eng vertraute Frauen und Männer einzuladen. Sie kamen alle und bescherten mir zwei Wochen höchster Intensität. Nicht alle blieben seither in meinem Leben, denn zwei oder drei gehörten, wie sich herausstellte, tatsächlich unwiderruflich meiner Vergangenheit an. Doch auch das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad, denn schließlich bin ich das noch höchst gegenwärtige Resultat einer komplexen Sozialisation, an der gerade auch sie entscheidenden Anteil hatten.

Mit fünfundfünfzig konnte ich einem sehr neuen, gleichzeitig sehr alten Freund die deutschsprachige Ausgabe seiner Autobiographie zum Geschenk machen, die meine Tochter – war sie nicht gerade erst auf die Welt gekommen? – mit mir übersetzt hatte. Darin beschrieb er auch seine scheinbar allerletzte Besteigung eines österreichischen Gipfels mit dem Vater kurz vor dem Einmarsch Hitlers, der ihm jüdisches Blut nicht nur nachgesagt, sondern es auch liebend gern vergossen hätte. Jetzt lebte der im letzten Moment Entkommene als angesehener Geriater in Kanada, wo er mich nach einer Lesung in Ottawa angesprochen hatte, als ich dort aus einem gleichzeitig auf Französisch und Englisch erschienenen Roman von mir las. Eine unerwartete letzte intensive Beziehung zu einem trotz seines Schicksals lebensfrohen Menschen meiner Elterngeneration ergab sich aus dieser Begegnung, und ich ermunterte den Fünfundachtzigjährigen erfolgreich, mit mir nach fast siebzig Jahren doch wieder auf einen ordentlichen österreichischen Berg zu steigen. Mit längeren Rastpausen gelang es, und es bedeutete ihm viel. Sag niemals nie, wusste schon James Bond.

Überhaupt die Natur, das Gehen, ein Leben lang unersetzliche Begleitung des Schreibens. In meinem sechzigsten Lebensjahr versperrten meine Frau und ich die Haustür und marschierten zu Fuß vom oberösterreichischen Innviertel schnurstracks nach Süden über alle Berge, die sich in den Weg stellten, ans Meer nach Monfalcone. Die Welt war weit, und unsere Füße trugen. Endorphine ohne Ende. Dem Fünfzehnjährigen dagegen waren schon die fünfzehn Kilometer bergauf durch den Haselgraben unendlich weit erschienen, als er sie sich das erste Mal vornahm.

Und jetzt das Pensionsalter der anderen. Wahrscheinlich wäre es mir weit weniger bewusst geworden ohne die anderen, gewichtigeren gleichzeitigen Zäsuren in meinem Leben: Händewaschen, Abstand halten, Maske. Vorsicht allenthalben. Wann kommt die Impfung? Langes Bangen wegen der mit Covid ausgebrochenen lebensbedrohlichen Krebserkrankung meiner Frau aus heiterem Himmel, die sie mit der ihr eigenen Disziplin und Fokussierung inzwischen doch überwinden konnte. So ähnlich ging es mir schon einmal mit fünf, als der Vater zusehends verfiel. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, Monate ohne eine Zeile Textproduktion, vollständiger Rückzug wegen Corona und der hohen Vulnerabilität meiner Patientin, Einkauf durch junge Nachbarn. Pfleger mit fünfundsechzig.

Ich schreibe inzwischen wieder, Kürzeres und Langes. Dieser Tage erreichte mich die Anfrage eines bedeutenden Museums, ob ich eines der grauen Schulhefte, die ich zwischen sieben und neun mit meinen selbst verfassten Romanen und Gedichten befüllte, für eine Ausstellung zur Verfügung stellen und gleich auch einer digitalen Faksimilierung zustimmen würde, damit das Publikum darin blättern könne. Ich holte Henry, der Lokomotivführer hervor und blätterte selbst darin. Das erste Kapitel Ein komischer Gast beginnt mit den Worten: Man schrieb das Jahr 1873. Irgendwo im Westen ertönte der schrille Pfiff einer Lokomotive und gleich darauf ein Zischen. Ein Jahr früher, 1872, wurde mein Großvater geboren.

In diesem Sommer traf mein zweites Enkelkind ein, und meine Frau zerschneidet oben in ihrem Atelier alte Leinwände von Bildern, die ihr nicht so gelangen, wie sie hoffte. Noch hat sie nicht ganz die Kraft, wieder zu malen, wie ihr kräftiger Strich es verlangt. Stattdessen verblüfft sie mich mit ihrem neuen Projekt: Etliche Fragmente der zerstörten, an die Ungegenständlichkeit streifenden Großformate sind mit einem Mal perfekt gelungene kleine Gemälde, wir betrachten die Details und sehen anderes in ihnen als vorher.

Sollten auch Sie bereits über eine erkleckliche Zahl an Jahresringen verfügen, kennen Sie das sicherlich: Dimensionen verändern sich, Zeitebenen schieben sich ineinander, manch ein biographischer Stein hat es satt, auf dem anderen zu bleiben. Man macht sich neue Bilder von alten. Und man staunt.

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Ludwig Laher, geboren Ende 1955, lebt und arbeitet als Autor in St. Pantaleon und Wien. Zuletzt erschienen die Romane Bitter (2014) und Überführungsstücke (2016), der Gedichtband was hält mich (2015), seine kommentierte Neuausgabe gesammelter Werke von Ferdinand Sauter Durchgefühlt und ausgesagt (2017), der Essay Wo nur die Wiege stand (2019) und die Prosa Schauplatzwunden. Über zwölf ungewollt verknüpfte Leben (2020). Für sein Werk, das auch Hörspiele, Filmessays und Übersetzungen aus dem Englischen umfasst, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.